D. Wünsche: Feldpostbriefe aus China

Title
Feldpostbriefe aus China. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster deutscher Soldaten zur Zeit des Boxeraufstandes 1900/1901


Author(s)
Wünsche, Dietlind
Published
Extent
480 S.
Price
€ 39,90
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Marcus Sonntag, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Feldpostbriefe sind inzwischen ein beliebter Gegenstand historischer Forschung. Vor allem Briefe aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg dienen als Materialien, die Aufschluss geben sollen über das Denken und Handeln der Männer, die die Kriege ausfochten.1 Hingegen blieben „kleinere“ kriegerische Auseinandersetzungen in der deutschen Forschung eher unbeachtet. Im Fall der Niederschlagung des so genannten Boxeraufstandes geht das so weit, dass man dieser bewaffneten Auseinandersetzung überhaupt erst in den letzten Jahren die Bezeichnung „Krieg“ zugestand. Und im Krieg befanden sich die deutschen Truppenverbände auf chinesischem Boden insbesondere auch in ihrer Selbstwahrnehmung, wie Dietlind Wünsche in ihrer Studie zeigen kann. Umso mehr verwundert es, dass Wünsche selbst in Titel wie Text ihres Buches meist den Begriff „Boxeraufstand“ verwendet.

Wünsche will mit Hilfe eines mentalitätsgeschichtlichen Ansatzes die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster deutscher Soldaten im Boxerkrieg untersuchen (S. 16-18). Damit betritt sie in zweifacher Hinsicht Neuland. Zum einen ist die „wissenschaftliche Erforschung deutschsprachiger Quellen zum militärischen Engagement der Deutschen in China um 1900“ (S. 31) ein weitgehend brach liegendes Feld, zum anderen kann Wünsche auf zahlreiche bislang unausgewertete und unveröffentlichte Privatbriefe zurückgreifen, die vornehmlich Offiziere in die Heimat sandten. Mit Hilfe dieser Feldpostbriefe sowie unter gleichzeitiger Auswertung von Brieftagebüchern, veröffentlichten und unveröffentlichten privaten Tagebüchern und schließlich den offiziellen Kriegstagebüchern will Wünsche den Erfahrungshorizont der Kriegsteilnehmer rekonstruieren. Nicht zuletzt auch vor diesem Hintergrund unterzieht sie daher in einer vielleicht etwas zu ausführlich geratenen Einleitung (S. 11-72) die Textsorte „Feldpostbrief“ einer fundierten Kritik und stellt veröffentlichte und unveröffentlichte Selbstzeugnisse über den deutschen Feldzug in China detailliert vor.

Im ersten Teil ihres Buches gibt Wünsche einen konzisen Überblick über „Weltpolitik und Militärdoktrin“ des Deutschen Reiches unter Wilhelm II. Hier liefert sie den historischen Kontext für ihr eigentliches Thema, den Boxerkrieg, der ohne das deutsche Streben nach „Weltgeltung“ im Zeitalter des Imperialismus nicht verstanden werden kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Darstellung prägender Strukturen, die letztlich Deutungs- und Wahrnehmungsmuster der Soldaten in China beeinflussten und vorprägten. Zwar sind Wünsches Ausführungen beispielsweise zum Phänomen „Militarismus“ eng angelehnt an die Interpretation von Hans-Ulrich Wehler; aber dessen Analyse des „preußisch-deutschen Militarismus“ entspricht eben nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand (S. 92f.).2 Das sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt, schmälert dieser Mangel doch keineswegs Wünsches Analyse. Grundsätzlich zuzustimmen ist ihr in der Annahme, dass die überwiegend kaisertreuen Offiziere den „Weltmacht“-Kurs ihres obersten Kriegsherrn mittrugen und den China-Einsatz vorbehaltlos bejahten. Letzterer wurde übrigens vornehmlich vom Kaiser, weitestgehend am Reichskanzler vorbei, durchgesetzt.

Im Folgenden schildert Wünsche sehr ereignisorientiert den deutschen Einsatz in China, ohne dabei die Auswertung ihrer Ego-Dokumente aus dem Auge zu verlieren. Vielmehr kann sie die makrohistorische chronologische Darstellung des Boxerkrieges immer wieder mit Hilfe ihrer Briefquellen auf einer Mikroebene veranschaulichen. So entsteht ein flüssig lesbarer Überblick über den Kriegsverlauf aus deutscher Sicht, der auch einem China-unkundigen Leser das Wesentliche vermittelt, ohne das der letzte und damit zentrale Teil der Arbeit nicht zu verstehen ist.

Im rund 200 Seiten umfassenden und damit weitaus größten Teil der Publikation schildert Wünsche auf Grundlage der Briefe „Wahrnehmungs- und Deutungskonzepte“ der Soldaten, hier wiederum quellenbedingt vornehmlich von Offizieren, in China. Im Selbstverständnis als soziale und politische Elite des Kaiserreichs fuhren meist völlig von sich und ihrem Stand überzeugte Männer nach China, die sich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet hatten. Die schiere Masse an freiwilligen Meldungen, die den Bedarf weit überschritt, lässt bereits vermuten, dass Soldaten sich aus den unterschiedlichsten Gründen für einen China-Einsatz bereit erklärten. Eine gehörige Portion Abenteuerlust, die Aussicht auf Ruhm und Ehrenerweise, schnellere Beförderung, höhere Besoldung, Perfektionierung des Kriegshandwerks und schließlich auch Empörung über die Ermordung des deutschen Gesandten von Ketteler spielten dabei eine Rolle. Während die Soldaten in China ihren Einsatz durchgängig als Krieg wahrnahmen, versuchten die verantwortlichen Stellen, in der Öffentlichkeit das Bild von einem Pazifizierungseinsatz zu zeichnen, von einer Polizeiaktion zur Niederschlagung eines Aufstandes. Schnell schlug zudem die anfängliche Begeisterung der Soldaten in blanke Ernüchterung um. Die Masse der ausgewerteten Briefe stammt von Heeressoldaten, die erst spät nach China verlegt wurden, nachdem die „schwerste Arbeit“ bereits von ihren Marinekameraden und anderen internationalen Truppenteilen erledigt worden war. Als der deutsche Graf Waldersee im September 1900 das Oberkommando über das internationale Expeditionskorps übernahm, war vielerorts der Krieg bereits vorbei.

