Das afro-asiatische Mittelmeer oder doch der Indische Ozean?

Rothermund, Dietmar; Weigelin-Schwiedrzik, Susanne (Hrsg.): Der Indische Ozean. Das afro-asiatische Mittelmeer als Kultur- und Wirtschaftsraum. Wien 2004 : Promedia Verlag, ISBN 3-85371-221-5 286 S.

Conermann, Stephan (Hrsg.): Der Indische Ozean in Historischer Perspektive. . Hamburg 1998 : EB-Verlag Dr. Brandt, ISBN 3-930826-445 293 S.

Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Patrick Neveling, Institut für Ethnologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Email:

Im Anschluss an eine Ringvorlesung an der Universität Wien im Sommersemester 2004 ist im Pro-Media Verlag ein Sammelband mit Arbeiten zur Kultur und Geschichte des Indischen Ozeans erschienen. Im Gegensatz zu zwei anderen maritimen Großräumen, dem Mittelmeer und dem Atlantik, ist der Indische Ozean eher ein Stiefkind im Bereich der "Area Studies" an deutschen Universitäten. Folgerichtig ist die Zielsetzung des Bandes, die "...vielfältigen ökonomischen, politischen und kulturellen Verbindungslinien zwischen den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans" (vgl. Klappentext) zu beschreiben und das Feld für eine weitergehende wissenschaftliche Untersuchung zu öffnen.

Gewählt wird hier von den Herausgebern Dietmar Rothermund und Susanne Weigelin-Schwiedrzik ein anderer Weg als im 1998 von Stephan Conermann herausgegebenen, ebenfalls lesenswerten Sammelband: "Der Indische Ozean in historischer Perspektive". Beide Bände folgen in Auswahl und Gliederung der Beiträge einem historischen Ansatz, erheben nicht den Anspruch eine Gesamtdarstellung zu bieten, und beide stellen einen expliziten Bezug zwischen Forschungen zum Indischen Ozean und den Arbeiten des französischen Historikers Fernand Braudel zum Mittelmeer her.

Stephan Conermann versammelt neben bekannten Autoren zahlreiche Nachwuchswissenschaftler, die mittels Fallstudien die 'große' Geschichte des Indischen Ozeans erzählen. Martin Krieger schildert präzise die Kooperation der Herrnhuter und Hallenser Mission mit den dänischen Handelsstützpunkten im Indischen Ozean. Auch der Text von Arne Bialuschewski über erfolgreiche und erfolglose Bekämpfung der Piraterie im 17. und 18. Jahrhundert zeichnet spannende und vielleicht auch kuriose Momente der Geschichte europäischer Expansion im Indischen Ozean nach. Doch nicht immer erlauben ihre Forschungen den Autoren exakte Rückschlüsse auf jenen größeren historischen Narrativ, den zu erzählen heute verpönt scheint. Der Fokus auf die 'kleineren' Erzählungen birgt die Gefahr, den großen Zusammenhang aus den Augen zu verlieren. So endet das Problem der Piraterie mit der britischen Eroberung der indischen Piratenstützpunkte Suvarndurg und Vijaydurg an der Küste Konkans im Jahre 1755/56 sowie der französischen Niederlage bei Plassey 1757 vielleicht an der Küste Indiens. "[D]ie unangefochtenen Herrscher über den Seehandel Indiens" (S. 260) waren die Briten dennoch nicht. Im Westen blühte auf Inseln wie Mauritius weiterhin der Handel mit Lizenzen auf die Kaperung britischer Handelsschiffe 1 und nach den napoleonischen Kriegen bereitete ein vergleichsweise kleines Sultanat wie das im Sulu-Archipel 2 den europäischen Seemächten über Jahrzehnte größte Schwierigkeiten.

Die soeben vorgenommene Gegenüberstellung lokaler Geschichten weist nicht nur auf Probleme der Generalisierung von lokalen auf translokale Analyseeinheiten hin. Sie eröffnet auch Spielräume einer Interpretation der These, welche Hermann Kulke in der Einleitung des Bandes "Braudels Metapher vom Handel im Indischen Ozean als einer sich auf- und abbewegenden Wippe..." zwischen Westen und Osten in "monotonen Wiederholungen" gegenüberstellt: "Was uns statt dessen im Indischen Ozean bereits lange vor Beginn der europäischen Expansion entgegentritt, ist ein Kampf um Marktanteile, an dem sich alle Großregionen vom Vorderen Orient über Indien und Südostasien bis nach China zeitweise und mit wechselndem Erfolg beteiligen." (S. 4-5). Wirtschaftspraktiken, welche von der jeweiligen Hegemonialmacht als Piraterie diskreditiert werden, sind folglich ein Aspekt dieser Auseinandersetzung um Marktanteile. Ebenso veranschaulichen sie deren regionale Verschiebungen und machen Widerstände gegen Arbeitsbedingungen und Herrschaftspraktiken greifbar.

