K. Inhetveen: Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers

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Title
Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers. Akteure - Macht - Organisation. Eine Ethnographie im Südlichen Afrika


Author(s)
Inhetveen, Katharina
Series
Global Studies
Extent
440 S.
Price
€ 35,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Joel Glasman, Humboldt-Universität Berlin

Es gibt heute 15,4 Flüchtlinge weltweit. Ca. 2,5 Millionen, knapp ein Drittel der vom UNHCR unterstützten Flüchtlingen, leben in von internationalen Organisationen verwalteten Flüchtlingslagern.1 Damit ist das Flüchtlingslager „die weltweit vorherrschende Form, in der Flüchtlinge untergebracht, administriert und versorgt werden" (S. 15). Als Notlösung in Zeiten von Katastrophen gedacht und inszeniert, werden Flüchtlingslager meist dauerhafte Institutionen: In etwa 90% der Fälle bleiben Flüchtlingslager für fünf Jahre oder mehr erhalten. Nachdem die weißen und blauen Zelte mit dem Kürzel des Hochkommissariats für Flüchtlinge schon längst zu einem gängigen Topos der Fernsehnachrichten über den globalen Süden geworden sind, ist die Erschließung des Themas durch die akademische Forschung zu begrüßen. Katharina Inhetveen entwirft in ihrer 2010 veröffentlichen Habilitationsschrift eine dichte ethnographische Beschreibung von zwei Flüchtlingslagern in Sambia, die zugleich eine Fortsetzung als auch einen Bruch mit der bisherigen – hauptsächlich anglophonen und frankophonen - Flüchtlingslagerforschung darstellt.

Als die britische Anthropologin Barbara Harrell-Bond Anfang der 1980er Jahre mit ihrem Imposing Aid den Grundstein der Flüchtlingslagerforschung legte und das inzwischen weltweit renommierte Refugee Studies Centre in Oxford gründete, stellte ihre Arbeit noch eine Ausnahme dar.2 Inzwischen ist das Thema zu einem gut etablierten Feld ethnographischer Forschung geworden, in dem die deutschsprachige Forschung bisher allerdings unterrepräsentiert blieb.3 Explizit stützt sich Inhetveen auf diese meist anglophonen Studien – einen Teil ihrer Recherche führte sie im Oxforder Forschungszentrum durch. Ihr Werk distanziert sich jedoch bewusst von der bisherigen Forschung. Erstens unterscheidet sich der Ton der Münchener Soziologin deutlich von der scharfen, teils einseitigen Kritik einer bestimmten Anthropologie gegen das Flüchtlingslager als Institution. Für Harrell-Bond stand die Kritik der Diskurse internationaler Hilfsorganisationen im Vordergrund. Es ging ihr darum, eine ethnographische Flüchtlingslagerforschung zu begründen, die sich, unabhängig vom UN-Apparat, deutlich von der policy-orientierten Expertise im Dienste internationaler Geldgeber und Implementierungsagenturen abgrenzte.4 Dies führte in den 1990er nicht selten zu einer Polarisierung der Forschung in 'pro' und 'contra' humanitäre Flüchtlingslagereinrichtungen. Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers bevorzugt einen deskriptiven Ton, und liest sich weniger als Plädoyer für oder gegen das Flüchtlingslager an sich, sondern eher als eine Analyse konkreter Situationen. Zweitens verabschiedet sich Inhetveen vom Foucaultschen Theorierahmen, der bisher viele universitäre Studien zum Thema prägte. Während sowohl philosophische (Agamben 2002) als auch anthropologische Studien (Agier 2008) ihre Untersuchung des Flüchtlingslagers auf Foucaults Machtbegriffs stützten, wollte Inhetveen ohne auskommen, da er “wenig Raum für ein am Gegenstand orientiertes empirisches Vorgehen" ließe (S. 36). „Das für die vorliegende Problemstellung zentrale Interesse an den divergierenden Perspektiven verschiedener Akteure", schreibt sie, „wird im Blick von Foucault und Agamben weitgehend irrelevant" (ebd.).

