R. Kreide u.a. (Hrsg.): Transnationale Verrechtlichung

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Title
Transnationale Verrechtlichung. Nationale Demokratien im Kontext globaler Politik


Editor(s)
Kreide, Regina; Niederberger, Andreas
Published
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Extent
300 S.
Price
€ 32,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Markus Kotzur, Juristenfakultät, Universität Leipzig

Äußerer Anlass des von R. Kreide und N. Niederberger herausgegebenen Tagungs- und Sammelbandes zu Prozessen „Transnationaler Verrechtlichung“ war der 60. Geburtstag von Hauke Brunkhorst. Den tieferen Grund für die Themenwahl aber bietet das wirkungsmächtige wissenschaftliche Oeuvre des Jubilars, dessen „intellektuelle Wachsamkeit, politischer Spürsinn, Ungeduld, Engagement und Neuerungssucht“ – so J. Habermas in seiner pointierten Laudatio – ihn immer aufs neue zu der Grundsatzfrage gedrängt haben, ob und wie es möglich ist, „der empörenden Ungerechtigkeit einer hoch stratifizierten und zerrissenen Weltgesellschaft jenes Versprechen von Demokratie und Rechtsstaat abzutrotzen, das die überforderten Nationalstaaten nicht mehr einlösen können“ (S. 9). Die Fragestellung als solche weist gleichermaßen über die Grenzen des geschlossenen Nationalstaats wie über die der wissenschaftlichen Disziplinen hinaus. Sie verlangt komparatistischen und interdisziplinären Zugriff „in weltbürgerlicher Absicht“, um an das berühmte Diktum I. Kants zu erinnern. Deshalb kommen Soziologen und Politologen, Philosophen und Juristen zu Wort. Theorierahmen, wenigstens Leitmotiv für die Theoriebildung ist die Idee des „Transnational Law“. Der Terminus „transnational“ wurde bereits Ende der 50er Jahre von dem amerikanischen Völkerrechtler Ph. C. Jessup vorgeschlagen. Im Gegensatz zum klassisch „internationalen“ als „zwischenstaatlichem“ Recht will er Oberbegriff für das gesamte staatenübergreifende (öffentliche) Recht sein, neben den staatlichen auch die privaten Akteuere einbinden und die Erklärung globaler Verrechtlichungsprozesse von jedweder etatistischen Engführung lösen.

R. Kreide und N. Niederberger betonen in ihrer gemeinsamen Einführung das Paradoxon der Gleichzeitigkeit von Verrechtlichung und Entrechtlichung. Einer noch nie da gewesenen Fülle rechtlich verbindlicher völkerrechtlicher Konventionen und Durchsetzungsinstrumentarien korrespondiere die schwindende Bedeutung dieser Instrumente in der internationalen Politik. Die Folge sei eine „formal-rechtliche Fassade“ (S. 14), die letztlich Glaubwürdigkeitskrisen bedinge. Probleme transnationaler Verrechtlichung werden unter Verweis auf die Ansätze von G. Teubner und A. Fischer-Lescano diskutiert, eine kritische Auseinandersetzung mit dem völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsparadigma ist der folgerichtige Abschluss. Der Jubilar selbst, H. Brunkhorst, widmet sich der „Kritik am Dualismus des internationalen Rechts – Hans Kelsen und die Völkerrechtsrevolution des 20. Jahrhunderts“ (S. 30ff.). Die Völkerrechtsrevolution als „Weltrechtsrevolution“, so seine pointiert-programmatische Wortschöpfung, beginne 1917 mit der Russischen Revolution und dem Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg, sie ende 1945 in San Francisco mit der Gründung der Vereinten Nationen. Ihr Revolutionspotential wird an den Elementen Demokratie, Selbstbestimmungerecht der Völker und Ächtung des Angriffskrieges, nach 1945 schließlich auch an den Menschenrechten festgemacht. Kelsens Dualismuskritik wertet Brunkhorst als „radikale Kritik an der bürgerlichen Rechtsideologie“. Kantschen Themen im modernen Völkerecht nähert sich M. Koskenniemi unter der Begriffstrias „Formalismus, Fragmentierung, Freiheit“ (S. 65ff.). Dass Entformalisierung zu Fragmentierungen führt, ist seine differenziert ausgeführte, empirisch abgesicherte These. Der Perspektivenwechsel vom (formalen) „Recht“ zur (materialen) „Legitimität“ erzeuge letztlich eine „Ersatz-Normativität“ zwischen dem „formalistischen Konservatismus des Rechts“ und der „radikalen Willkür der Gerechtigkeit“ (S. 75).

