A. Brilli: Als Reisen eine Kunst war

: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die 'Grand Tour'. Berlin 2012 : Klaus Wagenbach Verlag, ISBN 978-3-8031-2274-2 224 S. € 12,90

: Dreckige Laken. Die Kehrseite der Grand Tour. Berlin 2012 : Klaus Wagenbach Verlag, ISBN 978-3-8031-2680-1 208 S. € 12,90

Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Friedemann Scriba, Berlin

Die erträgliche Leichtigkeit des Seins wohlwollender und gleichzeitig kritischer Italophilie mit intellektuellem Anspruch bietet der Verlag Klaus Wagenbach seinen Lesern seit nunmehr über 40 Jahren immer wieder. Dabei werden in freibeuterischer Manier auch innovative, in Deutschland eher randständige Tendenzen der wissenschaftlichen Historiographie aus dem Südwesten und Süden Europas gerne aufgegriffen. Dies führt oft, so wie auch bei den beiden Bänden über die ‚Grand Tour‘, zu einem im guten Sinn populären und wissenschaftsnahem Vergnügen.

Der frühere Seneser Anglist Attilio Brilli präsentiert in seinem 1995 auf Italienisch erstmals erschienen Buch Ergebnisse seiner langjährigen Forschungen zu englischer Reiseliteratur, insbesondere zu Reiseführern und Reiseberichten englischer Adliger. Die im wesentlichen thematisch sortierten Zitate bettet er ein in reisepraktische Aspekte wie Zustand von Gasthäusern, wie die Zerlegung von Kutschen für die Alpenüberquerungen, wie bürokratische Probleme mit Pässen, Gesundheitszeugnissen und Geldgutschriften, wie Nécessaires und Reiseapotheken oder wie die Reisegarderobe. Deutlich wird dabei auch, wie der im 17. Jahrhundert allmählich beginnende Ausbau von Fernstraßen das Reisen mit der Kutsche (und dem dazugehörigen Gefolge) anstelle des Reitpferdes erst zuließ und damit auch eine entsprechende Tourismus-Wirtschaft auf der Strecke in England, Frankreich oder Deutschland sowie im Zielgebiet Italien ermöglichte. Ein eigenes Kapitel widmet Brilli dabei dem Wandel von der privaten Gastfreundschaft zwischen – durch Empfehlungsschreiben als solche erwiesenen - sozial Ebenbürtigen zu einer kommerziellen Beherbergungsstruktur von Pensionen und Unterkünften bei den Poststationen – einschließlich des im 18. Jahrhundert deutlich sichtbaren Niveauunterschiedes zwischen dem Hotelwesen in England und dem in Süd-Italien.

Ein stereotypes Leitmotiv in der Italien-Perzeption ist das Thema der Sauberkeit und z.T. auch des Betrugs im Reisealltag. Diese Erlebnisse haben immer wieder zu Enttäuschungen geführt bei einem Publikum, das sich in der Heimat ausführlich durch Lektüre von antiken Klassikern, den Erwerb idealisierender Gemälde und die Orientierung an Wertungen in Reiseliteratur auf Italien vorbereitet hatte und mit hochgesteckten, hochselektiven Erwartungen die zuvor ausgewählten Städte bereiste – und den Alltag der Italiener als Störfaktor möglichst ausblendete. Brilli nennt neben den kanonischen, meist konventionellen Bildungsinhalten auch das für die jungen Männer mitlaufende, aber in der Heimat kaum ausgesprochene Thema der erotischen Initiation – mit schon zeitgenössischer Kritik an Sauf- und Sextourismus.

In einer Art diachroner mentalitätsgeschichtlicher Skizze synchronisiert Brilli die Veränderungen von Reisementalität in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem geistesgeschichtlichen Wandel vom Rationalismus zur spätaufklärerischen Empfindsamkeit: Die klassizistische Ästhetik als Beurteilungskriterium von städtischen Kunstwerken werde relativiert durch eine Empfindsamkeit für das Pittoreske, anknüpfend an ein an den schottischen Seen geschultes Landschaftsempfinden. Der romantische Reisende, der nunmehr auch die schweizerischen Alpenpässe nutze, suche nunmehr das von der Zivilisation Verschonte. Die klassische Zeit der ‚Grand Tour‘ sei damit zu Ende, mit dem wachsenden Anteil Bürgerlicher stehe das Zeitalter der von Thomas Cook organisierten Zugreisen und der großen Hotelpaläste vor der Tür.

Brillis durch zahlreiche Bilder illustriertes Panorama präsentiert viele Facetten des Reisens in der Frühzeit eines Tourismus, der sich nicht mehr als religiöse Wallfahrt oder reine Handelsreise verstand. Allerdings ordnet Brilli das Phänomen nicht weiter ein in eine Mentalitätsgeschichte sozialer Klassen, u.a. Rollen- und Selbstverständnisänderungen von Adligen im 18. Jahrhundert, in eine historische Anthropologie des Reisens oder – im Sinne von Reinhart Kosellecks Terminus vom „Erfahrungsraum Geschichte“ – in eine Geschichte von Geschichtskultur.