Das Buch widmet sich insofern dezidiert einer empirischen Frage: Wie funktionieren Flüchtlingslager konkret? „Wie“, fragt die Autorin, „ist die politische Ordnung von Flüchtlingslagern gestaltet? Welche Charakteristika hat die Institution, in der Flüchtlinge nach ihrer Flucht untergebracht und verwaltet werden, und wo sie weiterleben?" (S. 15) Es geht ihr darum, am Beispiel des Meheba Refugee Settlement und des Nangweshi Refugee Camp in Sambia auf die Heterogenität kultureller und politischer Bezüge im Flüchtlingslager hinzuweisen. In Flüchtlingslagern sind Akteure in verschiedene Beziehungsgeflechte eingebunden. Kirchliche Zugehörigkeiten (von NGOs), politische Abhängigkeiten und Einflüsse, kulturelle Bindungen und Beziehungen zur Herkunftsregion von Flüchtlingen führen dazu, dass es nicht eine kognitive und zugleich soziale Ordnung des Flüchtlingslagers gibt, die bei allen Beteiligten Geltung hätte, sondern mehrere, die mal komplementär, mal in Konkurrenz miteinander sind (S. 28). Fünf Dimensionen der politischen Ordnung im Flüchtlingslager werden untersucht: Akteure, Akteursbeziehungen, soziale Beziehungssphären der Handelnden, Ressourcen und die zeitliche und räumliche Bestimmung des Flüchtlingslagers. Dabei wird besonders die Komplexität von politischen Beziehungen im Lager hervorgehoben. „Die Frage nach der Hierarchie des Flüchtlingslagers fördert nicht eine klare Antwort, sondern folgenreiche Unterschiede in den Sichtweisen verschiedener Akteure zu Tage" (S. 21). Je nach Verlauf der Macht- und Definitionskämpfe und je nach Situation variiert die funktionelle Hierarchie zwischen den Akteuren. Das Flüchtlingslager wird von verschiedenen Hierarchien strukturiert: den Hierarchien, die Flüchtlinge aus ihrer Herkunftsregionen mitbringen, der Hierarchie der im Lager entstandenen Intermediarität sowie der Hierarchie der Werte und Wertebündeln, die eng mit dem humanitären Wertekanon des Westens verbunden sind. Die Ordnung des Flüchtlingslagers, betont Inhetveen, ist polyhierarchisch (S. 16).
Der dichte Text ist in drei große Teile mit insgesamt 18 Kapiteln gegliedert. Der erste Teil (Kap. 1 bis 5) führt nacheinander in Gegenstand und Fragestellung, Theorie, Methode und Auswahl der Fallstudien ein. Das Theoriekapitel begründet die Ablehnung des biopolitischen Ansatzes und die Bevorzugung des soziologischen Neo-Institutionalismus als konzeptionellen Rahmen. Die Erläuterungen zur Methode bieten einen Einblick in den umfangreichen empirischen Corpus. Die Autorin sichtete öffentliche und interne Literatur von Hilfsorganisationen in Berlin, Oxford, und Genf (u.a. in der Bibliothek und im Archiv des UNHCR), führte zahlreiche Gespräche mit UNHCR- und NGO-Mitarbeitern, besuchte die die jährliche Zusammenkunft von NGOs und UNHCR in Genf ('Pre-EXCOM'), führte in Genf und in Lusaka Interviews mit Mitarbeitern der in Flüchtlingslagern präsenten Hilfsorganisationen. Doch den empirischen Kern der Untersuchung bildet die sechsmonatige Feldforschung in den Lagern Meheba Refugee Settlement und Nangweshi Refugee Camp, während der die Autorin den Lageralltag miterlebte, die Verteilung von Lebensmittelrationen beobachtete, Meetings zwischen NGOs- und Flüchtlingsvertreter protokollierte und mit sambischen Beamten, NGO-Mitarbeiter und Flüchtlingen Gespräche führte. Allein oder mit Hilfe lokaler Forschungsassistenten (André Joaquim Melo in Meheba, und Hildah Njamba in Nangweshi) interviewte die Soziologin an beiden Orten Flüchtlinge aller Alters- und Geschlechtsgruppen, Flüchtlinge ohne formale Position, Flüchtlingsvertreter sowie Flüchtlingsmitarbeiter von NGOS (Sozialarbeiter und Lehrer), und sammelte insgesamt 85 einstündige Tonbandinterviews, die sie abschließend computergestützt mit der Datenanalyse-Sofware ATLAS.ti bewertete. Geführt in europäischen (Englisch, Portugiesisch) oder afrikanischen Sprachen (Luvale, Umbundu, Chokwe, Lunda, Luchazi, Suaheli, Lozi, Bemba), wurden die Interviews anschließend übersetzt, transkribiert, kodiert und schließlich nach den Prinzipien der Grounded Theory nach Anselm Strauss systematisch analysiert. Im Laufe des Buches wird ausführlich aus den Interviews und aus den Protokollen der Forscherin zitiert, was einen guten Einblick in die Herausforderungen der Feldforschung in Flüchtlingslagern verschafft.

