T. Bennett: Pasts Beyond Memory

Cover
Title
Pasts Beyond Memory. Evolution, Museums, Colonialism, Museums Meanings


Author(s)
Bennett, Tony
Published
London 2004: Taylor & Francis
Extent
233 S.
Price
$30.95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Alke Hollwedel, Frankreich-Zentrum am Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Die ambivalenten Erwartungen an eine Aufarbeitung der Kolonialgeschichte spiegeln sich derzeit in der Reaktion der Presse auf die ausgeblendeten Konflikte zwischen Indianern und Einwanderern im neu eröffneten National Museum of the American Indian in Washington. 1 Auslöser der Debatte ist der unstrittige Anspruch, dass Museen ein Schlüssel zum Verständnis von Geschichte und Geschichtsschreibung, wissenschaftlicher Erkenntnisse und gesellschaftspolitischer Verhältnisse sein können. Um neue Perspektiven für zeitgemäße Museen zu entwickeln, ist eine kritische museumshistorische Aufarbeitung der komplexen Zusammenhänge von Kolonialismus und Evolutionstheorie unverzichtbar. Dieser Aufgabe stellt sich Tony Bennett mit seinem Buch Pasts beyond memory. Evolution, Museums, Colonialism.

Die Publikation richtet sich vor allem an ein wissenschaftliches Fachpublikum und wird in der von Eilean Hooper-Greenhill und Flora E. S. Kaplan bei Routledge herausgegebenen Reihe Museum Meanings verlegt. Bennetts Ansatz entspricht deren Programmatik, Museen als Symbol der westlichen Gesellschaft zu untersuchen, und schließt an den vorausgehenden Sammelband Colonialism and the Object. Empire, Material Culture and the Museum an. 2 Tony Bennett ist Professor für Soziologie an der Open University und Direktor am ESRC Research Centre on Socio-cultural Change der Manchester Business School, und dass er mit der postkolonialen Museumsgeschichte bestens vertraut ist, hat er bereits mit seiner herausragenden Arbeit The Birth of the Museum gezeigt. 3

In seiner neuen Museumsstudie vergleicht er evolutionsgeschichtliche Konzepte britischer, nordamerikanischer und australischer Institutionen und macht die gesellschaftspolitische Brisanz von Museumskonzepten bewusst. Die postdarwinistischen Museumsreformen Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts werden in Beziehung zum Liberalismus und den neuen Wissenschaften gesetzt. Anthropologie, Archäologie, Geologie, Naturgeschichte und Paläontologie ermöglichten anhand historischer Fragmente Vergangenheit zu rekonstruieren und Artefakte als Quelle historischer Ereignisse zu lesen (S. 39ff.). Damit machten sie die spätviktorianischen Kulturkonzepte der panoptischen Zeit und des anachronistischen Raums obsolet (S. 25). Für Bennett stellt das den Anfang eines modernen Museumsethos dar, dem er in sieben Kapiteln nachgeht (S. 34f.).

In den ersten drei Kapiteln werden zunächst evolutionsgeschichtliche Museumskonzepte historisch verortet, dann die Wechselwirkungen zwischen historischen Wissenschaften und Museen nachgezeichnet und schließlich wird die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Museumspraxis aufgezeigt. Auf dieser Grundlage werden von Kapitel vier bis sechs nacheinander die Rolle und politische Funktion von Museen in England, den Vereinigten Staaten und Australien untersucht. Abschließend werden die verschiedenen Vermittlungsmodelle von Ausstellungen insbesondere das Zusammenspiel von Dingen, Texten und Bildern verglichen.

Von ideologiekritischen Ansätzen, die untersuchen, wie das Museum Macht reproduziert oder legitimiert, grenzt sich Bennett bewusst ab (S. 5). Er will die politische Rolle der Museen im Staatsgefüge nicht als sekundär, sondern als unmittelbar wirksam verstanden wissen. Folglich analysiert er, wie die Institution Autoritäten konstituiert und baut die Untersuchung auf Michel Foucaults Herrschaftstheorie auf, die seit den 1990er Jahren eine feste Bezugsgröße für theoretische Museumsabhandlungen ist. 4 Bennetts Lesart des Museums als wirksames gesellschaftspolitisches Konstituens birgt die Gefahr, eine diffizilere Sichtweise aufzugeben, wie sie in Foucaults Beschreibung des Museums als Heterotopie, die das in Gesellschaftsordnungen Ausgegrenzte präsent hält, angelegt ist. 5

Die Stärken von Bennetts Ansatz liegen in der interdisziplinären Auswertung der Forschung, so zur Soziologie und Wissenschaftsgeschichte von Bruno Latour und Adrian Desmond, einer Kompilation von Museumsstudien, wie sie Sally Gregory Kohlstedt für Amerika und D. J. Mulvaney für Australien vorgelegt haben, sowie in der kritischen Relektüre der Quellen in Bezug auf pointierte Fallstudien wie die des British Museum, des American Museum of Natural History in New York, des Australian Museum in Sydney und des National Museum of Victoria in Melbourne. Die unterschiedlichen Typen wie naturgeschichtliche oder anthropologische Museen werden unter der Bezeichnung „evolutionary museum“ gefasst. Der Begriff verschließt sich einer präzisen Definition, gewinnt aber im Verlauf der Lektüre durch die Interpretationen als „Gedächtnismaschine“ und „progressiver ethischer Apparat“ an Kontur (S. 4f., S. 111, S. 187).

