P. Stalder: Pratiques imaginées et images des pratiques plurilingues

Title
Pratiques imaginées et images des pratiques plurilingues. Stratégies de communication dans les réunions en milieu professionnel international


Author(s)
Stalder, Pia
Series
Transversales 27
Published
Extent
401 S.
Price
€ 52,40
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Anna Weirich, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Mit ihrer 2010 veröffentlichten Dissertation (2008 verteidigt am Institut für Französisch der Universität Bern) setzt sich Pia Stalder das Ziel, Kommunikationsstrategien von Mitarbeiter_innen im Rahmen von Arbeitsbesprechungen („Réunions professionnelles“) in internationalen Unternehmen zu identifizieren.
In den Jahren 2002 bis 2004 hat die Autorin hierfür in zwei Pharmakonzernen in Bern und einer humanitären Organisation in Genf ethnographisch geforscht. Alle drei Institutionen sind wesentlich geprägt durch ihr sprachlich und kulturell heterogenes Personal. In insgesamt 49 Interviews hat sie Angestellte dazu befragt, welche individuellen Strategien und Praxen sie im Umgang mit ihrem interkulturellen und mehrsprachigen Umfeld anwenden und hieraus „Repertoires“ an Strategien zusammengestellt. Ergänzt wurden diese Repräsentationen der Akteur_innen (sog. „pratiques imaginées“) durch teilnehmende Beobachtung im Rahmen der Arbeitsbesprechungen, festgehalten in Beobachtungsnotizen, Ton- und Filmaufnahmen. Prämisse für ihr Forschungsinteresse ist, dass kulturelle und sprachliche Diversität besondere Herausforderungen mit sich bringt, die zu bewältigen im Kontext der Arbeitsbesprechungen letztlich in den Händen der Mitarbeiter_innen liegt.
Stalder, die nicht nur Sprachwissenschaftlerin ist, sondern auch in Universitätsdidaktik diplomiert, verfolgt mit ihrer Dissertation den expliziten Anspruch, ihre Erkenntnisse auch in Unternehmen zu tragen und zukünftig im Rahmen von Aus- und Fortbildung fruchtbar werden zu lassen. Mehr noch als ein Bewusstsein für die Herausforderungen von interkulturellen Begegnungen zu schaffen, richtet sie den Blick damit implizit auf die Dezentralisierung von Verantwortung in internationalen Unternehmen. Sie plädiert durch ihre Analyse für eine Anerkennung der Originalität und Effizienz der interkulturellen Alltagsbewältigung von Arbeitnehmer_innen und will gleichzeitig deren Strategien gebündelt für zukünftiges interkulturelles Coaching im Rahmen von Unternehmen zur Verfügung stellen.

Die inklusive Literaturverzeichnis 396 Seiten starke Arbeit gliedert sich in zwei große Teile. Der erste (S. 11-171) stellt Theorien und Methoden, den Kontext der Studie sowie Korpus, Erhebungs- und Analysemethoden vor. Im zweiten Teil erfolgt die empirische Analyse, die sich, entsprechend des Titels des Werks in zwei größere Kapitel teilt: auf die Zusammenstellung und Interpretation der „pratiques imaginées“ (S. 175-242) folgt der Überblick über die im Rahmen der Arbeitstreffen beobachteten Strategien, die „images des pratiques“ sowie deren Kontrastierung mit den zuvor herausgearbeiteten Strategien (S. 243-352).
Stalders Theoriebildung ist in hohem Maße gegenstandsbezogen. Sie kombiniert in einem „bricolage conceptuel“ etablierte Konzepte aus Ethnomethodologie, Pragmatik, Management interkultureller Beziehungen und Soziologie mit den in ihren Interviews gewonnenen Daten. Hierauf aufbauend entwickelt sie einen konzeptuellen Rahmen von Kommunikation und Kultur in Unternehmen und internationalen Arbeitskontexten im Allgemeinen und schlägt von hier schließlich den Bogen zurück zum sozialen und sprachlichen Kontext der von ihr untersuchten Arbeitsbesprechungen sowie zu den Forschungsmethoden. Kultur versteht sie nicht nur als Teil des Hintergrundes der Mitarbeiter_innen, sondern auch als Bündel an dynamischen und sich wandelnden Handlungsroutinen und -normen, die in regelmäßig zusammenarbeitenden Gruppen entstehen. Kommunikation und Sprache sind im nach Winkin/Goffman orchestral verstandenen Sinne sowohl Teil dieser Kultur, als auch ein Medium der Herstellung menschlicher Beziehungen und von Identifizierungsprozessen. Das für die Analyse weiterhin entscheidende Kommunikationsmodell von Thuns erlaubt ihr darüber hinaus, auch non-verbale Aspekte in ihre Interpretation der Dynamik von Interaktion zu berücksichtigen.
Von entscheidendem heuristischen Wert ist ihre Theoretisierung der Arbeitsbesprechungen als micro-sociétés, die einerseits wesentlich von Individuen organisiert werden, andererseits aber deren Verhalten auch strukturieren. Diese Antwort auf die Ur-Frage von Gesellschaftsanalyse nach dem Verhältnis von Struktur und Handlung erweist sich für den vorliegenden Gegenstand als fruchtbar, insofern sie in ihrer Synthese feststellt, dass die Anwendung verschiedener kommunikativer Strategien und deren Funktion insbesondere vom Kontext, d.h. der Geschichte und der Strukturierung und Routinisierung der Arbeitsbesprechungen abhängt sowie von der Rolle der Mitarbeiter_innen. Während sie in diesem Sinne Praktiken, Bourdieu folgend, als sozial hergestellte, meist unbewusste Handlungsmuster (bzw. Habitus) sieht, sind die von ihr herausgearbeiteten Strategien Resultat der individuellen Optionen des Umgangs mit einem vorstrukturierten Kontext, der Nutzung des Handlungsspielraums zum Erreichen persönlicher und gemeinsamer Zwecke und gegebenenfalls der Veränderung der strukturellen Bedingungen (S. 105-111).

