E. Heidenreich: Sakrale Geographie

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Title
Sakrale Geographie. Essay über den modernen Dschihad und seine Räume


Author(s)
Heidenreich, Elisabeth
Series
Global Studies
Extent
325 S.
Price
€ 27,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Silvia Horsch, Universität Osnabrück

Der Essay unternimmt die Darstellung und Analyse der grundlegenden Konstellation des modernen militanten Islamismus, die als „Triptychon aus technischen, sakralen und seelisch-geistigen Räumen“ beschrieben wird. Der entsprechend weitgefasste Raumbegriff ist die Klammer, welche die drei Aspekte miteinander verbindet.

Das erste Kapitel befasst sich mit den physischen Räumen, insbesondere mit den „technischen Fließräumen“. Als solche bezeichnet Heidenreich die Verkehrs-, Versorgungs- und Kommunikationsnetze, die nicht nur Ziele von Angriffen seien, sondern selbst als Waffen und Schlachtfelder genutzt würden. Das Kapitel beginnt mit einer Darstellung der Ausbreitung technischer Räume seit dem 19. Jahrhundert, wobei auch deren Rolle für die Kolonialisierung berücksichtigt wird. Ihre Eigenschaft der Mobilität, die durch sie erzeugte Simultanität und ihre energetische Qualität machten sich militante Islamisten zunutze, bzw. kennzeichneten auch deren eigene Vorgehensweisen und Organisationsformen.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Frage „worum“ (S. 11) es beim „modernen Heiligen Krieg“ geht. Im Zentrum stehen dabei nach Heidenreich „religiöse Vorstellungen über eine verletzte und wiederherzustellende heilige räumliche Ordnung“ (S. 12). Grundlegend zum Verständnis der Ziele militanter Islamisten seien die „Vorstellungen des mittelalterlichen Islam über den Kosmos“. (ebd.) In der Darstellung dieser Raumordnungsvorstellungen beruft sich Heidenreich auf das einführende Werk „Die Religion des Islam“ des Orientalisten Richard Hartmann von 1944. Demnach gehe die mittelalterliche Kosmologie des Islams von einer zweigeteilten Welt aus, die in „heilige und unheilige Gebiete“ zerfalle, „Gebiete, in denen das Gesetz Gottes herrscht und Gebiete, in denen heidnischer Götzendienst getrieben wird.“ Um diesen „Sündenfall“ zu korrigieren, müsse „der gesamte Globus […] durch Missionierung, Unterwerfung und Krieg geheiligt werden.“ (S. 12) Mit Hartmann wird davon ausgegangen, dass die Vision einer einheitlichen religiösen und politischen Gemeinschaft nicht nur von Gelehrten theoretisch vertreten wurde, sondern im Bewusstsein aller Muslime tief verankert gewesen sei. (S. 76)

Bei den Begriffen dar al-islam (Haus des Islams, aber auch: Haus des Friedens) und dar al-harb (Haus des Krieges) handelt es sich um Begriffe des fiqh (des islamischen Rechts), die nicht in erster Linie auf die Unterscheidung zwischen Glaube und Unglaube zielen, sondern auf die zwischen Sicherheit und Unsicherheit.1 Die fehlende Bestimmung der konkreten Verwendung dieser Begriffe im Diskurs des_fiqh_ führt zu weitreichenden Schlussfolgerungen, in denen aus diesen Begriffen eine grundlegende Teilung der Welt in „heilig“ und „unheilig“ abgeleitet wird.

Eine solche Darstellung widerspricht den Ergebnissen der neueren Islamwissenschaft, die unter anderem darauf verweist, dass im Bereich der Politik mehrere Diskurse nebeneinander standen, Politik im Bereich des islamischen Rechts und andererseits Religion in der politischen Literatur eine eher untergeordnete Rolle spielten.2 Die fehlende islamwissenschaftliche Kompetenz der Autorin zeigt sich nicht nur an der mangelnden Kenntnis der Sekundärliteratur, sondern auch an der unreflektierten Verwendung christlich/europäisch geprägter Begriffe wie Sündenfall, Heiden und Mittelalter sowie der falschen Umschrift zahlreicher Begriffe.

Der Begriff des „Heiligen“ (der sich in den Zitaten Hartmanns nicht findet) geht vor allem auf den von Heidenreich häufig zitierten Religionsphänomenologen Mircea Eliade zurück. Für Eliade macht die Dichotomie des Heiligen und des Profanen das Wesen des Religiösen aus – eine Bestimmung, die den Aufstieg des Begriffs des „Heiligen“ zu einer Universalkategorie in der Religionswissenschaft, Anthropologie und Theologie im späten 19. Jahrhundert zur Voraussetzung hat. Die Übertragung dieser Dichotomie auf den islamischen Kontext bringt eine Reihe von Problemen mit sich. Wie die Autorin zutreffend festhält, fehlt im Islam ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Daraus zieht sie jedoch nicht den Schluss, dass möglicherweise andere Unterscheidungen eine Rolle spielen, sondern legt den (fehlenden) Gegensatz dennoch zugrunde – mit der Folge, dass es im Isam nur noch Heiliges gibt: „[…] im ausgedehnten Territorium des Islamgebietes [ist] in letzter Konsequenz alles heilig, außerhalb von ihm alles unheilig.“ Sie spricht nicht nur von „heiligen Stätten“ und „heiligem Territorium“, sondern auch von „geheiligter Lebensweise“ und natürlich vom „heiligen Krieg“. Gerade der letzte Begriff, bei dem es sich um eine europäische Begriffsprägung handelt, ist problematisch, weshalb er in der Islamwissenschaft wie auch der Religionswissenschaft zunehmend gemieden wird.4

