H. Arnold u.a. (Hg.): Sicherheit für das größere Europa

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Title
Sicherheit für das größere Europa. Politische Optionen im globalen Spannungsfeld


Editor(s)
Arnold, Hans; Krämer, Raimund
Series
EINE WELT - Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden, Band 14
Published
Extent
368 S.
Price
12,70 €
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Henrik Schillinger Graduiertenkolleg "Märkte und Sozialräume in Europa" Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Die Differenzen zwischen der EU und den USA über die angemessene Nuklear-Politik gegenüber dem Iran sowie die quer durch Europa verlaufende Kluft zwischen ‚altem’ und ‚neuem’ Europa, zwischen Gegnern und Befürwortern des Irak-Kriegs, verdeutlichen den Bedarf an Reflektion über Konzepte von Sicherheit in und für Europa. Vor diesem Hintergrund verdient die vorliegende Publikation der Stiftung Entwicklung und Frieden Aufmerksamkeit – wiewohl bereits 2002 erschienen und entsprechend hinter den erwähnten Ereignissen zurück.

Der Band versammelt eine Reihe durchaus namhafter Autoren aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Ungarn, Polen, Tschechien, der Slowakei, Russland und den USA mit überwiegend, aber nicht ausschließlich, politikwissenschaftlichem Hintergrund. Die Beiträge wurden, wenn nötig, in das Deutsche übersetzt. Das Ziel der Stiftung, auch Stimmen aus den östlichen Nachbarstaaten Deutschland in die deutsche Diskussion über europäische Sicherheit einzubringen, wird so erfüllt. Gerade diese Erweiterung des Blickfelds auf ost- und mitteleuropäische Ansichten zur Thematik Sicherheit und internationale Beziehungen aus der Binnenperspektive ebenfalls ost- und mitteleuropäischer Autoren macht einen der interessantesten Aspekte des Bandes aus.

Die einzelnen Beiträge sind jeweils einem von drei Themenbereichen zugeordnet, die den Band untergliedern: europäische Identität, Strategien für eine ‚europäische Sicherheit’ sowie europäische und deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im globalen Kontext. In einer Rezension dem Inhalt eines kompletten Sammelbands gerecht zu werden, ist nahezu unmöglich. Um wenigstens die Vielfalt des Bandes zu vermitteln, soll daher im Folgenden eine Zusammenstellung von Eindrücken aus den einzelnen Beiträgen wiedergegebnen werden – geordnet nach den drei Themenbereichen des Bandes. Die Nennung der Autoren in Klammern grenzt die einzelnen Beiträge voneinander ab.

Die Identität Europas ist aus einer gleichsam geschichts- und kulturphilosophischen Betrachtung, durch die Krisenerfahrung der Vergangenheit bestimmt, von Apathie geprägt: „Europa ist dabei, sich aufzulösen.“ (S. 36) Die großen Leistungen der Vergangenheit werden auch die künftigen Zentren der Welt prägen. Eine Erneuerung Europas kann aber bestenfalls von Osteuropa ausgehen, das sich seine Bande zu Natur, Spiritualität und Tradition bewahrt hat. (Virgil Nemoianu) Aus der Erfahrung jener Krisen ist aber auch eine Besonderheit Europas hervorgegangen – Kriegsunfähigkeit und ein kooperativer Politikstil – die Europa zur Friedensmacht prädestiniert. Gerade die oft als Nachtteil wahrgenommene ‚Vielstimmigkeit’ europäischer Politik sichert dabei die Anschlussfähigkeit nach vielen Seiten. (Erhard Crome) Polen kann aufgrund seiner eigenen historisch gewachsenen Identität in einer Mittlerrolle dazu beitragen, dass die ‚geokulturellen’ Grenzen West- und Mitteleuropas nach Osten hin überwunden werden können. (Krzysztof Malinowski) Die Grenzen Europas zu Russland werden in absehbarer Zeit allerdings nicht fallen. Jedoch ist die schrittweise Einbindung Russlands als gleichwertiger Partner mit eigenständiger Identität in einen gemeinsamen kooperativen Raum unabdingbar für künftige Stabilität in Europa. (Andrei Zagorski) Letztlich hängt die Identität Europas wohl eher an jenen politisch-konstitutionellen Faktoren (Demokratie etc.) deren Ausbreitung durch EU und NATO zur Sicherheit und Stabilisierung v.a. Osteuropas beiträgt. Eine institutionelle Neuordnung ist allerdings unabdingbar, um diese Organisationen den veränderten Gegebenheiten anzupassen. (William Wallace)

