F. Klose u.a. (Hrsg.): Humanity

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Title
Humanity. A History of European Concepts in Practice from the 16th Century to the Present


Editor(s)
Klose, Fabian; Thulin, Mirjam
Series
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz – Beihefte 110
Published
Göttingen 2016: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
324 S.
Price
€ 75,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Benjamin Möckel, Historisches Institut, Universität zu Köln

Man kann sich kleinere Ziele setzen: Fabian Klose und Mirjam Thulin unternehmen in dem vorliegenden Sammelband den Versuch, die Geschichte des Begriffs „Humanity“ vom 16. Jahrhundert bis in die (unmittelbare) Gegenwart zu verfolgen. Die Autoren setzen zwei Schwerpunkte, die eine Erweiterung der bisherigen Forschungsdiskussion darstellen. Erstens grenzen sie sich von einer reinen Begriffsgeschichte ab und wollen stattdessen unter dem Schlagwort „concepts in practice“ die politische Implementierung und soziale Praxis um den Begriff in den Mittelpunkt stellen.1 Zweitens nimmt der Band eine bewusst lange zeitliche Perspektive ein, die aktuelle Deutungsangebote hinterfragt, welche den Begriff vor allem im „Zeitalter der Extreme“ und dem Spannungsfeld zwischen radikalisierten Menschheitsverbrechen und einer globalisierter Moral und Empathie verortet haben.2 Eine dritte Fragestellung, die bei dem Themenfeld unmittelbar ins Auge springt, umschifft der Band geschickt: Zwar werden explizit europäische Vorstellungen und Deutungsmuster untersucht, hieraus aber nicht die These abgeleitet, dass es sich bei dem Begriff „humanity“ um ein rein europäisches oder westliches Konzept handele. Deutlich wird vielmehr an vielen Stellen, dass der Begriff in Europa in enger Abhängigkeit zur imperialen Expansion und globalen Austausch an Kontur gewonnen hat.

„Humanity“ ist als Begriff notorisch schwer zu übersetzen. Der Band verweist an mehreren Stellen auf drei zu unterscheidende Deutungsebenen: eine „ontologische“, die sich auf eine vermeintliche Natur des Menschen und bestimmte unhintergehbare Eigenschaften bezieht, eine „universelle“, die auf die Gesamtheit der Menschen als „Menschheit“ verweist, und eine „ethische“, mit der menschliche Eigenschaften der Empathie und des Mitgefühls markiert werden sollen. Im Deutschen spiegelt sich diese Spannung in der doppelten Begrifflichkeit von „Menschheit“ und „Menschlichkeit“. Systematisch unterschieden werden die drei Bedeutungsebenen in den meisten Beiträgen jedoch nicht – und das vermutlich mit Recht, weil es gerade zum Kern des Konzepts und zu dessen Attraktivität gehört, dass die drei Bedeutungseben immer wieder amalgamiert oder bewusst unklar gehalten wurden.

Den konzeptionellen Kern des Bandes bilden die Einleitung der Herausgeber/innen, ein zusammenfassender Abschlussbeitrag von Johannes Paulmann sowie zwei exzellente ideengeschichtlichen Aufsätze von Francisco Bethencourt und Paul Betts. Während Bethencourt die sich wandelnden Abgrenzungen, Trennlinien und Hierarchien der Konzepte von „Humanity“ bis in die Vormoderne, Antike (und im Zweifelsfall noch etwas weiter zurück) verfolgt, zeichnet Betts die „language of humanity“ (S. 64) im Kontext der politischen Brüche des 20. Jahrhunderts nach. Drei Kernthesen lassen sich aus diesen vier Beiträgen herausarbeiten: Zum einen wird wiederkehrend die Volatilität und historische Wandelbarkeit des Konzepts betont. Wer zur Menschheit gehört, welche Eigenschaften die „menschliche Natur“ ausmachen und worin sich Verletzungen einer universalen Menschlichkeit ausdrücken, war in den vergangenen Jahrhunderten tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. Zweitens wird deutlich, dass der Begriff „Humanity“ keineswegs allein auf Gleichheit und Harmonie verweist, sondern in seiner konkreten Implementierung Unterschiede und Hierarchien auch verhärten oder sogar erst konstituieren konnte. Die dritte Leitlinie bildet der Verweis auf Antinomien und begriffliche Abgrenzungen: Konzepte von Menschheit und Menschlichkeit erhielten ihre konzeptionelle Substanz demnach vor allen Dingen in Hinblick auf Phänomene, die als unmenschlich, als „Crimes against Humanity“ oder als der menschlichen Natur widersprechend gedeutet wurden.

Die weiteren inhaltlichen Beiträge sind in drei Abschnitte geteilt, die jedoch keine allzu trennscharfe Abgrenzung darstellen. Der erste Abschnitt (Part II) beschäftigt sich mit Konzepten von Moral und Menschenwürde und setzt einen Schwerpunkt auf religiöse Konzepte und deren Wandel im Kontext kolonialer Expansion und einer Modernisierung der europäischen Gesellschaften. Die Themen reichen vom Menschheitskonzept bei Erasmus von Rotterdam (Mihai-D. Grigore) über die Kontroversen bezüglich der Anerkennung des menschlichen Status der Ureinwohner Nordamerikas (Mariano Delgado), der Verwendung des Begriffsfeldes in protestantischen Missionen des 19. Jahrhunderts (Judith Becker) bis zur Begriffsgeschichte von „Menschenwürde“ als eines Kernkonzepts der katholischen Kirche nach 1945 (Robert Brier).

Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit den Themenfeldern Humanitarismus, Völkerrecht und Gewalt. Die empirischen Studien verweisen auf die spanischen Diskurse zur Abschaffung der Sklaverei (Thomas Weller), die Überführung des britischen Abolitionismus von einer moralischen Forderung zu einer politisch-völkerrechtliche Norm (Fabian Klose), die Ausformulierung des Konzepts der „Crimes Against Humanity“ als Kategorie des Völkerrechts seit der Jahrhundertwende (Kerstin von Lingen) sowie die Aufnahme des Begriffs „Humanity“ als eines der sieben Grundprinzipien des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes in den 1960er-Jahren (Esther Möller).

Der dritte – leider etwas fragmentarisch bleibende – Teil beschäftigt sich mit Praktiken der karitativen Hilfe, der Philanthropie und der Solidarität. Joachim Berger verweist in einem konzeptionell sehr anregenden Beitrag auf die Debatten über „Humanity“ in den europäischen Freimaurerbewegungen. Ebenso überzeugend ist Katharina Stornigs Beitrag zu katholischen Hilfsorganisationen für (Waisen-)Kinder in Afrika und Asien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in dem die Hierarchien und Ausgrenzungen der „language of humanity“ besonders eindrucksvoll zum Ausdruck kommen. Der letzte Beitrag des Abschnitts über die Verwendung des Begriffs der „Unitiy of the Human Family“ innerhalb der Katholischen Kirche bleibt leider äußerst deskriptiv. Hier hätte man gerne mehr über die strategischen Ziele hinter dieser neuen Begriffsschöpfung erfahren – ähnlich wie dies Peter Brier weiter oben sehr überzeugend für den Begriff der Menschenwürde aufgezeigt hat.

Vollständigkeit darf man von einem thematisch und zeitlich so breit angelegten Band nicht erwarten. Die hiermit verbundene Perspektiverweiterung wiegt dies bei Weitem auf. Gerade für die Forschungsfelder Humanitarismus, Menschenrechte und Philanthropie, die in den letzten Jahren durch eine starke Segmentierung geprägt waren, ist das Wagnis nur zu befürworten, nach Konzepten zu suchen, die Brücken zwischen den einzelnen Subdisziplinen bauen können. Statt Leerstellen zu benennen ist daher die Frage entscheidender, wie relevant und anschlussfähig die Ergebnisse des Bandes für die zentralen Forschungsdebatten sind, die aktuell in diesen Forschungsfeldern geführt werden.

Evident erscheinen die Verbindungen zwischen Humanitarismus und Imperialismus, die einen roten Faden des gesamten Bandes darstellen. Die Ambivalenz zwischen Universalismus und einer Konstruktion von Grenzen, Unterschieden und Hierarchien, die dem Begriff „Humanity“ eigen war, bietet wichtige Anknüpfungspunkte für dieses Spannungsverhältnis. Das gilt ebenso für das Verhältnis von Religion und Humanitarismus. Auch hier trägt der Sammelband zahlreiche Erkenntnisse dazu bei, wie ursprünglich religiös fundierte Konzepte in moralische, politische oder rechtliche Kategorien transformiert wurden, zum Teil aber auch im 20. Jahrhundert wieder religiöse Konnotationen annehmen konnten. Gerade in diesem Feld würde ein dezidiert globalgeschichtlicher Blick noch weiterführende Perspektiven eröffnen.

Zwei weitere Themenfelder hätten sich darüber hinaus für eine tiefergehende Beschäftigung angeboten: Das gilt insbesondere für die Bedeutung von Wissenschaft und Wissensregimen für Konzepte von „Humanity“. Anthropologie, Ethnologie und das Wissensregime des Rassismus tauchen an einigen Stellen des Bandes auf, hätten aber eine systematischere Betrachtung gerechtfertigt. Und auch für das 20. Jahrhundert bleiben demographisches Wissen und statistische Datenerhebungen vom Bevölkerungswachstum bis zum Human Development Index ein zentrales Feld, in dem „Humanity“ zugleich als Begriff der Vereinheitlichung und als Mittel der Betonung von Hierarchien und Unterschieden benutzt wird. Zweitens hätte eine genauere Betrachtung ökonomischer Entwicklungsstrukturen vielversprechende Perspektiven eröffnet. Eine sich globalisierende Ökonomie scheint in ganz analoger Weise eine Spannung aus proklamierter Gleichheit und Gemeinsamkeit bei gleichzeitiger Perpetuierung fundamentaler Unterschiede zu produzieren. Welche Rolle die Vorstellungen einer sich globalisierenden Welt und Ökonomie spätestens seit dem 19. Jahrhundert für Konzepte von „Humanity“ spielten, hätte daher eine vielversprechende Untersuchungsperspektive dargestellt.

Insgesamt bildet der Band einen überzeugenden Beitrag zu aktuellen Diskussionen über die langen Traditionslinien europäischer Humanitarismen. Zugleich lässt er den/die Leser/in etwas desillusioniert zurück in Hinblick auf die Frage, ob es wirklich hilft, auf aktuelle Krisen und humanitäre Katastrophen mit dem Ruf nach gemeinsamer Menschlichkeit zu antworten.

Anmerkungen:
1 Inwiefern sich dieser Ansatz von einem diskursgeschichtlichen Zugriff unterscheidet, wird in der Einleitung leider nicht diskutiert, zumal mit Didier Fassins Ansatz, Humanitarismus als eine „mode of governing“ zu verstehen, durchaus ein anschlussfähiges Konzept existiert. Vgl. Didier Fassin, Humanitarian Reason. A Moral History of the Present, Berkeley 2011. Siehe auch den Beitrag von Johannes Paulmann im vorliegenden Band, der auf Fassins Konzept eingeht (S. 304f.).
2 Bruce Mazlish, The Idea of Humanity in a Global Era, New York 2009; Jonathan Glover, Humanity. A Moral History of the Twentieth Century, New Have 2000.

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14.11.2017
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