D. Wright u.a. (Hgg.): Health and Medicine in the Circum-Caribbean

Cover
Title
Health and Medicine in the Circum-Caribbean, 1800-1968.


Editor(s)
Wright, David; De Barros, Juanita; Palmer, Steven
Series
Routledge Studies in the Social History of Medicine
Published
New York 2009: Routledge
Extent
301 S.
Price
84,99 €
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Claudia Prinz, Humboldt-Universität zu Berlin

Im gleichen Maße, in dem die Aufmerksamkeit für die Medizingeschichte seit einigen Jahren wächst, haben sich auch ihre Themen, Fragestellungen und Methoden erweitert, so dass heute eine produktive Forschung zu politik-, sozial- und kulturhistorischen Aspekten von Gesundheit, Krankheit und Medizin vorliegt. Auch zahlreiche Studien zu Zusammenhängen von Medizin und Kolonialismus sind entstanden. Es überrascht allerdings, dass neben dem vitalen Forschungsfeld zur demographischen Entwicklung der karibischen Gesellschaften und zur Epidemiologie der Kolonialisierungen bisher keine Gesamtperspektive auf eine Medizingeschichte der Karibik gewagt wurde, während diese Region gleichzeitig in vielen vergleichend angelegten Studien fehlt.1 Der vorliegende Sammelband versucht sich an einer integrativen, komparatistischen Perspektive auf die Geschichte von Gesundheit und Krankheit in der Region, und kann in diesem Unterfangen auf eine Vielzahl von Forschungen zu einzelnen karibischen Gesellschaften zurückgreifen. Gerade von der regionalen Perspektive erhoffen sich die Herausgeber, ausgewiesene Kenner der Materie, neue Erkenntnisse zur Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte der modernen Karibik und zu den Besonderheiten dieser durch europäischen Kolonialismus, Sklaverei und Zwangsarbeit, Arbeitsmigrationen, Diasporas und Kreolisierungen sowie Plantagenwirtschaft geprägten Region. So entstanden „hybrid social expressions and configurations“, deren Wesen sich im Bereich der Medizin besonders deutlich zeige (S. 1).

Den großen Überblick über eine gesamt-karibische Medizingeschichte sucht man in diesem Band vergeblich; die Einleitung liefert nur einen knappen, wenn auch pointierten Ansatz hierzu. Die Herausgeber wählen einen etwas anderen Zugang, indem sie zwölf Einzelstudien zu spezifischen Orten und Themen nebeneinander stellen. Ein Eindruck von Kohärenz entsteht aus zweierlei Gründen. Zum einen werden nicht konsequent, aber weitgehend mindestens zwei Aufsätze zu ähnlichen Themen nebeneinander gestellt, so dass Vergleiche besser möglich sind und gleichzeitig die Vielfalt der methodischen Zugriffe offenbar wird, die sich eher als Gewinn denn als störender Eklektizismus zeigt. Zum zweiten ziehen sich mehrere rote Fäden durch den Band. Durchgehend wird ein weiter Begriff von Medizin gewählt, diese als kulturelles System, Wissenschaft, staatliches Machtinstrument in der Gesundheitsversorgung und alltägliche Praxis rivalisierender sozialer Gruppen verstanden. Die konfliktreiche, machtdurchzogene und (kolonial)staatlich vermittelte Vermischung afrikanischer, süd- und ostasiatischer, europäischer und schließlich US-amerikanischer medizinischer Traditionen ist somit Thema fast aller Beiträge. Die Geschlechtergeschichte wird in mehreren Beiträgen fokussiert, ebenso die Verschränkungen von moderner Medizin mit rassistischen Denksystemen.

Mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit dem Status verschiedener Berufsgruppen und der Rolle medizinischer Institutionen. Fast durchgehend werden hier Erklärungsansätze gewählt, in denen die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, politische Entwicklungen, soziale Veränderungen und rassistische Strukturen in der Wissenschaftskultur miteinander verbunden werden. Trotz einer offensichtlich herausfordernden Quellensituation beschreibt Niklas Thode Jensen das Gesundheitswesen, das die dänische Kolonialmacht auf St. Croix zu Beginn des 19. Jahrhunderts einführte. Das Interesse der Plantagenbesitzer, nach dem britischen Verbot des Sklavenhandels die Kindersterblichkeit zu reduzieren, führte zur Verstärkung medizinischer Bemühungen. Jensen fokussiert auf die Konflikte um ökonomischen Gewinn, Status, Autorität und Handlungsmacht zwischen den zertifizierten Ärzten und den nicht formal ausgebildeten Plantagen-Hebammen. Die Versuche der kolonialstaatlichen Institutionen, die Gesundheits- und insbesondere Geburtspraktiken der versklavten Frauen anhand europäischer Vorstellungen durch Zwang und Gewalt zu ändern sowie deren Widerstand beschreibt Jensen als „a field in which a conflict between an Afro-Caribbean and a European perception and practice of health played out“ (S. 33). Dass die Pläne der Regierung aufgrund der Sklavenaufstände in der britischen Karibik gestoppt wurden, stützt Jensens Interpretation des Gesundheitswesens auf St. Croix als a „negotiation of power in which none of the parties were in charge, but all engaged in a continuous process of compromises and changes“ (S. 33).