In der Hoffnung auf kriegerische Praxis und militärische Ehren tobten sich die Männer des Expeditionskorps folglich überwiegend in wenig ehrenhaften Strafexpeditionen aus, die nicht selten gegen zivile Ziele gerichtet waren. Neben diesen Einsätzen bestimmte die Langeweile den Alltag vieler Soldaten, wie aus den Briefen hervorgeht. Das wiederum lastete man aber oft der übergeordneten Führung in China an, die angeblich zu wenige Kampfaufträge gegen „die Chinesen“ erteilte. Einig waren sich die meisten, dass man es in China mit einem verschlagenen Feind zu tun hatte, wobei der Gegner oft diffus blieb. Waren alle Chinesen Feinde oder nur die Boxer, und was war mit den regulären chinesischen Truppen? Im Zweifelsfall machte man sich darüber wenig bis keine Gedanken, denn „der Chinese“ an sich verdiente, so der Tenor vieler Feldpostbriefe, eine harte Behandlung. Nicht zuletzt durch die Vermittlung der gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr populären Reise- und Abenteuerliteratur hatten viele Soldaten bereits ein vorgefertigtes China-Bild im Kopf, für das sie oft nur die lebende Bestätigung fanden. Die gängige Annahme lautete, dass die einstige chinesische Hochkultur in stetigem Niedergang begriffen sei. Das Stereotyp vom heruntergekommenen Chinesen wurde als so selbstverständlich akzeptiert, dass sich eine differenzierte Betrachtung gar nicht zu lohnen schien. Daher gingen fast alle eingesetzten deutschen Truppen mit der vermeintlich nötigen Brutalität vor, hatte ihnen doch nicht zuletzt ihr Oberbefehlshaber in der Heimat den Auftrag erteilt, kein Pardon zu geben und keine Gefangenen zu machen. Wilhelms II. wirre Reden wurden von vielen Soldaten als klarer Handlungsauftrag verstanden, wie Wünsche anhand der Briefe nachdrücklich belegt. Hatten sich nach der deutschen Auffassung nicht nur die Boxer, sondern alle Chinesen außerhalb des Völkerrechts gestellt, so konnte es auch für sie eine Behandlung nach westlichen Maßstäben nicht geben. Vielmehr war man der Überzeugung, dass Chinesen zwar servil und willfährig seien, sie dazu aber unter ständigem Zwang gehalten werden müssten. Falsche Milde, darin waren sich die deutschen Soldaten einig, war zur Erreichung der militärischen und „erzieherischen“ Ziele völlig fehl am Platz. Die Sehenswürdigkeiten Chinas oder einzelne lokale Honoratioren, denen man im Einzelfall mit größerer Achtung begegnete, schienen aber ebenfalls nur von der vergangenen Größe Chinas zu zeugen, die nun angeblich ihr endgültiges Ende gefunden hatte.

Dietlind Wünsches lesenswerte und sehr gelungene Studie ist nicht nur für militärhistorisch Interessierte eine Bereicherung. Sie demonstriert, wie deutsche Soldaten ihren Auslandseinsatz erfuhren, welchen Sinn sie ihm gaben und wie sehr das alles von den kulturellen Mustern beeinflusst oder vorgeprägt war, in denen sie sozialisiert waren. Zusätzliche Anschaulichkeit gewinnt ihre Interpretation durch die in mühevoller Kleinarbeit transkribierten und im Anhang des Buches abgedruckten Briefe des deutschen Offiziers Alexander Feldt an seine Mutter. Leider breitet Wünsche ihr Quellenmaterial an einigen Stellen allzu detailliert aus, sodass Wiederholungen nicht ausbleiben und man sich eine gerafftere Wiedergabe wünschen würde. Positiv hervorzuheben ist, dass sie am Ende ihrer Untersuchung auf einigen wenigen Seiten auch chinesische Quellen zu Wort kommen lässt.

Für Wünsches Entscheidung, ihre Untersuchung auf eine im Wesentlichen nationalgeschichtliche Perspektive zu beschränken, sprechen gute, nicht zuletzt arbeitspragmatische Gründe. Ihre Ergebnisse provozieren jedoch beinahe zwangsläufig die Frage, ob und inwiefern die deutschen Soldaten unter den alliierten Truppen eine besondere Rolle spielten. Welche Wahrnehmungen und Deutungen machten bzw. produzierten Briten, Franzosen, Amerikaner, Russen, Italiener, Japaner und Soldaten aus Österreich-Ungarn, die 1900/01 ebenfalls in China eingesetzt waren? Es bleibt zu hoffen, dass Wünsches Pionierstudie zu einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Boxerkrieg Anlass geben wird.

Anmerkungen:
1 Exemplarisch, weil immer noch richtungsweisend, sei hier nur Bernd Ulrichs Studie „Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933“ (Essen 1997) angeführt.
2 Vgl. Benjamin Ziemann: Sozialmilitarismus und militärische Sozialisation im deutschen Kaiserreich 1870-1914. Desiderate und Perspektiven in der Revision eines Geschichtsbildes, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), S. 148-164.

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24.02.2009
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