Dem Phänomen „prekärere Staatlichkeit“, den „elementaren Schwächen staatlicher Organisation in großen Teilen der Welt“ gilt der Beitrag S. Oeters (S. 90ff.). Um diesen Phänomenen gerecht zu werden, bedürfe die Rechtswissenschaft weniger generalisierender Annahmen über die Ursachen bestimmter Defizite als vielmehr des Rückgriffs auf kontextspezifische Folgenabschätzung (S. 110). Zu solchen relevanten Kontexten gehören auch hegemoniale Strukturen – gewiss nicht nur die „Pax Americana“ –, die S. Buckel und A. Fischer-Lescano – inspiriert von der Hegemonietheorie A. Gramscis – mit ihrem Konzept der „Emanzipatorischen Gegenhegemonie“ kontrastieren (S. 114ff.). Hegemonie „von unten“ müsse aus der „Verknotung einzelner emanzipatorischer Kämpfe“ erwachsen, Menschenrechte seien die „Platzhalter einer emanzipatorischen Hegemonie der Demokratie im Werden“ (S. 130). Mit dieser demokratietheoretischen Zuspitzung ist der Bogen von der Ver- bzw. Entrechtlichung hin zur Konstitutionalisierung gespannt. Der skeptische Warnruf H. Müllers zu einer „Parlamentarisierung“ der Weltpolitik S. 317 ff. verdient nicht nur deshalb Zustimmung, weil er in einer stärkeren Rolle der nationalen Parlamente den wirksamsten Schritt zur „Re-Demokratisierung“ sieht, sondern weil er zudem auf die Stärke des durch Verhandlung gesetzten internationalen Rechts vertraut. Für Ch. Möllers („Expressive versus repräsentative Demokratie“, S. 160ff.) ist ein starkes Konzept demokratischer Repräsentation deshalb ein Hindernis für die Weiterentwicklung demokratietheoretischer Fragestellungen im globalen Kontext, weil es sich in seiner Rechtfertigung allein auf die Beteiligten beschränkt, anstatt mit der notwendigen „institutionelle Sensibilität“ die expressive Rolle demokratische Verfahren und Praxis zu betonen.

Mit den Kategorien des „Konstitutionalismus“ und der „globalen Gerechtigkeit“ wagt sich A. Niederberger an Grundlagenfragen der Theorie transnationaler Demokratie (S. 181ff.) Das immer wieder behauptet Spannungsverhältnis zwischen der „partikularen“, der „(national) gerechten Demokratie“ und der globalen Gerechtigkeit besteht für ihn nicht, weil er transnationale Netwerke als übergreifenden Bezugsrahmen verteilender und austeilender Gerechtigkeit wertet – mag diese gerechte Verteilung von Lebenschancen im Weltmaßstab auch noch so basal konzipiert sein. S. Benhabib (S. 209ff.) ringt um eine Neubewertung tradierter Staatsbürgerschaft angesichts aufstrebender kosmopolitischer Normen. Neue Modi der Staatsbürgerschaft und damit neue Kategorien von Inklusion und Exklusion korrespondieren, so sein Schluss, einer formellen Gleichheit souveräner Staaten, die nur eines bedeuten kann: die universelle Geltung von Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einerseits, das universelle Postulat nach demokratischen Teilhabemöglichkeiten andererseits. Ein solch instrumentales, in den Dienst des Menschen gestellten Souveränitätsverständnis wird in der Völkerrechtswissenschaft von Autoren wie J. P. Müller seit langem eingefordert. Weiterführende Überlegungen von P. Niesen zur „Deliberation ohne Demokratie“ runden den demokratietheoretischen Teil des Sammelbandes ab, während R. Kreide mit ihrem Schlussbeitrag über die „Ambivalenz der Verrechtlichung“ (S. 260ff.) den Kreis zur Ausgangsfrage schließt.

Der Sammelband ist mehr als ein würdiges Geburtstagsgeschenk – an den Jubilar H. Brunkhorst und die wissenschaftliche Öffentlichkeit. Er präsentiert die Debatte um transnationale Verrechtlichungsprozesse und den nicht immer konturscharfen Begriff des Weltrechts auf der Höhe der Zeit und hohem Theorieniveau. Er ist pluralistisch konzipiert und stellt sich nicht nur manchen Moden, sondern auch manchen „Neubeschreibungen der Welt in neuartigen Sprachen, die neuen Gruppen Macht verleihen“ (M. Koskenniemi, S. 70) mit berechtigter Kritik entgegen. Die großen Debatten über das Verhältnis von formalem Recht und informellen Regeln, von Institutionen und Regimen, von hard law und soft law, von Regierung und Governance, von Legalität und Legitimität werden für die Idee einer „transnationalen Demokratie“ fruchtbar gemacht, ohne einer indifferenten „Demokratisierung der Weltpolitik“ das Wort zu reden oder jedwede Form der Deliberation zur Legitimitätsressource zu überhöhen. Dass Wortschöpfungen wie „Emanzipatorische Gegenhegemonie“ ein wenig sperrig klingen, schmälert nicht ihren Innovationsgehalt; dass Begriffe wie der von der „expressiven Demokratie“ neugierig machen, ist mehr als geschicktes „Labeling“; dass sich der Völkerrechtspositivist irritiert, der Realist nicht immer bestätigt und der Idealist gebändigt fühlt, ist eine pluralistische Stärke des Bandes. Seine Lektüre lohnt allemal.

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28.05.2010
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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