Steven Palmer wählt in seinem Aufsatz „From the Plantation to the Academy“ einen stärker wissenschaftshistorischen Ansatz. Überzeugend arbeitet er heraus, wie Plantagenwirtschaft und Sklaverei den medizinischen „Fortschritt“ in Havanna im 19. Jahrhundert beeinflussten und ermöglichten. Die Karibik des 19. Jahrhunderts gilt ihm als „Laboratorium“ oder auch „Klinik“ der Moderne, Havanna war eines ihrer reichsten Zentren. Palmer beschreibt die Ärzte als integralen und notwendigen Bestandteil eines Systems, das auf der rücksichtslosen körperlichen Ausbeutung von Arbeitskräften beruhte, da sie die Sterblichkeitsraten auf den Plantagen senkten. Andererseits waren es die Bedingungen auf den Plantagen, die den Medizinern das „raw material“ (S. 54) für die Produktion medizinischen Wissens auf Kuba lieferten. Die meisten Wissenschaftler begannen ihre Karriere als Plantagenärzte, und ein Großteil der Menschenversuche wurde an Sklavinnen und Sklaven vorgenommen. Leider reflektiert Palmer nicht, dass diese Bedingungen auch über die Karibik hinaus teilweise galten, sein Argument der Einzigartigkeit dieser Region im Hinblick auf den Nexus von Sklaverei und Wissensproduktion also nur eingeschränkt gelten kann.2 Palmers umfassende Darstellung überzeugt aber insgesamt und seiner Forderung nach weiteren Studien zum Zusammenhang von „indigenous knowledge“ der Plantagenarbeiter und der medizinischen Wissensproduktion der Ärzte ist beizupflichten.

David Sowell wählt eine Langzeitperspektive auf die Entwicklung der Medizin in Yucatán, Mexiko. Die rassistische Stratifizierung der medizinischen Berufe und Praktiker durch die Spanier wird ab dem 16. Jahrhundert beschrieben; die Rhetorik von Rasse, Moderne und Fortschritt verband sich im Kampf um Autorität der universitär ausgebildeten, staatsnahen Biomediziner des 19. Jahrhunderts dann zu einer erfolgreichen Strategie, die ihnen exklusive Rechte gegenüber indigenen Heilern sicherte.

Eine ähnliche, wenn auch anders gelagerte Konkurrenzsituation beschreibt Nicole Trujillo-Pagán in ihrem Aufsatz über die „Politics of Professionalization“ der puerto-ricanischen Ärzteschaft in der Transition von spanischer zu US-amerikanischer Herrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. Während die Ärzteschaft als einheimische Elite unter spanischer Herrschaft ihre professionelle Autorität und sozialpolitisches, kolonialstaatskritisches Engagement eng miteinander verband, erforderte die veränderte politische Lage eine Neuausrichtung ihrer kollektiven Identität. US-amerikanische Militärärzte übernahmen nun die Führungsrolle im Gesundheitswesen und drangen auf die Marginalisierung der puerto-ricanischen Ärzte. Diese reagierten mit der Trennung von politischen Forderungen und beruflicher Identität; das Staatsverständnis der Ärzte veränderte sich fundamental.

April J. Mayes‘ anschauliche Studie über die Regulierung von Prostitution in der Dominikanischen Republik unter US-amerikanischer Besatzung schließt hier gut an. Dominikanische Eliten und die US-Besatzungsmacht gerieten über die Frage, wie das „soziale Übel“ Prostitution am besten reguliert werde, in Konflikt und machten das Thema zum „battleground“ (S. 122) um die Gestaltung der dominikanischen Nation. Die US-Besatzungsmacht setzte sich schlussendlich durch. Aber die Kämpfe um die Regulierung von Prostitution trugen mit dazu bei, dass Gesundheitswesen und -politik allgemein zu einem Feld wurden, in dem dominikanische Eliten die Besatzungsmacht wiederholt herausforderten und ihre eigenen Vorstellungen von sozialem Fortschritt artikulierten – dies, wie das Beispiel zeigt, immer wieder auf dem Rücken (armer) Frauen.