Rothermund und Weigelin-Schwiedrzik haben als Herausgeber des zweiten Sammelbandes leider darauf verzichtet, die zwölf Artikel in einen moderierten Zusammenhang zu stellen, der deren Auswahl, Anordnung und Relevanz für eine übergreifende Fragestellung des Bandes deutlich macht. Zwar werden die Artikel in einem Vorwort kurz vorgestellt, diese Vorstellung vermittelt dem Leser jedoch nur einen äußerst vagen Zusammenhang zwischen Beiträgen des Bandes und historischen Entwicklungen im Indischen Ozean, die zu verdeutlichen Ziel der Veröffentlichung ist.

Es scheint, als seien der Untertitel "Das afro-asiatische Mittelmeer als Kultur- und Wirtschaftsraum" (Hervorhebung P.N.) und ein kurzer Verweis auf die Überlegungen Braudels ausreichend, um den Sammelband in einen solch bedeutungsträchtigen Zusammenhang zu stellen. Wie wir in der kurzen Diskussion der Thesen von Herrmann Kulke zur Relevanz Braudelscher Thesen angesichts der tatsächlichen Interaktionen im Indischen Ozean gesehen haben, ist eine einfache Projektion des Mittelmeerschemas mehr als problematisch. Und dies macht ein zusammenhängendes Lesen der folgenden Einzelbeiträge unnötig mühselig. Was wiederum umso bedauerlicher ist, da sich unter den zwölf Beiträgen einige befinden, die das Etikett "Gesamtdarstellung" durchaus nicht scheuen müssten.

Dietmar Rothermunds Beitrag erlaubt anhand eines Vergleiches des antiken "Periplus de mare erithräum", der Expeditionsberichte Marco Polos und des Chronisten der frühen portugiesischen Expansion Tome Pires einen in Darstellung und Interpretation tiefen Einblick in Wandel und Kontinuität der Handelsstrukturen wie in den "…Übergang vom Kenntnisgewinn zum Streben nach Herrschaftswissen..." (S. 33) im europäischen Blick auf die Region.

Der folgende Beitrag zur chinesischen Wahrnehmung des Indischen Ozeans zwischen 1000 und 1500 u.Z. zeigt das Selbstverständnis des Kaiserhauses als Regulativ- und Ordnungsmacht und die immer wiederkehrenden Versuche, die Küstenprovinzen des Reiches von einer Identifikation mit der maritimen Welt vor der eigenen Haustür abzuhalten (S. 55). Zu Beginn des Beitrags wirft Roderich Ptak zudem Fragen auf, die angesichts der Verweise auf Braudel schon eine Weile auf den Lippen des Lesers liegen: Lässt sich eine Parallele zwischen Braudels Darstellung der Welt des Mittelmeeres im 15. und 16. Jahrhundert und dem Indischen Ozean ziehen? "Welche Seegebiete zwischen Ostafrika und Japan haben überhaupt eine Chance, als »asiatisches Mittelmeer« - oder »asiatische Mittelmeere« - betrachtet zu werden? Und auf welchen geographischen (wie anderen) Kriterien könnte eine solche Charakterisierung fußen, zumal ja die Braudelschen Kategorien erst einmal an asiatische Verhältnisse angepaßt werden müßten?" (S. 37) Ptak erwähnt auch Subrahmanyans Kritik an Braudels westlicher Perspektive auf das Mittelmeer, welche nicht zwingend der osmanischen oder nordafrikanischen Sichtweise jener Zeit entspricht (S. 38). Anschließen ließe sich hier die Frage, ob sich das Mittelmeer des 15. und 16. Jahrhunderts nicht sogar in die Kategorie der "kleinen Mittelmeere" des Indischen Ozeans gehört, die Ptak für die Sulu-See oder den Golf von Bengalen vorschlägt. Ausgangspunkte zu einer Analyse solcher Verflechtungen von Handelsnetzwerken existierten viele. Allen voran Goiteins Auswertung der Funde in einer Geniza in Kairo 3 - leicht verdaulich und spannend aufbereitet nachzulesen in Amitav Goshs "In einem alten Land" 4. Einen theoretisch fundierten und empirisch fassbaren Ausgangspunkt für eine solche Debatte liefert zudem der indische Historiker K.N. Chaudhuri 5.

Am Beispiel der Handelsnetzwerke der Hadhramis diskutiert Ulrike Freitag Wandel und Kontinuität islamischer Handelsnetzwerke im Indischen Ozean vom 7. Jahrhundert bis in die jüngere Vergangenheit. Deutlich wird, wie die islamischen Netzwerke angesichts der europäischen Expansion zunehmend marginalisiert werden, zwar weiterhin das breiteste Netzwerk von Gruppen im Indischen Ozean bilden und als einzige eine Kommunikationseinheit von langer historischer Dauer (S. 78) aufbauen und aufrechterhalten, dennoch "... zu einer - politisch wie militärisch letztlich aber marginalen - Bedrohung des Projekts einer auf europäische Bedürfnisse orientierten Globalisierung geworden [sind]." (S. 76) Peter Feldbauers Beitrag über die portugiesische Expansion setzt die historische Erzählung aus Dietmar Rothermunds Beitrag fort und identifiziert für das 15. und 16. Jahrhundert erste Anzeichen eines Welthandelssystems (S. 101). Ob das indonesische Archipel wirklich ein Beispiel für "Handel und Herrschaft im Grenzbereich des Indischen Ozeans" ist, wie es Bernhard Dahm (S. 105-122) behauptet, steht zu bezweifeln. Denn eigentlich legen die Ausführungen des Autors zur Geschichte der Handelsreiche Srivijaya, Majapahit und Malakka nahe, diese als frühe Fälle typischer Hybridisierung religiöser Praktiken und Herrschaftsformen im Indischen Ozean zu bezeichnen. Ebenfalls von unterschiedlicher Qualität ist der folgende Block zu Migration aus den Großregionen Indien und China.

