C. Kalter: Die Entdeckung der Dritten Welt

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Title
Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich


Author(s)
Kalter, Christoph
Series
Globalgeschichte 9
Published
Frankfurt am Main 2011: Campus Verlag
Extent
567 S.
Price
€ 34,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Esther Möller, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz

Die Verflechtung europäischer und außereuropäischer Regionen und Akteure ist, seit die Herangehensweise der „Verflechtungsgeschichte“ auch für koloniale Fragestellungen entdeckt wurde1, ein vielzitiertes, aber oft nur schwer nachweisbares Paradigma (post)kolonialer Geschichtsschreibung. Die Studie von Christoph Kalter zur Beziehung zwischen Neuer Radikaler Linker in Frankreich, deren Bezug auf die Idee der Dritten Welt und deren Interaktion mit Aktivisten in dieser so genannten Dritten Welt liefert für dieses Paradigma eine empirisch und theoretisch überzeugende Studie.

Kalters These lautet, dass die vielen linken revolutionären Gruppierungen, die in den „langen 1960er Jahren“ (S. 16) in Frankreich entstanden, die er unter dem Begriff „Neue Radikale Linke“ fasst, und das Konzept der Dritten Welt einander bedingten, nicht ohne das andere denkbar waren und sich gegenseitig konstituierten (S. 8f.). Diese These begründet der Autor nicht nur mit der Tatsache, dass beide Phänomene zur gleichen Zeit auftauchten und wieder verschwanden, sondern auch mit den zahlreichen Bezugnahmen der Neuen Radikalen Linken auf die „Dritte Welt“ und mit den vielen Interaktionen zwischen Vertretern dieser Linken in Frankreich und den Repräsentanten revolutionärer Bewegungen in Kuba, Vietnam oder anderen außereuropäischen Ländern. Sein Augenmerk richtet er dabei auf die Sozialwissenschaften in Frankreich, die das Konzept der Dritten Welt in Umlauf brachten, auf die unterschiedlichen Gruppierungen der Neuen Radikalen Linken im Hexagon und ihre Medien sowie auf die Aktivisten antikolonialer Gruppen in „kolonisierten“ Ländern.

In der Einleitung betont Kalter neben seiner konstruktivistischen Grundhaltung (S. 12) auch die Ambivalenz in der Haltung der untersuchten Akteure: So entwickelten die Vertreter von Wissenschaft und Neuer Radikaler Linken einerseits eine neue Wertschätzung für die Gesellschaften der so genannten Dritten Welt, andererseits behielten sie einen eurozentrischen Blick auf sie (S. 11). Auch wenn Kalter den Fokus auf Frankreich gerichtet hat, ist er von der Transnationalität dieser Perspektive überzeugt und deutet an, dass die „Entdeckung der Dritten Welt“ auch für die Sozialwissenschaften und linken Gruppierungen in anderen westlichen Ländern konstitutiv war (S. 9). Abgesehen von einigen einleuchtenden Beispielen, die er für diese Annahme zitiert, bleibt der Bezug auf westliche Akteure außerhalb Frankreichs aber eher kursorisch.

In Kapitel zwei erklärt Kalter die Entstehung des ‚Dritte Welt’-Konzepts aus den Sozialwissenschaften in Frankreich heraus. Ausgehend von den äußeren politischen Faktoren der Dekolonisation, des Kalten Krieges und des wachsenden globalen Wohlstandsgefälles konnte sich, so der Autor, die Vorstellung von sich zu entwickelnden Ländern durchsetzen. Alfred Sauvys Aufsatz von 1952 steht dabei repräsentativ für die ambivalente Haltung der westlichen Wissenschaften gegenüber den (ehemaligen) Kolonien, die gleichzeitig von dem Wunsch nach Integration und von der „Entmündigung“ dieser Länder geprägt war (S. 55). Überzeugend legt der Autor die zentrale Bedeutung der Modernisierungs- und Dependenztheorien für das ‚Drei Welten’-Modell dar (S. 49-52) und benennt auch die Kritik daran, die zu dessen Krise führte (S. 65-69). Das Kapitel schließt mit den Konzepten von Globalisierung und ‚Eine Welt’ sowie „multiple modernities“, die die vorherigen Paradigmen in den 1990er-Jahren ablösten.