Bereits im Titel kündigt sich die zentrale These an: Evolutionsmuseen konstruieren Vergangenheiten jenseits der Erinnerung, die einerseits aus Gesellschaftsordnungen resultieren und anderseits als Gesellschaftsstrukturen fungieren (Vgl. S. 11). Bennett nimmt den Zusammenhang zwischen Ausstellungstaxonomien und Regierungspraktiken als gegeben an und belegt direkte Verbindungen zwischen Museumspraxis und Politik. Typologien z. B. würden in musealen Systematiken zur Klassifikation von Gesellschaften angewandt, dienten aber auch dazu, Kolonialismus zu legitimieren (S. 71). Museumsreformkonzepte hätten mit ihren Vorstellungen von Statistik, Hygiene und Bildung das Bewusstsein für politische Selbstbestimmung gestärkt, das bezeichnend für den Liberalismus sei (34f.). Demzufolge plädiert er dafür, Museen als Statement einer Gesellschaftsordnung zu verstehen und resümiert, dass sie in Prozessen sozialer Differenzierung eine Schlüsselrolle gespielt haben und weiter spielen werden (S. 188).

Im Fokus seines Interesses steht dabei der von ihm so genannte archäologische Blick (archaeological gaze), den er nicht nur als System zur hierarchischen Klassifizierung der Rassen, sondern auch als Basis für Regierungskonzepte erklärt (S. 7, S. 36ff.). Die archäologische Grundlegung des modernen Selbst ermöglichte die Abkehr vom Gegenbild des Wilden bzw. Primitiven, indem sie sich als Form eines verinnerlichten Anderen konstituierte (S. 95). Bennett betont die Rolle der Kultur in der Architektur des Selbst und fächert deren Facetten in einem kontrapunktischen Ländervergleich auf.

In den Vereinigten Staaten seien Museen Teil des öffentlichen Bildungssystems und die eigene Anschauung groß geschrieben worden (S. 127). Im Unterschied zu England hätten amerikanische Museen stärker zu eugenischen Programmen tendiert (S. 8). Hier problematisiert Bennett insbesondere den Dualismus von Natur- und Kulturvölkern und beleuchtet die Neuinterpretation der Immigranten als Repräsentanten des Anderen (S. 132, S. 124). Kritisch setzt er sich mit der Präsentation der Aborigineskultur in australischen Museen auseinander und stellt fest, dass dort Evolutionserzählungen favorisiert wurden, solange Australien vom Reformimpetus des neuen Liberalismus isoliert blieb (S. 152ff., S. 146). Für England sei eine okularzentrierte und objektbasierte Pädagogik charakteristisch (S. 160). Eben darin liegt nach seiner Ansicht die Hauptstärke des Museums (S. 169). Seine Auswertung von Ausstellungsinszenierungen bezieht auch Perspektiven einer um multimediale Techniken erweiterten Ausstellungssprache ein (S. 184ff.). Diese Verbindung von historischer Analyse und gegenwärtiger Fragestellung zeichnet den gesamten Text aus.

Hilfreich zum Verständnis der komplexen Studie sind schematische Darstellungen und Abbildungen, ein ausführliches Register sowie eine umfangreiche Bibliographie. Tony Bennett führt mit seiner Arbeit bisherige auf Nationen oder einzelne Disziplinen begrenzte Untersuchungen zusammen und trägt zum Verständnis des Beziehungsgeflechts zwischen Museen und Gesellschaften bei. Pasts Beyond Memory ist eine gleichermaßen fundierte historische Analyse wie provokante Revision bisheriger Museums- und Kulturstudien. Die Lektüre ist nicht nur in Hinblick auf die gegenwärtige Debatte um kulturelle Diversität empfehlenswert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Schaukasten indianischer Kultur vor der Eröffnung. Beschönigte Geschichte in Washingtons jüngstem Museum, in: Neue Züricher Zeitung, 20.9.2004 und Die große Lüge: Sie dürfen mitbestimmen und voll Nostalgie zurückblicken. Ein neues Museum für die Indianer Amerikas in Washington, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.10.2004.
2 Barringer, Tim; Flynn, Tom (Hgg.), Colonialism and the Object. Empire, Material Culture and the Museum, London1998.
3 Bennett, Tony, The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London 1995.
4 Vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt Main 1974; Ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt Main 1977.
5 Ders., Andere Räume, in: Barck, Karlheinz; Gente, Peter; Paris, Heidi; Richter, Stefan (Hgg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34–46, hier S. 39 und 43.

Editors Information
Published on
29.11.2004
Contributor
Edited by
Cooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Subject - Topic
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Language of review