Der Titel des weitgehend von Kunsthistoriker/innen bestrittenen Sammelbandes „Dreckige Laken“ verspricht eine Geschichte materiellen Alltags, bietet aber eher reisepsychologisch geprägte Mentalitätsgeschichte unter der Leitfrage: Wie bewältigten die Reisenden die eigentlich vorprogrammatierten Enttäuschungen? In der Einleitung bündeln die Herausgeber den paradoxen Ausgangsbefund, der in den einzelnen Beiträgen jeweils exemplarisch ausgeleuchtet wird: „Die Italienenttäuschungen sind …. nicht so sehr Enttäuschungen über Italien; sie stellen vielmehr Kollisionen Italiens mit dem deutschen, französischen, englischen Italienbild vor.“ (S.11).

Fritz Emslander stellt die Kritik an den ‚Ciceroni‘, den als geschwätzig, inkompetent, gauklerisch und letztlich störend erlebten Fremdenführern, dar – die als Projektionsfläche für die als Enttäuschung sichtbare o.g. Kollision zwischen Erwartung und Wirklichkeit herhalten mussten. Er spitzt zu: „Jedes Laken ist dreckig, es sei denn Vergil hätte darin geschlafen, Claude hätte es so gezeichnet…. Die Enttäuschung wird an den Cicerone delegiert.“ (S.26) Erst Jacob Burckhardt habe durch seine Selbstpräsentation als Cicerone anderen Typs diesen Touristenführer und nebenbei den antiken Namensgeber rehabilitiert (S.28-29).

Constanze Baum bündelt die Bewältigungsstrategien europäischer Neapelreisender um 1800 in der Trias „Vorbild – Abbild – Zerrbild“, wobei sie – u.a. mit Bezug auf die vergilischen Stätten auf den Phlegräischen Feldern – verschiedene Strategien auflistet: Überblenden mit klassischen Texten, Ablösung der Anschauung durch Wissen, Anschauungsverweigerung, Ablenkung/Verdrängung, Projektion (Ausweichen auf Imaginationsräume), Introjektion (Rückzug ins eigene Ich) sowie Entsagung. In einer gewissen Nähe zu psychologischem Vokabular bietet sie damit Instrumente, Äußerungen von Reisenden zu beschreiben und zu klassifizieren. – Unter dem Zitat „Ein Paradies bewohnt von Teufeln“ beschreibt Annette Hojer die Rezeption des Blutwunders des Hl. Januarius als Identitätsstiftung für die neapolitanischen Bevölkerung, den Kontrast zwischen reformkatholischer Affekterregung und protestantisch-nordischer Affektkontrolle und die Übertragung des Januarius-Kultes nach Wien während der kurzzeitigen Herrschaft Habsburgs über das Königreich beider Sizilien nach 1713. Von der durchgängigen Verwendung des Stereotyps „Paradisische Natur vs. diabolische Bevölkerung“ im 18. Jahrhundert machte sich lediglich Montesquieu frei mit seinem rationalisierenden Versuch, die sozialen Probleme Neapels zu benennen und aus der jahrhundertelangen Fremdherrschaft herzuleiten.

Uta Schürmann zeigt am Beispiel Charles Dickens‘, wie die Enttäuschung sich wandelt zur tourismuskritischen Satire, zunächst unter kritischer Beobachtung des Verhaltens der Touristen als Menschen, dann versöhnlerisch übergehend in ein Interesse an Auffälligkeiten des „wirklichen“ Italien und schließlich in einen neuen Wahrnehmungsmodus gegenüber Venedig.

Jan van Brevern leuchtet anhand einer Parallelgeschichte zur ‚Grand Tour‘, nämlich Reisen nach Griechenland, die Enttäuschung aus, von imaginierter Geschichte (wie etwa die Schlacht von Marathon) in der Landschaft eigentlich nichts zu sehen und zu fühlen: er stellt die präventiven Augenschulungen durch Bilderserien dar – so dass Geschichte an den Orten wie Marathon oder Olympia dann doch „da“ ist. Er fasst die paradoxe Konsequenz im Umgang mit nicht oder kaum sichtbaren oder imaginationsstiftenden Relikten zusammen: „In die Begeisterung über die griechischen Erinnerungsorte mischte sich daher immer auch Genugtuung, dass die eigene Einbildungskraft über die neue Wirklichkeit triumphiert habe.“ (S.80)

Erik Wegerhoff pointiert unter dem Titel „Kühe versus Cicero. Wanderungen über den Campo Vaccino“ die Enttäuschung der literarisch gebildeten Reisenden des 18. Jahrhunderts über die Wandlung des Forum Romanum zu Weide und Viehmarkt, bis sich in den 1780er-Jahren eine vom „Pittoresken“ beeinflusste Sehweise dank einschlägigen Gemälden des 17. Jahrhunderts durchsetzte – die ihrerseits durch die im frühen 19. Jahrhundert beginnenden Ausgrabungen auf dem Forum dann einen Verlust von ‚Pittoreskem‘ beklagte.

