M. Braig u.a. (Hrsg.): Grenzen der Macht - Macht der Grenzen

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Title
Grenzen der Macht - Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext


Editor(s)
Braig, Marianne; Ette, Ottmar; Ingenschay, Dieter; Maihold, Günther
Series
Biblioteca Ibero-Americana 105
Published
Frankfurt am Main 2005: Vervuert/Iberoamericana
Extent
237 S.
Price
€ 28,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Steffi Franke, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Im Kontext der als beschleunigt wahrgenommen Globalisierung ist das Nachdenken über räumliche Phänomene und Prozesse an vielfältige Konzepte und Begriffe gebunden: De- und Re-Territorialisierung, „space of flows“ und „space of place“, global und lokal. Besondere Aufmerksamkeit genießt dabei ein spezifisches Raumphänomen: die Grenze. In diese Auseinandersetzung ist auch der vorliegende Band einzuordnen. Dabei liegt hier das Augenmerk insbesondere auf den hybriden Formen von Grenzen und Raum in Lateinamerika.

Als zentrale Begriffe stellen die Herausgeber Hybridisierung und Fragmentierung (S. 8) heraus. Deren Ausprägungen ließen sich vor allem in Lateinamerika beobachten, das als ein „privilegierte[r] Ort als Labor der Moderne“ (S. 7), „als paradigmatisches Modell“ für das Verständnis der Prozesse beschleunigter Globalisierung (S. 8) gelten könne. Dieses Grundverständnis der Region ist der gemeinsame Ausgangspunkt der Beiträge dieses Bandes.

Ein solchermaßen bestimmter lateinamerikanischer Exzeptionalismus, der durch die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Entwicklung, kulturelle und politische Hybridität, die Abweichung von westlichen Normen und Prozessen und vielfältige Modernisierungsdefizite gekennzeichnet ist, wird von den meisten Autoren und Autorinnen gestützt. Aus anderen regionalwissenschaftlichen Perspektiven eröffnet aber gerade dieser Exzeptionalismus-Diskurs Anschlussmöglichkeiten für eine Vergleichs- oder Transferforschung. So ist beispielsweise die Rede von der defizitären oder nachholenden politischen und kulturellen Entwicklung, von inkommensurabler Vielfalt und Widersprüchlichkeit und vom Anders-Sein im Verhältnis zum „Alten Europa“ auch für die Beschreibung der ost- und ostmitteleuropäischen Region charakteristisch. Aus dieser Perspektive kann die behauptete Ausnahmestellung einerseits relativiert werden, andererseits wird die Problematik solcher Diskurse um so deutlicher: Die Behauptung des Anders-Seins stabilisiert implizit die koloniale Dichotomie zwischen entwickeltem Westen und defizitären, abweichendem Süden respektive Osten. Solchermaßen wird gleichzeitig die Erzählung einer kohärenten, erfolgreichen westlichen Entwicklung weitergeführt, die ebenfalls problematisiert werden kann. So ist beispielsweise zu fragen, wie plausibel die implizite These ist, dass sich im westlichen Modell im Zuge der Nationalstaatswerdung Grenzen als stabile Linien herausbildeten, von denen die Frontiers, die hybriden Grenzräume anderer Weltregionen, abwichen.

Drei Aufsätze beschäftigen sich mit Grenzen als im engeren Sinne territorialen Phänomenen. Bernecker (S. 11-37) skizziert in seinem Beitrag die historische Entwicklung von Grenzen in Lateinamerika seit der Conquista. Während der Kolonialzeit dominieren Grenzregime, die sich erst allmählich als territoriale manifestierten und daher lange Zeit nicht auf den Raum, sondern auf Menschen bezogen waren. In der Folge existierten in dieser Phase eher Grenzräume als Grenzlinien, die sich erst nach der Unabhängigkeitsbewegung im Zuge der Nationalstaatswerdung durchsetzten. Für die aktuelle Entwicklung rekonstruiert Bernecker die erneute Entstehung von grenzüberschreitenden Räumen im Zuge der Globalisierung, in deren Kontext Grenzen als Linien zunehmend irrelevant werden. Grundsätzlich sei Lateinamerika ein „Raum unsicherer Grenzen und instabiler Grenzzonen“ (S. 29) und die Geschichte von Grenzen auf diesem Subkontinent hoch konfliktiv. Diese gelungene Tour de Force durch die Geschichte lateinamerikanischer Grenzen lässt allerdings die Frage nach dem Verhältnis zwischen vorkolonialer und kolonialer Raum- und Grenzgeschichte offen, sodass sich kritisch fragen lässt, ob hier nicht unbeabsichtigt das koloniale Narrativ gestützt wird.

Günther Maihold (S. 39-76) widmet sich ebenso wie Marianne Braig und Christian U. Baur (S. 181-206) den wohl meistbeforschten Grenzen der Region: den mexikanischen. Der multiple Charakter der mexikanischen Nordgrenze erscheint Maihold nicht nur als Raum, der gewaltförmig strukturiert und als Hochsicherheitszone umgestaltet wird. Vielmehr wird er durch Migration, durch besondere ökonomische Strukturen (der Maquiladora-Industrie) und durch spezifische kulturelle und identitätspolitische Konstellationen (hispanics/latinos) in einen transnationalen Grenzraum verwandelt, der Durchlässigkeiten, Gegenmacht-Potentiale und wirtschaftliches Wachstum ermöglicht. So formieren sich neue Grenzen, „die [...] durch die fehlende Kongruenz politischer, sozialer und kultureller Räume gekennzeichnet sind“ (S. 54). Damit entstehen auch kulturelle Hybride, die sich nicht nur in der US-Amerikanisierung Mexikos, sondern auch in der Mexikanisierung der USA niederschlagen.