Die pratiques imaginées, welche von Stalder aus den leitfadenbasierten biographischen Interviews extrahiert und nach Unternehmenszugehörigkeit der formulierenden Interviewpartner_innen zusammenstellt, tragen in ihrer Vielfalt der Komplexität menschlicher Interaktion in Arbeitskontexten Rechnung: sie unterscheiden sich sowohl im Grad der Abstraktion und Reflexion als auch in Zielsetzung und Orientierungspunkt. Das Repertoire ist somit illustrativ für die komplexen Anforderungen und Dynamiken des kommunikationsbasierten Arbeitens in interkulturellen Kontexten. So verweisen die unter „Différents status et différents rôles“ subsumierten Strategien (S.181-85) auf die ganzheitlicheren Versuche der Befragten, soziale Hierarchien zu durchschauen und sich ihnen anzupassen. Als konkrete Mittel hierzu sehen die Proband_innen Vorsichtigkeit und Sensibilität, wie auch die Berücksichtigung der semantischen Uneindeutigkeit von Äußerungen, d.h. die Varianz der Interpretationen (S. 182-194). Dass es in den micro-sociétés aber auch um Aushandlungsprozesse von Rollen und Identitäten geht, wird an Hand von Strategien der Selbstbehauptung deutlich, wie „marquer le territoire“, „recul“, „évitement“ oder die Verwendung von Sprache als „Waffe“ (S. 226-9), insbesondere der eigenen L1 gegenüber L2-Sprecher_innen. Unverkennbar koexistieren sowohl in den individuellen wie auch im von Stalder erarbeiteten Gesamtrepertoire kooperative, empathische Strategien mit jenen der Konkurrenz und des Kampfes, wie auch mit solchen, die das Gesamtprojekt befördern wollen und hierzu die Interaktion in den Vordergrund rücken („chercher la formule“ (S. 202f), „team the team“ (S. 206f), „le postulat d’une langue neutre“ (S. 230f)). Von besonderer Bedeutung sowohl für die Praktiken der Forschungssubjekte wie auch die didaktische Verwertung und künftig anknüpfende Forschung ist das immense durch die Reflexion hervorgebrachte metasprachliche Wissen, das in einem mehrsprachigen Arbeitskontext entsteht (S.213-231) – seien es wissenschaftlich trivial erscheinende, aber alltagspraktisch entscheidende Details, wie die Einsicht in die Notwendigkeit, ausreichend laut und deutlich, oder bei internationalen Telefonkonferenzen nicht mit vollem Mund zu sprechen (S. 217f), oder subtile Bewertungsmechanismen unterschiedlicher Varietäten und Register (S. 218f), zumal bei Kommunikation zwischen L1- und L2-Sprecher_innen. In besonderem Maße gilt dies für das bereits erwähnte Wissen um die Erkenntnisse der Pragmatik, d.h. der Interpretationsleistung, durch die Bedeutung in interpersonellen Beziehungen erst entsteht.
Während durch die pratiques imaginées vor allem das interkulturelle, metasprachliche und pragmatische Wissen der Interviewten zum Ausdruck kommt, werden durch die Analyse der Beobachtungsdaten im zweiten Teil die Kommunikationsstrategien und ihre Effekte erkennbar. Ihren Fokus richtet Stalder dabei auf Codewechsel, metadiskursive Interventionen, Humor sowie übersprachliche Aspekte der Proxematik und Gestik, wozu sie neben den Transkriptionen auch das Bildmaterial analysiert und zur Herstellung von „regards croisés“ mit Belegen aus den Interviews kombiniert.
Die Stärke dieser Analyse liegt darin, dass die Autorin, insofern sie die Strategien der Beteiligten als Aushandlungsprozesse begreift, es schafft, die Dynamik von Kommunikation und Lernprozessen aufzuzeigen, indem sie an ausgewählten Gesprächssituationen zeigt, wie das Arbeitstreffen und die Konstitution seiner Sozialstruktur durch die Handlungsstrategien der Beteiligten erfolgen. Sie beobachtet das Entstehen von Interkulturen, die sich unter bestimmten Bedingungen zu Kulturen verfestigen können, die schließlich Handlungen, Erwartungen und Bewusstsein normieren und verstetigen.

