A. Ga̜sior u.a. (Hrsg.): Post-Panslavismus

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Title
Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert


Editor(s)
Ga̜sior, Agnieszka; Karl, Lars; Troebst, Stefan
Series
Moderne europäische Geschichte 9
Published
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Extent
488 S.
Price
€ 48,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Frank Golczewski, Universität Hamburg

Inwiefern der Panslavismus im 19. Jahrhundert tatsächlich ein funktionierendes politisches Programm war, darüber kann man streiten. Die Organisatoren des Slavenkongresses 1848 mochten das autokratische Russland nicht, russische Politiker verwendeten es auf dem Balkan und gegen Österreich primär, um eigene imperialistische Ziele zu rationalisieren, alle Versuche, mehr als ein slavisches Volk in einem nicht-imperialen Staat zusammenzufassen, sind gescheitert. Als gegnerisches Gespenst taugte er aber allemal, um analoge antislavische Bestrebungen zu rechtfertigen. Zur Gruppenbildung wurde er auch kurzfristig durch die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg wiederbelebt, nur um bereits 1948 im Zuge des Bruchs mit Tito endgültig begraben und auf eine Randrolle im Pandämonium rechtsradikaler Spinnereien im postkommunistischen Europa beschränkt zu werden.

Blieb etwas davon wirksam oder was kam dann? Das ist die zentrale, so aber nicht ausdrücklich gestellte Frage des vorliegenden Bandes, der das Ergebnis eines interdisziplinären Projekts am GWZO Leipzig in den Jahren 2011/13 ist. Die sehr unterschiedlichen, kein schlüssiges Resümee gestattenden (und auch nicht wirklich anstrebenden) Beiträge sind jeder für sich lesenswert, ergeben aber keine Erkenntnisse darüber, ob etwas von dem Gedanken, die Slaven in ihrem Zusammenhang oder ihrer „Wechselseitigkeit“ zu sehen in Zeiten des pol-nisch-russischen oder kroatisch-serbischen Gegensatzes erhalten geblieben ist.

Doch – an einem Beispiel kann man so etwas erahnen: In dem interessanten Bei-trag von Jenny Alwart über den Eurovision Song Contest wird thematisiert, dass 2007 Marija Šerifovićs serbisch gesungenes Lied „Molitva“ von allen jugoslavischen Nachfolgestaaten jeweils 12 Punkte erhielt und die „fortschrittliche“ „westliche“ Presse prompt vom „Schummel-Osten“ faselte, wo vermutlich eben doch eine kulturelle Nachbarschaft (neben der unumstrittenen Qualität des Liedes und der Interpretin) den Ausschlag gaben.

Stefan Troebst schreibt gleich zu Beginn, dass der von dem russischen Innenminister Petr Valuev 1876 als „slavophile Masturbation“ (S. 21) verhöhnte Panslavismus weder im 20. noch gar im 21. Jahrhundert erfolgreich wiederbelebt werden konnte. Sein Beitrag über den Slavenkongress in Belgrad 1946, den letzten „offiziellen“ Versuch, Slaventum politisch umzusetzen, zeigt über seltsam anachronistische Worthülsen hinaus keine Substanz dieses so bald wieder verworfenen und in einer ebenfalls nur propagandistischen „Völkerfreundschaft“ aufgelösten Gedankens. In diesen Kontext gehört auch der Beitrag von Jan Claas Behrends über die Revitalisierung des slavischen Gedankens im Zweiten Weltkrieg: Hier wird die Funktionalisierung als Mobilisierungsfaktor betont, aber kaum darauf eingegangen, dass es sich – wie in der Wiedereinführung zarischer Militärtraditionen – um einen Regressionsakt aus der unangenehmen Einsicht heraus handelte, dass nur diese Elemente die Sowjetbürger zu mobilisieren imstande waren.

Die meisten Beiträge demonstrieren daher auch, warum jenseits von punktuellen Rückgriffen und theoretischen Überlegungen in der Praxis nach dem 19. Jahrhundert nicht von Panslavismus die Rede sein kann. Alexander Maxwell zeigt anschaulich, warum Jan Kollárs Idee der „slavischen Wechselseitigkeit“, der engen Verbindung der von ihm angenommenen vier slavischen „Stämme“, schon in der kleinen Tschechoslowakei, wo Tschechen und Slowaken tatsächlich miteinander problemlos kommunizieren konnten, in der Zwischenkriegszeit und dann noch einmal 1992 gescheitert ist. David Williams meint, die Slavic Studies in der anglo-amerikanischen Wissenschaft (in Europa war die Situation etwas anders) seien durch den Kalten Krieg zusammengehalten worden und nach seinem Ende zerbröselt. Hier könnte man hinzufügen, dass dies in Europa ähnlich ist, wo die „Vollslavistik“ an den Universitäten weitgehend durch auf Einzelnationen reduzierte Studiengänge (Russistik, Polonistik, Ukrainistik etc.) verdrängt wurde. Diese Überlebensfähigkeit der kleinteiligen Sichtweise wird in dem glänzenden Beitrag von Jovo Babić deutlich, der für Titos Staat nicht etwa den Jugoslavismus früherer Zeiten, sondern einen Bund gleichberechtigter Einzelnationen als Ziel entdeckt.

So ist auch in den anderen Beiträgen mehr vom Scheitern als vom Erfolg panslavistischen Denkens die Rede: Die Kunst Zofia Stryjeńskas, über die Agnieszka Gąsior schreibt, und der Gruppe Rytm verstand sich zwar als progressiv, war aber eher folkloristisch und erntete Kritik der Avantgarde. Erfolgreich war der Neo-Panslavismus nur als zu kontextualisierendes fiktives Element: Ob in der Verbindung mit dem Sowjet-Kommunismus, den nun alle slavischen Staaten bekannten, ob als Vorbild für den gleichermaßen wenig erfolgreichen Panturkismus, ob als dankbar in beiden Richtungen verwendbares Klischee für den bei den Deutschen angenommenen „Drang nach Osten“. Nicht einmal die drei ostslavischen Völker bekommt man mehr unwidersprochen unter einen Hut, und die wiedererfundenen Kosaken passen weder in ihren historischen noch in den aktuellen Kontext.

Einen weiterführenden Aspekt trägt der Beitrag von Rüdiger Ritter in das Tableau hinein: Im historisch-litauischen Dreieck der nationalistischen Separation von Litauern, Polen und Weißrussen erkennt er (wenigstens in der Musikwissenschaft) die Entwicklung hin zu einer „Kultur der Region“, in der die Einzelzuordnung endlich zu verschwimmen scheint und die über die Sprachgruppen hinausreichenden Zusammenhänge mehr Bedeutung erhalten. Dies wäre dann tatsächlich die Überwindung der nationalen Vereinzelung und der sprachverwandten Gruppenbildung.

Diese postnationale Sicht, die der pränationalistischen historischen Situation der von Ritter behandelten Komponisten gerecht wird, kommt dem Titel des Sammelbandes am nächsten. Viele andere Befunde – von den naturgemäß nicht behandelten politischen Entwicklungen der letzten Jahre ganz zu schweigen – suggerieren jedoch noch kein Ende des „nationalen Zeitalters“, auch wenn „pan“-Gedanken bestenfalls in russischen Träumen eine neuerlich imperialistische Rolle spielen.

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Published on
13.01.2017
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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