Die mexikanische Südgrenze wird von Marianne Braig und Christian U. Baur untersucht. Die Verlagerung des Blicks weg vom Hochsicherheitstrakt an der Nordgrenze hin zu „Grenzen, aber auch Schleusen, innerhalb des mexikanischen Territoriums und über dieses hinaus“ (S. 183) gibt den Weg frei für die Reorganisation von Räumen, in denen sowohl Identitätspolitik als auch die Herstellung von Sicherheit neu verhandelt wird. Das staatliche Gewaltmonopol wird in der Provinz Chiapas durch transnationale und lokale Strukturen unterlaufen. So entstehen dort „Formen aterritorialer Räume, die sich durch ihren transnationalen und transethnischen Charakter auszeichnen“ (S. 195). Zugleich wird Mexiko in die US-amerikanische Sicherheitsplanung einbezogen als „vorgelagerte[n] Grenz- und Schleusenraum“ (S. 200). So bilden sich „neue Demarkationslinien [...], die Mittelamerika in funktionale Räume einteilen und sich weniger an den traditionellen Grenzen staatlicher Territorien orientieren“ (S. 203).

Ottmar Ette schlägt (S. 135-180) den Begriff der Insel vor, der einerseits theoretische Überlegungen erlaube über den Zusammenhang zwischen totaler und fraktaler Raumbeschreibung für das gesamte kontinentale Lateinamerika, andererseits biete er einen Zugang zur Untersuchung der karibischen Welt. „Eine Insel ließe sich [...] definieren (und territorialisieren) als ein Bewegungs-Ort, dessen historisch gespeicherte mobile Muster und Vektoren stets abrufbar bleiben“ (148). Die Inselwelt zeichne sich nicht durch „zusammenhängende – also kontinentale – Territorialität, sondern durch vektorielle Verfasstheit“ aus (S. 149). Deren Bewegungsmuster zu rekonstruieren, die Multirelationalität zwischen den einzelnen Teilen zu erkunden, müsse im Mittelpunkt einer „transregionalen Karibikforschung“ stehen (S. 157).

Drei weitere Beiträge rücken die kulturelle Verfasstheit von Räumen ins Zentrum. Dieter Ingenschay (S. 77-101) untersucht Diskurse um nationale Identität in Mexiko und innerhalb der mexikanischen Diaspora seit dem 19. Jahrhundert. Insbesondere steht die Selbstverständigung der Chicanos, der mexikanischen Diaspora in den Vereinigten Staaten im Zentrum, die seit den 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhundert eine eigene Identität zu entwickeln beginnt. Dabei entstehen u.a. innerhalb der „Nation of Aztlán“ (S. 85ff.) und im „chicano movement“ (S. 89ff.) unterschiedliche Formen der Selbstbeschreibung – zwischen essentialisierenden und trans- bzw. postnationalen Mustern. Insbesondere Letztere sind durch hybride und fluide Formen gekennzeichnet, die einen Prozess der Ent-Territorialisierung von Kultur in Gang setzen. In die Selbstbeschreibung des Nationalstaats Mexiko werden die Diasporadiskurse allerdings nicht integriert.

Vittoria Borsó (S. 103-134) untersucht die Kategorien von Macht und Körper am Beispiel der Literatur und Massenkultur Mexikos. Dabei wird dem Begriff der Grenze jener der Schwelle, als „Kontaktfläche zum Anderen“ (S. 109), zur Seite gestellt. Grenzen gehorchen einerseits einem Regime der Macht, sind aber gleichzeitig auch „Schwellen zum Widerstand“ (S. 110), nicht in frontaler, sondern in transversaler, indirekter Weise. Die Mechanismen eines kulturellen Widerstandes demonstriert Borsó in einer dichten Analyse an Texten von Juan Rulfo, Carlos Monsiváis und Elena Poniatowska. Insbesondere der „cultura popular“ kommt dabei eine entscheidende Rolle bei der Demokratisierung von Kultur zu, sie ist eine hybride Formation im Sinne von „Schwellen [...] zwischen hybriden Ordnungen“ (S. 125).

Stefan Rinke (S. 207-238) betrachtet im abschließenden Aufsatz die wechselseitige, verflochtene Herausbildung von Selbst- und Fremdbildern der beiden Amerikas und argumentiert, dass diese nur verstanden werden können, wenn ihre Geschichte als interdependent betrachtet wird.

Der Band eröffnet eine Vielzahl von Perspektiven. Gelungen ist die Verschränkung von raumsoziologischen, kulturwissenschaftlichen, sicherheitspolitischen und territorialisierungstheoretischen Argumentationen im Gesamtzusammenhang der Publikation. Damit ist sie ein wichtiger Beitrag für die Erforschung von Raum und Grenzen nicht nur für den Teil der Welt, der hier im Zentrum steht, sondern auch lesenswert über die Grenzen dieser Regionalwissenschaft hinaus. Ihre Ergebnisse können fruchtbar gemacht werden für eine weltweit vergleichende Betrachtung der Entstehung und Veränderung von Grenzregimen sowie der Produktion und Wahrnehmung von Raum in der Moderne.

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22.06.2007
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