Kapitel drei führt in die zentralen Akteure des Buches, die „Neue Radikale Linke“, ein. In Anlehnung an das Modell der „vier linken Familien“ von Michel Winock (S. 82) situiert Kalter die von ihm untersuchte Gruppe im Bereich der „Ultralinken“: Sie zeichneten sich nicht nur durch die Kritik an französischen Sozialisten und Kommunisten aus, denen sie implizit eine koloniale Haltung vorwarfen, sondern auch durch ihre Betonung der Revolution, die sie sowohl für die (ehemalig) kolonisierten Länder als auch für sich selber als politische Lösung und Profilisierungsmöglichkeit zugleich sahen. Die von der „Drillingskrise“ in Ungarn, dem Suez und Algerien im Jahr 1956 geprägte Neue Radikale Linke, die im Französischen in der Regel mit „extrême gauche“ bezeichnet wird (S. 114), weiß Kalter als relevante politische Gruppe einleuchtend vorzustellen.

In Kapitel vier öffnet der Autor eine weitere Dimension imperialer Verflechtungen, indem er den häufigen Vergleich der Neuen Radikalen Linken zwischen antikolonialer Bewegung und Zweitem Weltkrieg analysiert, der zentral für das Selbstverständnis dieser politischen Gruppierungen war. Deren Gedächtnispolitik zeichnete aus, dass sie sich selbst mit der Résistance gegen die Nationalsozialisten gleichsetzten, während sie letztere in den französischen Regierungsvertretern in Algerien und Vietnam sahen. Auf diese Art und Weise kann Kalter nicht nur eine synchrone, sondern auch eine diachrone Verflechtungsgeschichte erzählen.

Kapitel 5 leistet eine weitere Konkretisierung des Themas, mit einer Fallstudie, in der die Argumente und verschiedene Konjunkturen des Dritte Welt-Bezugs der Neuen Radikalen Linken am Beispiel der Zeitschrift „Partisans“ erläutert werden. Diese vom Verlag Maspero herausgegebene Zeitschrift war das wichtigste Medium für französische Linke, die sich in den 1960er-Jahren für die „Dritte Welt“ interessierten. Am Beispiel dieses Organs zeigt Kalter überzeugend das Bemühen um Einbeziehen nicht-europäischer Stimmen („Man wolle den Kolonisierten keine Ratschläge, sondern das Wort erteilen“, S. 221): Fanon und Sartre, aber auch weniger bekannte Intellektuelle aus Frankreich und den (ehemaligen) Kolonien diskutierten hier über Revolution und Gewalt. Dabei kam es auch zu Auseinandersetzungen über Fremd- und Selbstbilder, über Projektionen und Identifikationen am Beispiel einzelner Wortführer der so genannten Dritten Welt. Der Autor kann so deutlich machen, dass auf diese Weise ein geteilter Diskurs über die Dritte Welt entstand – geteilt im doppelten Wortsinne eines gemeinsamen wie auch eines getrennten Diskurses.

Eine weitere Fallstudie wird dem Leser in Kapitel sechs präsentiert, welches den Parti Socialiste Unifié (PSU) und den daraus entstandenen Verein Cedetim zum Thema hat. Stärker als den Vertretern der Zeitschrift „Partisans“ ging es den Aktivisten und Aktivistinnen von PSU und Cedetim um politisches Handeln, womit Kalter neben der diskursiven auch die praktische Ebene beleuchtet. Ihre Orientierung spiegelt die allgemeine Entwicklung der Dritte-Welt-Idee wider, die ab Ende der 1960er-Jahre selbstverständlicher Bestandteil der „internationalen Solidarität“ war. Bei allen Erfolgen von PSU und Cedetim erwähnt Kalter auch ihre Misserfolge und Umorientierungen (beispielsweise die Annäherung an christlich orientierte Bewegungen) und zeichnet so ein erhellendes und differenziertes Bild von den Höhen und Tiefen dieser frühen Phase der Entwicklungsarbeit.

Kapitel 7 liefert die Zusammenfassung und einen Ausblick. Zunächst resümiert der Autor aus der Perspektive der Globalgeschichte seine Ergebnisse, indem er deutlich macht, dass sich die Vertreter der Neuen Radikalen Linken als global handelnde Akteure verstanden und durch ihre Praktiken wie den „politischen Pilgerreisen“ diese Orientierung unterstrichen. Sie nahmen auch die zentralen Antriebskräfte ihrer politischen Gegenwart, nämlich Dekolonisierung, Kalten Krieg und die Wirtschaftsdominanz der westlichen Industrienationen, als globale Faktoren wahr. Auch wenn die Neue Radikale Linke dem dominanten Bild des Ost-West-Konflikts ein tripolares Modell entgegensetzte und die Allianzen der „Drei Welten“ propagierte, sah die politische Realität weitaus komplexer aus, da es viele Deutungskämpfe um Macht und Ohnmacht der Partner oder die richtigen Strategien und Methoden zur Durchsetzung ihrer politischen Ideale gab. Kalter kann nicht nur zeigen, inwiefern die Neue Radikale Linke, die als Phänomen wieder verschwand, in der Dritten-Welt-Bewegung der 1970er- und 1980er-Jahre und der globalisierungskritischen Bewegung seit Mitte der 1990er-Jahre zum Teil fortlebte; mit dem treffenden Satz „Die radikale Linke war Ausdruck eines Übergangs, den sie zugleich vorantrieb“ (S. 492), macht er deutlich, wie sich in dieser Bewegung alte und neue, eurozentrische und europakritische, koloniale und (post)koloniale Denkmuster wiederfanden, die die damaligen Gesellschaften prägten.

