S. Marks u.a. (Hrsg.): In Defence of Learning

Cover
Title
In Defence of Learning. The Plight, Persecution, and Placement of Academic Refugees, 1933-1980s


Editor(s)
Shula, Marks; Weindling, Paul; Wintour, Laura
Series
Proceedings of the British Academy 169
Published
Extent
304 S.
Price
€ 83,56
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Isabella Löhr, Universität Heidelberg

Das vorliegende Buch entstand anlässlich einer Tagung zum 75-jährigen Bestehen des Council for Assisting Refugee Scholars(CARA). Diese 1933 unter dem Namen Academic Assistance Council gegründete und 1936 in Society for the Protection of Science and Learning (SPSL) umbenannte Organisation half zunächst vom Nationalsozialismus verfolgten Wissenschaftlern bei der Emigration ins europäische oder nordamerikanische Ausland. Im Verlauf der 1930er- und 1940er-Jahre weitete sie ihr Tätigkeitsspektrum auf verfolgte Wissenschaftler in ganz Europa aus. Seit den späten 1960er-Jahren unterstützt die zwischenzeitlich in CARA umbenannte Organisation Wissenschaftler und Intellektuelle außerhalb Europas mit besonderem Augenmerk auf den Nahen Osten und Afrika, wobei das Jubiläumsbuch sich wegen Mangels an Experten für die Jahrzehnte nach 1960 auf die 1930er- und 1940er-Jahre konzentriert.

In vier Abschnitte gegliedert, nimmt der Band das ganze Akteursfeld von den Gründungsfiguren bis hin zu den wissenschaftlichen Flüchtlingen in den Blick. Im ersten Kapitel „Founders and Firstcomers“ wird die Gründungsgeschichte der SPSL erzählt, indem die Beiträge insbesondere auf einzelne Figuren wie Sir William Beveridge, A.V. Hill oder Leo Szilard abheben. Trotz der Ankündigung, mit diesem biographischen Zugriff neue Perspektiven zu öffnen, die der bisher dominierenden organisationsgeschichtlichen Perspektiven entwischt seien, geschieht dies nicht. In seinem den Band eröffnenden Beitrag über William Beveridge, der in seiner Funktion als Präsident der London School of Economics (LSE) die Initiative zur Gründung der SPSL ergriff, wiederholt David Zimmermann, wenngleich gut verständlich, die von ihm schon an anderer Stelle veröffentlichte Darstellung der Aktivitäten der SPSL in ihrer Gründungsphase.1 Dieser Text verweist den Leser auf zwei Schwachstellen, die einigen Aufsätzen in diesem Buch eigen sind: Zum einen geht der Fokus auf die zentralen Akteure nur selten mit einer systematischen und analytischen Einbettung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen in institutionelle und strukturelle Rahmenbedingungen einher. So aufschlussreich das daraus resultierende Ereignis- und Personenpanorama bisweilen ist, verirrt Zimmermann sich immer wieder auf Nebenschauplätze – wie zum Beispiel die Frage, ob Beveridge von der Verfolgung jüdischer Hochschullehrer während einer Reise nach Wien nun Ende März oder Mitte April 1933 erfahren habe. Zum anderen steht der Beitrag von Zimmermann pars pro toto für die fehlende kritische Distanz zu den Akteuren und der organisierten Fluchthilfe für die refugee scholars. Das zeigt sich zum Beispiel anhand von Zimmermanns durchweg positiver Einschätzung von William Beveridge, dessen Engagement für verfolgte Kollegen so verallgemeinert wird, dass alle seine Aktivitäten im Untersuchungszeitraum in einem durchweg positiven Licht erscheinen, inklusive seiner Rolle als Präsident der LSE – eine Einschätzung, die von Autoren wie Ralf Darendorf weitaus kritischer und differenzierter vorgenommen wird.2

Die ersten beiden Kapitel machen den Leser auch mit einer anderen Besonderheit bekannt, die den Band auszeichnet. Neben geschichtswissenschaftlichen Beiträgen findet sich eine Reihe von Texten aus der Feder der Kindergeneration der verfolgten Wissenschaftler, die entweder die Emigrationsgeschichte der eigenen Familie nachzeichnen (so zum Beispiel der Beitrag von Gustav Born, Sohn des Theoretischen Physikers Max Born) oder Mitarbeiter der SPSL über deren Korrespondenz mit den eigenen Eltern vorstellen. Das geschieht vor allem in der zweiten Sektion, in der die langjährige Sekretärin der SPSL, Esther Simpson, mit zwei Beiträgen gewürdigt wird.