Charlotte Kurbjuhn zeigt in „‘Kehrseiten‘ Siziliens um 1800“ Ähnlichkeiten zwischen Motiven der ‚Gothic Novel‘ (z.B. das anarchisch-antiklassizistisch gefärbte ‚Castle of Otranto‘ von Horace Walpole) und zeitgenössischen Reiseberichten, die die bizarren Todesphänomene wie die Kapuzinerkatakomben in Palermo oder die „bacchantische Beunruhigung“ durch katholische Festlichkeiten frühromantisch herausheben. Psychologisch heißt es: „Während die Tempelruinen der einstigen Mächte an der Oberwelt ein kollektives Historizitätsbewusstsein wachrütteln, das sich im vorrevolutionären Donnergrollen umso stärker bemerkbar macht, wecken die Mumien die individuellen Zersetzungsängste des Subjekts, die notdürftig durch Sarkasmus und Ästhetisierung gebannt werden.“ (S.118) Herder dagegen konzentriere sich auf die integre Kontur der Statue.

Golo Maurer geht mit seinem Text über Gustav Nicolais Reise von 1833 gänzlich in einen Zeitraum, der jenseits der klassischen ‚Grand Tour‘ liegt – in das 19. Jahrhundert, in dem die Begegnung mit Italien verbürgerlicht und allmählich breiteren Kreisen zugänglich wird. Maurer zeigt das Umkippen Nicolais aus der Enttäuschung in eine Polemik gegen das verbreitete antikelastige Italienbild und in eine Überhöhung kathartisch gewonnener Heimatliebe: Goethes Pilgerfahrt sei rückgängig gemacht.

Joseph Imorde beschreibt, wie im späten 19. Jahrhundert deutsche Reisende einerseits vor den Originalen in touristischer Konstatierungsfreude die Wiedergänger heimatlicher Phantasiearbeit wiederfinden und sich dort „zuhause“ fühlen, andererseits sich aber bei Misslingen abwenden und in ihrer Sucht nach Selbstvollendung in Italien buchstäblich abgrenzen, vgl. Wagners Flucht in den Garten der Villa Rufolo in Ravello. Diese Kehrseite des Idealismus („Man achtete die Toten und verachtete die Lebenden“; S.154) ging über in eine Verachtung des nordischen „Herrenmenschen“ gegenüber südlicher „Dekadenz“ – fassbar in des Anthropologen Ludwig Woltmanns Bestreben, die toskanische Renaissance zu einer „germanischen“ Erscheinung zu erklären, oder in des Verlegers Eugen Diederichs Abgrenzung von Po-Ebenen-Bewohnern „germanischen Typs“ gegen charakterlos romanische Süd-Italiener. Imorde fasst zusammen: „Die Einfühlung in das Andere wurde systematisch dazu instrumentalisiert, das Mitgebrachte und an die Kunst Herangetragene als Eigentliches zu genießen…. Die elitäre Identifikation mit dem Höchsten, das heißt der objektive Selbstgenuss vor der Kunst, brauchte die chauvinistische Abgrenzung von der italienischen Wirklichkeit, um sich der eigenen Außerordentlichkeit zu versichern. … Die ‚Kulturheilande‘ der Renaissance wurden nach Deutschland eingebürgert.“ (S.160-161)

Alma-Elisa Kittner exemplifiziert an Hannah Höch und Rolf Dieter Brinkmann, dass sich im 20. Jahrhundert Künstler von Italien als ‚Ausbildungsstätte‘ verabschiedet hätten und nunmehr die „dreckigen Laken“ zum Programm künstlerischen Arbeitens geworden seien: 1925 Hannah Höch mit dadaistischer Satire Mussolini fiktiv aus dem Lande vertreibend, 1972/73 Brinkmann mit multimedialen Mitteln Rom als Ausdruck des apokalyptischen Zusammenbruchs europäischer Kultur denunzierend, sich Italien eigentlich verweigernd.

Bewertet man die beiden Bände als das, was sie in die Wagenbach’sche Taschenbuchreihe geführt hat, erfüllen sie ihren einführenden und die Gedanken wilder Leser anregenden Zweck ganz hervorragend. Die eigene Reisementalität auch von historisch-wissenschaftlich gebildeten Italien-Interessierten erscheint in flirrendem Licht. In diesem Sinn können die Bücher auch als Türöffner für systematischere Fragestellungen in Sinne einer historischen Anthropologie des Reisens, für genauere literaturwissenschaftliche Untersuchungen bestimmter Texte und für eine Rekonstruktion der Pragmatik frühneuzeitlichen Tourismus dienen.

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07.12.2012
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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