Die Studie von Christoph Kalter liefert in mehrerer Hinsicht einen wichtigen Beitrag für die Kolonialhistoriographie, aber auch für die Geschichtswissenschaften allgemein: Ihr gelingt das schwierige Unterfangen, anhand einer bestimmten Gruppe den Einfluss des Kolonialismus und der Kolonien auf die französische „Metropole“ nachzuweisen; trotz seines konstruktivistischen Ansatzes nimmt der Autor die Ideen und Anliegen der politischen Aktivisten ernst und schafft den schwierigen Balanceakt zwischen emphatischer und doch um Objektivität bemühter Analyse dieser hoch aufgeladenen Diskurse; nicht zuletzt arbeitet Kalter ein wichtiges Stück französischer und bis dato unbekannter Zeitgeschichte auf.

Etwas kritischer fällt das Urteil bezüglich des von ihm integrierten Ansatzes der Globalgeschichte aus: Auch wenn Kalter gut begründet, was er unter Globalisierung und Globalgeschichte versteht, wirkt diese Perspektive etwas hinzugefügt und scheint für die Studie eigentlich nicht zwingend notwendig, zumal er selbst ja bewusst die Engführung auf Frankreich wählt. Neben dem schon erwähnten geringen Bezug auf andere westliche Länder, den der Autor nicht bietet, obwohl er dazu eine These formuliert, bleibt zudem fraglich, ob Neue Radikale Linke und Dritte-Welt-Idee wirklich so exklusiv einander konstituierten wie Kalter dies darlegt (z.B. S. 16), oder ob nicht auch andere Kräfte für Neue Radikale Linke einerseits und Dritte-Welt-Konzept andererseits entscheidend waren. Auch wenn er seine These an vielen Beispielen demonstrieren kann, bleibt bei der Leserin die Frage, ob man diese zwei Phänomene so ausschließlich miteinander in Beziehung setzen kann, weil es sich bei dem einen um Menschen und eine politische Bewegung, bei dem anderen laut dem Autor um eine Idee bzw. ein Konzept handelt. Hier erscheint der Ansatz von Vijay Prashad (dessen Buch2 Kalter erwähnt, aber nicht für überzeugend hält) und der von der Dritten Welt auch als einem Projekt bzw. einer Bewegung spricht, eigentlich passender, zumal dieses Verständnis die multiple Genese der Dritten Welt betont. Kalters Verdienst ist es aber auf jeden Fall, einen sehr wichtigen Aspekt dieser Genese, nämlich das in Frankreich bzw. Europa vorherrschende Verständnis dessen, worum es bei der Dritten Welt geht, in seiner historischen Genese herausgearbeitet zu haben. Nicht zuletzt bietet dieses Buch eine willkommene Bereicherung für das aktuelle Interesse an der Geschichte der Entwicklungshilfe3 und ergänzt die aktuellen Studien durch die genaue Analyse der ambivalenten Projektionen und Imaginationen einer Gruppierung, die meinte, „auf der richtigen Seite zu stehen“.

Anmerkungen:
1 Vgl. Conrad / Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002; Cooper / Stoler (Hrsg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997.
2 Prashad, The Darker Nations. A People’s History of the Third World, New York 2008.
3 Vgl. Frey / Kunkel, Writing the History of Development. A Review of the Recent Literature, in: Contemporary European History 20 (2011), S. 215-232; Eckert / Malinowski / Corinna Unger (Hrsg.), Modernizing Missions. Approaches to “Developing” the Non-Western World after 1945 = Journal of Modern European History 8 (2010) 1;Borring Olesen / Pharo / Paaskesen (Hrsg.), Saints and Sinners. Official Development Aid and its Dynamics in a Historical and Comparative Perspective, Oslo 2013.

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28.03.2014
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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