Der zweite Teil (Kapitel 6 bis 10) stellt die Akteure und Akteursbeziehungen im Flüchtlingslager vor. Allein die Auflistung der in Meheba Refugee Settlement tätigen Organisationen gibt ein Gefühl für die Vielfalt der Interessen und die Komplexität der Interaktionen, die im Flüchtlingslager stattfinden: die japanische Association for Aid and Relief (AAR), der Jesuit Refugee Service (JRS), der Lutherische Weltbund (LWF), die französische Sektion von Ärzte ohne Grenzen (MSF-France), der sambische CVJM mit dem United Nations Populations Fund (YMCA/UNFPA), die sambische Rotkreuzgesellschaft, das Welternährungsprogramm und der Orden Religious Sisters of Charity sorgen in Meheba für Hilfsleistungen, während sambische Dienststellen (Refugee Officer, Paramilitary Police) für Sicherheit zuständig sind. Daneben sind die Interessen der Flüchtlinge selbst zu berücksichtigen, die bei weitem nicht homogen sind. Sowohl in Meheba als auch in Nangweshi kommen die Flüchtlinge mehrheitlich aus Angola, jedoch aus verschiedenen Regionen, und verfolgen je nach Status, Geschlecht, Alter, Kontext der Flucht und des Eintreffens im Lager sowie ihrer Position in den Flüchtlingslagerhierarchien verschiedene Interessen. Die Darstellung der internationalen Akteure (vor allem UNCHR und NGOS, Kap. 7 und 8) ist eher klassisch, dafür sticht die Analyse der Deutungen des Labels des 'Flüchtlings' durch die Flüchtlinge (Kap. 9) heraus. Die Autorin zeigt anhand einer dichten Lektüre ihrer Interviewtranskriptionen, wie die Flüchtlinge Elemente des humanitarian speak - die administrativen Kategorien und rhetorischen Mittel der NGOs - benutzen, um ihre Situation zu deuten. Auch die Beschreibung der Flüchtlingsvertreter als "Intermediäre" zwischen Flüchtlingspopulation und NGOs überzeugt (Kap. 10). Insbesondere die Konkurrenz zwischen den gewählten Flüchtlingsvertretern und den von NGOs eingestellten (und bezahlten) Flüchtlingsmitarbeitern stellt eine wichtige Konfliktquelle in der Auseinandersetzung um die Position des Intermediärs im Flüchtlingslager dar.

Der dritte Teil (Kap. 11 bis 17) stellt nacheinander sieben institutionelle Merkmale humanitärer Kasernierung dar: die polyhierarchischen Strukturen (Kap. 11), das Wechselverhältnis von Freiwilligkeit und Zwang (Kap. 12), die dauerhafte Vorläufigkeit (Kap. 13), die von Flüchtlingen importierten Machtstrukturen (Kap. 14), das im Flüchtlingslager „frei flottierende Misstrauen" (Kap. 15), die Veränderung von Kollektiven (Kap. 16) und die Handlungsspielräume der Flüchtlinge (Kap. 17). Inhetveen zeigt deutlich, dass im Unterschied zu den von Erving Goffman beschriebenen „totalen Institutionen" (Asylheime, Gefängnisse, Kasernen, usw.) Flüchtlinge über – zugegeben geringe - Freiräume verfügen. Damit unterscheiden sich Flüchtlingslager auch deutlich von den von Michel Foucault postulierten Disziplinierungsanstalten: „Die von [Foucault] dargestellte minutiöse Durchplanung der Zeit und der für jeden Moment vorgesehenen Tätigkeiten der Insassen zur Disziplinarzeit`` ist in den Flüchtlingslagern nicht einmal ansatzweise zu beobachten", stellt die Soziologin fest. „Verbunden mit den großen räumlichen und sozialen Distanzen ist in Flüchtlingslagern das Verwaltungswissen über die Lagerbevölkerung gering und unsicher. Der Zugriff auf die Flüchtlinge ist auch mit Blick auf die Informationsgewinnung vergleichsweise eingeschränkt". (S. 381)