Die Absicht, die ganze Welt zu „heiligen“ erscheint als zentraler Antrieb islamistischer Terroristen. Zwar trifft es zu, dass al-Qaida nach der Fokussierung auf den „fernen Feind“, den Globus als ganzen im Blick hat, das islamische „Mittelalter“ (von Anhängern des Salafismus und des Wahabismus ohnehin als eine Phase der Abkehr von der ursprünglichen Botschaft gebrandmarkt) spielt dafür jedoch eher die Rolle eines Stichwortgebers. Umgedeutete und reduzierte Begriffe – wie dar al-islam und dar al-harb –erlauben es militanten Islamisten, sich in eine Tradition zu stellen und dadurch symbolisches Kapital zu akkumulieren.5

Im dritten und letzten Kapitel, das sich mit dem „geistig-seelischen Innenraum“ islamistischer Selbstmordattentäter befasst, geht es um Selbsttechniken, die in der Vorbereitung auf Anschläge angewendet werden können. In einer interessanten Übersicht von der Antike bis zur Moderne unterscheidet Heidenreich fünf Typen von Selbsttechniken. In den verschiedenen Phasen der Radikalisierung würden in einem komplexen Prozess verschiedene dieser Selbsttechniken angewandt und miteinander kombiniert. Vor dem Eintritt in eine terroristische Gruppe, innerhalb derer die Selbsttechniken dann zum Tragen kommen, stehe eine Zunahme des religiösen Gefühls. Dieser Beginn des radikalen Weges wirdunter Rückgriff auf psychoanalytische Ansätze unter anderem mit einer Diskrepanz von Sein und Tun erklärt. Insgesamt stehen psychoanalytische und religionsphänomenologische Ansätze im Vordergrund, politische und soziale Faktoren von Radikalisierung werden kaum berücksichtigt.

Der Essay behandelt wichtige und zum Teil bisher wenig behandelte Fragen und bietet punktuell interessante Einsichten. Die essentialisierende Herangehensweise an den Islam steht jedoch im Kontrast zu den ebenfalls zu findenden differenzierten Ausführungen etwa zur Bedeutung des Nationalstaates im modernen muslimischen Denken, den Auswirkungen der technischen Entwicklung auf Raumvorstellungen und der Bedeutung der „technischen Fließräume“ für die Verteilung von Macht und Ohnmacht. Heidenreich erwähnt auch historische und strukturelle Beziehungen zu Konzepten des 19. Jahrhunderts (Avantgarde, Propaganda der Tat, Bewusstwerdung der Massen) und totalitären Bewegungen des 20. Jahrhundert und bezieht sich auf Zygmunt Baumanns Analyse der homogenisierenden Tendenzen des modernen Nationalstaates (S. 168f.). Letztendlich haben diese Aspekte für die Autorin nur eine vernachlässigbare Bedeutung, denn all dies ändere „nichts an der Tatsache, dass sich bis heute die Vorstellung einer idealen Einheit von Glauben, muslimischer Gemeinschaft und Staatsgebiet erhalten hat, eines homogenen und harmonischen Ganzen.“ (S. 172) Die Einsichten, die an den genannten Stellen gewonnen werden könnten, werden so durch den Universalschlüssel „(mittelalterlicher) Islam“ wieder neutralisiert.

Dass Moderneundislamistischer Terrorismus nicht nur auf der Ebene der Technik eng verbunden sind, wird in den Zitaten aus Dostojewskis Romanen mit denen die Autorin jedes Kapitel einleitetund die „das Problem des „(terroristischen) Quasi-Religiösen in einer Epoche prekärer Modernisierung“ (S. 18) entfalten, dennoch deutlich.

Anmerkungen:
1 Vgl. Tahsin Görgün, Religion und Gewalt. Bemerkungen zur Debatte über Kampf oder Dialog der Kulturen und Religionen, in: Friedrich Wilhelm Graf u.a., Religionen und Globalisierung, München 2007, S. 116f.
2 vgl. Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, 43f.
[3] Albrecht Noth, Heiliger Krieg und Heiliger Kampf, Bonn 1966, S. 21.
4 Kippenberg hält fest, dass der Begriff in den Medien Karriere machte, nachdem er der Religionswissenschaft bereits suspekt geworden war, vgl. Hans Kippenberg, Hans, Religionskriege heute. Die Entsäkularisierung des Nahostkonflikts, in: Dietrich Beyrau / Michael Hochgeschwender / Dieter Langewiesche, Formen des Krieges, Paderborn 2007, S. 415. Auch Albrecht Noth hat den Begriff in seinen späteren Publikationen zum Dschihad nicht mehr verwendet.
5 Vgl. Rüdiger Lohlker, Dschihadismus. Materialien, Wien 2009, S. 56ff. An anderer Stelle macht Heidenreich durchaus darauf aufmerksam, dass der militante Islamismus neue Konzepte hervorbringt und Überlieferungen neu interpretiert (S. 143, S. 234).

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30.11.2012
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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