Durch häufige und präzise auf andere Stellen der Arbeit verweisende Vor- und Rückbezüge, In-Erinnerung-Rufen von Ziel- und Aufgabenstellung sowie die Synthesen am Ende eines jeden Kapitels ermöglicht die Autorin eine (in Anbetracht der Komplexität des Gegenstandes) maximale Klarheit und erlaubt es, je nach Bedarf, einzelne Stellen herauszugreifen, zu lesen und zu verstehen. Sie schreckt dabei nicht davor zurück, die unterschiedliche Relevanz einzelner Stellen einzugestehen und klar zu markieren. Insbesondere im zweiten Kapitel des zweiten Teils, wo sie die im Rahmen der Arbeitsbesprechungen beobachteten Strategien zusammenträgt, schafft sie es dabei, sowohl eine Detailanalyse der einzelnen Situationen vorzunehmen, als auch komplexitätsreduzierende Interpretationen und Schlussfolgerungen bereitzustellen.

Die Autorin selbst betont mit Recht die Innovativität der Interpretation, insofern sie Auto- und Hetero-Analyse kombiniere, d.h. einerseits die Reflexion der Forschungssubjekte über die eigenen Strategien und deren Relativierung sowie die Analyse des Verhältnisses zu anderen Akteur_innen, welche erst Kommunikationsmechanismen zu verstehen erlaube. Die Interviews werden dabei als Bewusstwerdungsprozess verstanden, durch die Praxen und Strategien erst didaktisch vermittelbar würden (S. 361). Eine Verknüpfung der images und der pratiques findet in der vorliegenden Arbeit nur statt, indem die vorgestellten Praktiken mit den beobachteten Praktiken kontrastiert werden. In einem Schritt darüber hinaus wäre es naheliegend, die Funktion der Repräsentation stärker in den Blick zu nehmen und innerhalb des wertvollen Datenkorpus Differenzen und Korrespondenzen mit den Praktiken auch auf ihre Funktion hin zu analysieren.
Stalder arbeitet auch Widersprüche innerhalb der Repräsentationen heraus, die z.B. mittels diskursanalytischer Verfahren zu analysieren wären. Beispielhaft genannt werden kann die individualistische und binäre ego-alter-Perspektive der meisten Befragten auf ihre Arbeits- und Kommunikationsbeziehungen („Les représentations véhiculent plutôt une perspective d'’ego’ sur sa relation avec ‚alter’ et moins un regard sur l'interaction et ces processus complexes de coordination mutuelle des contributions de tous les ‚musiciens’ de l'’orchestre’, S. 232) bei gleichzeitigem Postulat der Notwendigkeit von Team-Bildungs-Maßnahmen. Mit einer ideologiekritischen Perspektive könnte hier berücksichtigt werden, wie vor allem in kommunikationsbasierten Branchen die Verlagerung von Verantwortung auf die Arbeitnehmer_innen bei gleichzeitig steigendem Leistungsdruck systematisch erfolgt und somit letztendlich die Überwindung von oder das Scheitern an den Widersprüchen von Konkurrenz und Kooperativität individualisiert wird. Eine solche Analyse würde dann auch die epistemische Basis für die mutige und entschieden positiv hervorzuhebende engagierte Position Stalders liefern, wenn es um die Formulierung von Idealen und Ansprüche an zwischenmenschlichen Umgang auch im Arbeitskontext geht sowie das Einfordern von Empathie, Respekt und Toleranz (z.B. S. 81 oder 348).
Die Autorin selbst liefert zahlreiche Ansatzpunkte für eine solch kritische Analyse der (Re-)Produktion von Hierarchien im Arbeitskontext, die im Rahmen der vorliegenden Dissertation nur als individuell kompetitives Verhalten eingeordnet werden (können). Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang der „Reflexion“ und Bewusstwerdungsprozessen zu – sehr fruchtbar sind deswegen die aufgedeckten „metadiskursiven Strategien“, mit denen Leute sich erklären und damit letztendlich dezentrieren und andere Menschen verstehen können (S. 346). Hiermit arbeitet die Autorin eine mögliche Basis heraus, auf der ein solidarischer Umgang unter Kolleg_innen insbesondere in einem mehrsprachigen Umfeld erst möglich werden kann.

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11.05.2012
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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