Trotz des explizit empirischen Anspruchs der Studie liegt somit das Verdienst der Autorin nicht zuletzt darin, einen analytischen Rahmen anzubieten, der die Flüchtlingslageranalyse vom Foucaultschen Paradigma emanzipiert. Nicht etwa, dass hier die Biopolitik für die Analyse keinen Grundlage bieten würde. Michel Agier, Simon Turner und andere haben ausreichend gezeigt, wie fruchtbar das Foucaultsche Vokabular in diesem Kontext sein kann 6. Doch es ist erfrischend, eine Arbeit über Flüchtlingslager zu lesen, die über das Lager als „verborgene Matrix" der Moderne (Agamben) hinausgeht. Sicherlich kann der Leser den Mangel einer genetischen Perspektive bedauern. Während das Buch sich gekonnt zwischen verschiedenen geographischen Skalen bewegt, verhält es sich anders mit der historischen Tiefe: Die Zeit der ethnographischen Forschung ist die Gegenwart, der Blick für längere Transformationsprozesse geht leider verloren (anders als zum Beispiel bei Malkki, 1995). Angesichts der stark raumorientierten Problematik wäre zudem zumindest eine Karte der Region angemessen gewesen.

Und dennoch: Inhetveen zeigt ein Bild vom Flüchtlingslager, das der Sicht der Flüchtlinge einen zentralen Platz einräumt, ohne – und das ist entscheidend - den Blick für die sie umgebenden Machtkonstellationen zu verlieren. Sie schafft es, einen luziden Blick für Interessenkonflikte und Machtverhältnisse zu bewahren, ohne ihren Text normativ wirken zu lassen. Das Flüchtlingslager lässt sich weder als Universallösung menschlicher Not, noch als globale Disziplinierungsanstalt beschreiben. Inhetveen bietet damit eine Analyse des Flüchtlingslagers, die sich weder des normativen Diskurses humanitärer Organisationen bedient, noch eine bloße Denunziation von Machtverhältnissen darstellt. Anstatt ihr Buch mit einem – in diesem Forschungskontext üblichen - normativen Urteil abzuschließen, zieht sie es vor, neue Wege für die Forschung zu eröffnen (Kap. 18). Sie fordert eine Typologie der Kasernierung; da es „das Lager" im Sinne Agambens, „nicht gibt" (S. 406): „Die Vielfalt empirischer Kasernierungsordnungen lässt sich nicht auf einen Prototyp reduzieren", schreibt sie (S. 406). Wie kann man also das NS-Lager, den Gulag und andere Gefangeneneinrichtungen, Unterbringungen für Ausländer in Europa und Flüchtlingslager in Ländern des globalen Südens vergleichend einordnen, ohne dass ihre radikalen Unterschiede aus dem Blickfeld geraten? Ein ehrgeiziges Forschungsprogramm, für das dieser Band zweifellos einen grundlegenden Beitrag liefert.

Anmerkungen:
1 Der UNHCR betreut ca. 10,5 Millionen Flüchtlinge weltweit, sie UNHCR, Global Trends 2010, 2011.
2 Barbara Harrell-Bond, Imposing Aid. Emergency Assistance to Refugees, Oxford 1986; dies./ Giuliano Verdirame, Rights in Exile. Janus-faced humanitarianism, New York 2005
3 Siehe u.a.: Liisa Malkki, Purity and Exile: Violence, Memory and National Cosmology among Hutu Refugees in Tanzania, Chicago 1995; Luc Cambrézy, Réfugies et Exiles. Crise des sociétés, crise des territoires (Éd. des Archives Contemporaines) Paris 2001; Michel Agier, Gérer les indésirables. Des camps de réfugiés au gouvernement humanitaire (Éd. Flammarion) Paris, 2008.
4 “the most essential feature of a camp", schrieb zum Beispiel Harrell-Bond, is the authoritarian character of their administration", siehe: Are refugee camps good for children?, in: New Issues in Refugee Research, Working paper Nr. 29, UNHCR, 2000, 1-11. Hier S.1.
[5] Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002 (Originalausgabe 1995).
6 Simon Turner, Under the Gaze of the 'Big Nations'. Refugees, Rumours and the International Community in Tansania, in: African Affairs 103 (2004), S. 227-247; ders., Simon, Biopolitics and Bare Life in a Refugee Camp. Some Conceptual Reflections, in: Katharina Inhetveen (Hrsg.), Flucht als Politik. Berichte von fünf Kontinenten, Köln 2006, S. 39-62; Finn Stepputat, Repatriation and the Politics of Space. The case of the Mayan Diaspora and Return Movement, in: Journal of Refugee Studies 7 (1994), S. 175-185.

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03.02.2012
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