Europäische Sicherheit gibt es nicht – zumindest nicht im Sinne eines einheitlichen Konzepts, eines einheitlichen Sicherheitsraums. Um der Vielfältigkeit der Problemstellungen und Positionen gerecht zu werden, ist es angebrachter von Sicherheitsordnungspolitik (security governance) für Europa, statt von einer/der europäischen Sicherheitspolitik zu sprechen (Stuart Croft). Auch an Europa geht Aufkommen neuer Bedrohungen (Staatsversagen, Terrorismus etc.) im globalen Kontext nicht vorüber und macht eine Veränderung bestehender Vorstellungen von Sicherheit notwendig. (Jiří Šedivý) Die osteuropäischen Staaten weisen dabei besondere Befindlichkeiten in bezug auf ihre Sicherheitskonzeptionen und -bedürfnisse auf, wie das Beispiel Polens (Ireneusz P. Karolewski) aber auch Ungarns (Lajos Keresztes) zeigt. Beide Artikel werfen aus heutiger Sicht ein interessantes Licht auf die Haltungen osteuropäischer Staaten, des ‚neuen’ Europas, zum Irakkrieg. An den ‚Rändern’ Europas, in Russland (Dimitry Polikanov) und den USA (Edwina S. Campbell) wird Sicherheit allgemein und vor allem der Versuch eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen noch einmal anders betrachtet: die Haltung reicht dabei von Unverständnis über skeptische Distanz bis hin zu Misstrauen über die künftige Verwendung europäischer (Streit-)macht. Die NATO zeigt jedoch Konturen einer künftigen Sicherheitsgemeinschaft der westlichen Staaten, die in eigenem Interesse zu weltweiten Interventionen bereit ist. (August Pradetto / Oliver Linz)

Welche konkreten Gestaltungsmöglichkeiten und -bedingungen bestehen für europäische und deutsche Sicherheitspolitik? Europa wird in der internationalen Politik zunehmend marginalisiert und ist damit auch zunehmend im Bereich Sicherheit auf sich selbst gestellt. Wie es jedoch um seine Handlungsfähigkeit bzw. die der EU zum Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungskapazität steht, lässt sich unterschiedlich beurteilen, positiv (Anne-Marie LeGloannec) oder auch negativ (Ivo Samson). Zumindest auf dem Gebiet der Konfliktprävention und des Krisemanagements durch die EU besteht Hoffnung: Das Beispiel Mazedonien zeigt Fortschritte und Lerneffekte, aber auch weiteren Handelsbedarf. (Ulrich Schneckener) Gefährlich für den Fortschritt hin zu einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sind nicht zuletzt der deutsche ‚Weltverbesserungsdrang’ (Alexander Siedschlag) und seine Kehrseite, die Überbetonung spezifisch deutscher Interessen. Deutschland ist unumkehrbar in Europa eingebunden und teilt dabei eine besondere Rolle mit Frankreich, so dass deutsche Außenpolitik auch künftig über Brüssel und Paris führen muss. (Gunther Hellmann) Wie kann nun Sicherheit für, in, durch und mit Europa erreicht werden? Der Ausbau einer gemeinsamen Verteidigung, die Erweiterung europäischer Institutionen (v.a. der EU), internationaler Multilateralismus und die Vermeidung einer militärischen Weltmachtrolle sind die wesentlichen Faktoren, die entscheiden, welche Sicherheit für Europa erreicht werden kann. (Hans Arnold)

Sicherheit für das größere Europa ist bereits 2002 erschienen und somit ein ‚altes’ Buch wenn man die Vielzahl der Ereignisse und Diskussionen bedenkt, die zwischenzeitlich im Kontext europäischer Identität und Sicherheit stattgefunden haben – von Osterweiterung bis Irakkrieg. Eine Publikation, die nach eigenem Anspruch europäische Politiker zum Nachdenken anregen will, ist besonders gefährdet, als irrelevant abgetan zu werden, sobald sie ihre unmittelbare Aktualität verliert. Auf der anderen Seite bietet der Band eine Vielzahl an grundlegenden Gedanken, Blickwinkeln und Anregungen, die sehr wohl geeignet sind, den eigenen Anspruch einzulösen und teilweise sogar ein klareres Verständnis einiger jüngerer Ereignisse ermöglichen. Dieser Wert hätte sicherlich noch gesteigert werden können, wäre nicht die Angst vor der „analytischen Grube“ (Raimund Krämer, S. 25) gewesen. Die pragmatische Ansicht der Herausgeber, dass Politikwissenschaft praktische Antworten geben müsse, ist auf jeden Fall begrüßenswert. Allerdings entsteht bei vielen Argumenten der Eindruck, nur die Antworten und nicht die Wissenschaft bekommen zu haben. Zumindest mehr Belege aus und Verweise auf die wissenschaftlichen Debatten (und eigenen Beiträgen der Autoren) zum Thema wären wünschenswert gewesen, um den Beiträgen noch Tiefe und Überzeugungskraft – zumindest eine Ahnung der ‚Grube’ – zu verleihen. Es bleibt der Eindruck eines anregenden ‚Lesebuchs’, das sich durchaus als Einstieg in das Nachdenken über ‚europäische Sicherheit’ empfehlen lässt.

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Published on
31.03.2006
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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