Michael Mann liefert einen beeindruckenden Überblick über die Geschichte der indischen Migration und den mit der Anwerbung von Kontraktarbeitern einsetzenden Bruch in deren Quantität und Qualität. Ein Zusammenhang der Beiträge von Weigelin-Schwiedrzik/Rottenberger-Kwok und John Fitzgerald zur chinesischen Migration erschließt sich jedoch schwerlich: Verbindungen zwischen der Geschichte der Handelsbeziehungen im Indischen Ozean und den Erfahrungen chinesischer Migranten in Südafrika, Indonesien und Australien finden sich schließlich in der Gründung der jeweiligen Nationalstaaten und deren spezifischer Politik von nation-building, damit verbundenem Protektionismus, Rassismus und dem Drängen auf Assimilation. Insbesondere die Situation chinesischer Gruppen in Indonesien könnte durch Verweise auf die Rolle des vorkolonialen wankang-Handels, die daraus entstandenen und bis heute bestehenden Patron-Klient Beziehungen der chinesischen Händler zur lokalen Bevölkerung 6 und auch die Rolle der in Militär und islamischen Gruppierungen weit verbreiteten Kommunistenphobie prägnanter dargestellt werden. 7 Während die Beiträge von Heinz Nissel zu Hafenstädten und Ravi Ahuja zur Geschichte des Schiffsverkehrs wiederum gute Überblicke bieten, folgen mit Walter Schicho und Gerold Krozewski die neben Michael Mann herausragenden Autoren des Bandes.

Immer wieder Bezug zu den Entwicklungen im Spiel der konkurrierenden europäischen Seemächte England, Frankreich und den Niederlanden herstellend, beschreibt Walter Schicho Geschichten der Marginalität im Indischen Ozean am Beispiel der ehemals französischen Kolonien Mauritius, Reunion und Seychellen. Zwischen den Träumen der Seefahrer vom Paradies, Praktiken der Aneignung und Herrschaft blitzen immer wieder die Zufälligkeiten und Ironien kolonialer Unternehmungen auf. Verwiesen sei an dieser Stelle nur kurz auf Brayer du Barre, der als erfolgreicher Lotterieveranstalter aus Frankreich 1770 nach Mauritius kam. Um "... das Gewonnene als Sklavenhändler oder Pirat zu vermehren..." (S. 242f.) trieb er die Besiedlung der Seychellen voran, wurde aber schließlich als Intrigant aus Mauritius ausgewiesen, da er Gerüchte über nicht existierende Goldvorkommen auf den Seychellen gestreut hatte. Gerold Krozewski entwirft ein Model, welches entlang der Faktoren Räume, Abgrenzungen, Kreisläufe sowie des globalen und imperialen Rahmens eine vielschichtige und überzeugende Analyse der Einbindung der ostafrikanischen Küste in die Handelsstrukturen und Arbeitsmärkte des Indischen Ozeans von der britischen Kolonialzeit bis in die Gegenwart bietet. Beschlossen wird der Sammelband von einem ebenfalls empfehlenswerten Literaturüberblick "Zur Historiographie des Indischen Ozean" von Mitherausgeber Dietmar Rothermund.

Literatur
1 Allen, Richard B., Slaves, freedmen, and indentured labourers in colonial Mauritius, Cambridge 1999.
2 Warren, James Francis, The Sulu zone, 1768-1898, Singapore 1981.
3 Goitein, S. D., A Mediterranean society. The Jewish communities of the Arab world as portrayed in the documents of the Cairo Geniza, Berkeley 1967.
4 Ghosh, Amitav; Müller, Matthias, In einem alten Land. Eine Reise in die Vergangenheit des Orients, München 2003.
5 Chaudhuri, Kirti Narayan, Trade and civilisation in the Indian Ocean. An economic history from the rise of Islam to 1750, Cambridge 2001.
6 Sutherland, Heather, Trepang and Wankang. The Chinese Trade of Eighteenth-Century Makassar, c. 1720s-1840s., in: Tol, Roger, et al., Authority and enterprise among the peoples of south Sulawesi, Leiden 2000.
7 Kahin, George McTurnan, Nationalism and revolution in Indonesia, Ithaca 2003.

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16.03.2007
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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