Das Potential von Mikrostudien für eine Sozial- und Politikgeschichte der Medizin demonstriert Denise Challenger in ihrem Beitrag über die Einführung und Durchsetzung des Contagious Diseases Act in Barbados. Sie ergänzt hier Philippa Levines Untersuchung über den CDA in großen Teilen des British Empire.3 Challenger verdeutlicht den Zusammenhang von Kolonialherrschaft, Medizin und Gewalt. Interessant ist ihre Beobachtung, dass die Abschaffung der Sklaverei, die viele Frauen zumindest teilweise in (neue Formen der) Prostitution in den Städten führte, auch zu einer diskursiven Verschiebung führte: während der Körper der „Schwarzen Frau“ während der Sklaverei als passives, ausgebeutetes Objekt konzipiert wurde, galt die „Schwarze Frau“ unter dem CDA als aktives und gefährliches Subjekt, das die britischen Soldaten infizierte und schädigte. Die „Meaning of Freedom“ (Thomas Holt) für die ehemaligen Sklavinnen und Sklaven in der Karibik wurde bereits aus verschiedenen Richtungen befragt, und Challenger liefert hier eine wichtige Ergänzung.

Den mittlerweile zahlreichen Studien zu den Programmen der Rockefeller Foundation in Lateinamerika und der Karibik fügt Rosmarijn Hoefte eine weitere hinzu, indem sie die Hookworm-Kampagne auf Surinam untersucht. Als „rather unique“ in der Geschichte der Stiftung beschreibt sie, dass diese nach einem eindeutigen Misserfolg durch generell verweigerte Kooperation aller einheimischen Instanzen zum Rückzug blies. Steven Palmer hat in einer ganz neuen Monographie argumentiert, dass die Erfolge und gerade die Misserfolge der Rockefeller Foundation in der Karibik diese Institution an sich in hohem Maße geprägt haben.4 Solche Erwägungen spielen bei Hoefte keine Rolle; interessant ist aber die biographische Studie zu einer der wenigen Unterstützerinnen der Arbeit der Foundation auf Surinam.

Der Band und seine Einzelbeiträge sind auf durchweg recht bis sehr hohem Niveau angesiedelt und die Lektüre ist für alle, die sich für karibische oder lateinamerikanische Medizingeschichte interessieren empfehlenswert. Die Verbindung einer akteurszentrierten Geschichte mit wissenschaftsgeschichtlichen, sozial- und politikhistorischen Perspektiven liefert interessante Ergebnisse. Dass einzelne Beiträge (insbesondere der von David McBride über Arbeitsmedizin und Bauxitabbau in Jamaika) die Zäsur der staatlichen Souveränität in die Studie integrieren anstatt sie als Endpunkt zu setzen (wie es der Gesamtband tut, S. 11f), ist ein Gewinn. Bei der Vielfalt der Beiträge leuchtet das Argument der Herausgeber, mit den staatlichen Unabhängigkeiten einen Schlusspunkt zu setzen, nicht ganz ein. Die Aufsätze demonstrieren, wie gerade sozialgeschichtliche Forschungen dies schon seit vielen Jahren tun, dass die Relevanz politischer Zäsuren eines zweiten Blicks bedarf. Von dieser Ausweitung hätte der Band profitiert; für den Zeitraum „1800-1968“ bietet er eine wichtige Bereicherung der Forschung.

Anmerkungen:
1 So fehlt die Karibik zum Beispiel in David Arnold (Hrsg.), Imperial Medicine and Indigenous Societies, Manchester 1988, oder in Milton Lewis/Roy McLeod (Hrsg.), Disease, Medicine, and Empire: Perspectives on Western Medicine and the Experience of European Expansion, New York 1988. In den Bänden Diego Armus (Hrsg.), Avatares de la medicalización en América Latina, 1870-1970, Buenos Aires 2005 und ders./Gilberto Hochman (Hrsg.), Cuidar, controlar, curar: Estudos de História da Saúde e da Doença na América Latina e Caribe, Rio de Janeiro 2004 ist die Karibik mit je einem Aufsatz vertreten. Juanita DeBarros/Sean Stilwell (Hrsg.), Colonialism and Health in the Tropics, Special Issue of Caribbean Quarterly 49(4), 2003 ist sehr knapp und deckt primär die britische Karibik ab.
2 Man vergleiche hierzu die Debatten um J. Marion Sims, den US-amerikanischen „father of gynaecology“, dessen Versuche an versklavten Frauen mittlerweile in einer Reihe von Veröffentlichungen diskutiert wurden, oder die Kontroversen um die Tuskegee-Syphilis-Studie.
3 Philippa Levine, Prostitution, Race and Politics: Policing Venereal Disease in the British Empire, London 2003. Auch hier fehlt die Karibik.
4 Steven Palmer, Launching Global Health: The Caribbean Odyssey of the Rockefeller Foundation, Ann Arbor 2010.

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14.10.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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