Der dritte Abschnitt „Associates and Allies“ widmet sich anderen Organisationen, die verfolgten Wissenschaftlern bei der Ausreise aus Deutschland und dem Eintritt in das britische oder U.S. amerikanische Universitätssystem halfen. Instruktiv ist hier der Beitrag von Susan Cohen über die British Federation of University Women. Obwohl auch hier wieder eine auf Einzelpersonen zugespitzte Darstellung überwiegt, thematisiert die Autorin eine der Organisationen, die zwar aktiv in den Fluchthilfemaßnahmen für Wissenschaftler involviert war, über deren Engagement wegen einer schlechten Überlieferungssituation allerdings wenig bekannt ist. Ähnlich aufschlussreich ist der Beitrag von Gerald Kreft über die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, die 1934 vor allem wegen ihrerVermittlung von ca. 30 Wissenschaftlern an die Universität Istanbul bekannt geworden ist. In diesem Fall zahlt sich der biographische Zugriff über den Gründer der Notgemeinschaft, den Pathologen Philipp Schwartz, tatsächlich aus, weil die Ermöglichung dieses „group placements“ erst über die persönlichen Kontakte von Schwartz ins türkische Bildungsministerium sinnvoll erklärt werden kann. Dagegen führt der Beitrag von Tibor Frank bereits im Titel in die Irre: Spricht er hier von „organized rescue operations in Europe and the United States“, kommt die europäische Seite in dem Beitrag überhaupt nicht vor, während die Darstellung für Nordamerika sich auf das bekannte Engagement der Rockefeller Foundation, des Carnegie Endowment for International Peace und der New School forSocialReseach beschränkt, während die Aktivitäten des alle Hilfsmaßnahmen bündelnden Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars, über das tatsächlich nur sehr wenig bekannt ist, nur knapp erwähnt werden.

Mit den Beiträgen über wissenschaftliche Flüchtlinge aus der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Südafrika und Chile ist das vierte Kapitel des Bandes, „Reversing the Gaze“, besonders lesenswert. Obwohl die Beiträge von Marina Yu. Sorokina über die Sowjetunion und von Antonín Kostlán und Sona Strbánová über die Tschechoslowakei nur lose Bezüge zur Geschichte von SPSL und CARA aufweisen, führen beide Texte systematisch in Hintergründe, kollektivbiographische Eigenheiten der Flüchtlinge sowie die Anatomie von Fluchtwellen ein. Shula Marks und Alan Philipps zeichnen die in den 1960er-Jahren langsam einsetzende Verschiebung des Tätigkeitsfeldes der SPSL von Europa nach Afrika und Lateinamerika nach und geben damit Einblick in die bisher nur wenig erforschten zeit- und globalgeschichtlichen Aspekte akademischer Emigration und Zwangsmigration.

Am Ende der Lektüre bleibt der Eindruck, dass der in der Einleitung formulierte Anspruch, sich kritisch von der in der Literatur häufig anzutreffenden „‘heroic‘story“ (S. 5) der Hilfsaktionen für verfolgte Wissenschaftler zu distanzieren, nur in Teilen eingelöst wurde. Dieser Eindruck geht nicht zuletzt auf die Entscheidung der Herausgeber zurück, die Beiträge thematisch anzuordnen und darauf zu verzichten, die auf persönliche oder familiäre Erinnerung beruhenden Aufsätze von den wissenschaftlichen Beiträgen zu trennen. Der Grund für diese Entscheidung erschließt sich mit einem Blick in die persönlichen Schilderungen, arbeiten die Autoren dieser Beiträge doch alle mit Nachlässen, Korrespondenz und dem in der Bodleian Library in Oxford bewahrten Archiv der SPSL– also mit klassischem Quellenmaterial. Trotzdem erfüllen diese Texte nicht die Ansprüche geschichtswissenschaftlicher Forschung und berücksichtigt man zudem, dass dies in den meisten Fällen auch gar nicht das Ziel der Autoren ist, wäre es eine Überlegung wert gewesen, diese Texte aus der systematischen Ordnung herauszunehmen und in einer eigenen, entsprechend gekennzeichneten Rubrik zu versammeln. Außerdem stellt sich die Frage, ob eine Festschrift zum 75-jährigen Bestehen von CARA und seiner Vorgängerorganisation ein geeigneter Ort für eine kritische Auseinandersetzung sein kann, bei der lobende Worte und die Einbettung in übergeordnete wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge sowie Entwicklungslinien der internationalen Geschichte in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen können. Dementsprechend sticht besonders in den Beiträgen zu den 1930er- und 1940er-Jahren eine grundsätzlich positive Gestimmtheit gegenüber der Arbeit der Organisationsowie einervermeintlichen Offenheit der britischen Universitätslandschaft ins Auge, während der Umgang mit Quellenmaterial und -zitaten in den Aufsätzen, auf die sich diese positiven Einschätzungen berufen, eine historisch-kritische Auseinandersetzung an manchen Stellen schmerzlich vermissen lassen. Dem interessierten Leser bietet der Band eine Fülle von Fallstudien, die die Tragweite und Dramatik der Verfolgung durch das NS-Regime mithilfe biographischer Einblicke noch einmal deutlich vor Augen führen; dabei liegt die Stärke des Bandes darin, diese Einblicke nicht auf die akademischen Flüchtlinge zu beschränken, sondern genauso die Seite der Fluchthelfer zu berücksichtigen.

Anmerkungen:
1 David Zimmermann, The Society for the Protection of Science and Learning and the Politicization of British Science in the 1930s, in: Minerva 44 (2006), S. 25-45.
2 Ralf Darendorf, LSE. A History of the London School of Economics and Political Sciences, 1895-1995, Oxford 1995.

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07.09.2012
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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