Seit 2008 fördern die alle zwei Jahre stattfindenden Kongresse des European Network for Avantgarde and Modernism Studies (EAM) das Studium der Avantgarde und Moderne in Europa in einem breiten zeitlichen und disziplinären Rahmen und setzten dabei Themenschwerpunkte wie „High and Low“ (Poznań, 2010), „Utopia“ (Helsinki, 2014) und "CRiSiS" in 2020. In seiner Absichtserklärung und Kommunikationen hat das Netzwerk stets die transnationalen Aspekte der avantgardistischen Praktiken betont und darauf hingewiesen, dass Europa im globalen Rahmen zu betrachten sei. Es war dennoch erst die Konferenz von 2022 in Lissabon, die den globalen Aspekt des avantgardistischen Phänomens aufgriff. Der Gründungskongress (Gent, 2008) trug zwar den Titel „Europa! Europa?“, allerdings stellte das Fragezeichen am Ende die Zentralität des Kontinents in kunsthistorischen Narrativen nicht explizit in Frage. Vielmehr zielte die Veranstaltung auf eine Pluralisierung der europäischen Kunstlandschaft und bezog sowohl für die Kulturproduktion zentrale als auch periphere Regionen in die Untersuchung ein. Die „Europa! Europa?“-Konferenz strebte gleichzeitig an, gängige Ansichten zum künstlerischen Schaffen der Epoche auch über die Frage, welches Europa die verschiedenen kulturellen Gruppen erneuern und revolutionieren wollten: Wie unterschieden oder glichen sich die Vorhaben der kosmopolitischen Avant- und die konservativen Arrière-Garden?
Die achte EAM-Konferenz ging von der Erkenntnis aus, dass die Künstler:innen der Avantgarde und der Moderne stark zur steigenden globalen Vernetzung beigetragen haben. Mit Blick darauf und den transnationalen und kosmopolitischen Charakter der avantgardistischen Ästhetik und Praxis wurde bereits im Call for Papers implizit und explizit die Relevanz und Wahrhaftigkeit national geprägter Narrative und (retrospektiver) national verankerter Identitäten in Frage gestellt. Die Veranstalter ermunterten dazu, über den anhaltenden Eurozentrismus der europäischen Avantgarde selbst und ihrer offiziellen Geschichte nachzudenken.
Einen umfassenden Bericht über eine dreitägige Großveranstaltung mit mehreren parallelen Panels zu verfassen ist nicht möglich.1 Daher wird hier eine spezifische Perspektive eingenommen und rekonstruiert, mit welchen methodischen, theoretischen und empirischen Beiträgen oder innovativen Vorschlägen die Vorträge zu Mittel- und Osteuropa auf die im Titel des Kongresses genannte Aufgabe reagierten: die Globalisierung der Avantgarde.
Konfigurationen zur Überwindung des „nationalen Containers“
Angesichts des Kongressthemas gab es nur sehr wenige Panels, die sich ausdrücklich auf einen einzigen nationalen Kontext konzentrierten. Die Zusammenstellung der Beiträge basierte selten auf einer simplen Gegenüberstellung von nationalen oder regionalen Kulturen, sondern vielmehr auf einem gemeinsamen Motiv. Im Falle des Panels „Hungarian Foundations“ erkennt man als gemeinsames Motiv die Besonderheiten des Kunstschaffens im Exil. IMRE JÓZSEF BALÁZS (Cluj) stellte in seinem Vortrag emigrierte Schriftsteller der Nachkriegszeit (Árpád Mezei, József Bakucz, Imre Pán) und ihre Strategien vor, Werke zu schaffen, die auch für ihr neues fremdsprachiges Publikum zugänglich waren. Imre Pán zum Beispiel manipulierte Texte französischer Philosoph:innen und verwandelte sie in Poesien. Der Referent beschrieb dies nicht als eine von Páns größten ästhetischen Leistungen, sondern als ein bezeichnendes Detail der Situation von Künstler:innen im Exil - etwas, das aus der Perspektive der kanonischen nationalen (in diesem Fall ungarischen) Kunstgeschichte vielleicht nicht relevant erscheint. Wenn dem so ist, kann die Transnationalisierung der Geschichtsschreibung darauf hinauslaufen, dass genau solche Fragen, die nur in einem nicht-nationalen Rahmen an Bedeutung gewinnen, in den Vordergrund gerückt werden.
Die Suche nach Wegen zur gemeinsamen Veröffentlichung nicht nur mit anderen Exil-Ungar:innen, sondern auch mit Autor:innen anderer Nationalitäten war eine weitere Möglichkeit für mehrsprachige Emigrant:innen, die Grenzen der nationalen Kultur zu überwinden, so Balázs. Sein Co-Podiumsteilnehmer GÁBOR BEDNANICS (Budapest) zeichnete nach, wie die Immigration nach Wien den Autodidakten Lajos Kassák zu einem Künstler der internationalen Avantgarde machte, indem er Einflüsse von Künstler:innen aus renommierten künstlerischen Kreisen aufnahm. Ein kritisches Überdenken der Kunstgeschichtsschreibung hat bereits gezeigt, dass die Konzentration auf Einflüsse bei der Einordnung peripherer Künstler:innen in ein vorgegebenes hierarchisches disziplinäres Narrativ nicht der beste methodische Weg ist, um dieses Narrativ zu transnationalisieren. Das Q&A dieses Panels bezeugte dennoch eine aufschlussreiche Debatte darüber inwieweit Kassák, der nur seiner ungarischen Muttersprache mächtig war, überhaupt in der Lage war, internationale Kooperationen anzustreben. Die Ansicht, dass er aufgrund dessen in Wien isoliert blieb, wurde durch neue Forschungsergebnisse widerlegt, die seine Verbindungen zur Freien Jüdischen Volksbühne belegen.
Auch die transnationalen beruflichen Werdegänge einzelner Künstler oder ihre Art und Weise, kulturelle Praktiken oder visuelle Elemente über Grenzen und Kontinente hinweg zu übertragen, wurden häufig thematisiert. REGINA STEPHAN (Mainz) referierte über Joseph Maria Olbrich und Erich Mendelsohn, die beide volkstümliche Architekturformen aus Tunesien und dem Nahen Osten nach Nordwesteuropa übertrugen. ERNESTO VENDRIES BRAY (independent scholar) und ULRICH KNUFINKE (Braunschweig) diskutierten die Architekten Leopold Rother und Zdenko von Strizic, die ebenfalls aus der Region stammten, die wir heute als Ostmitteleuropa nennen. Auch sie zeichneten sich durch ein beeindruckendes Maß an interkontinentaler Mobilität und Vernetzung aus, wenn es um die Verbreitung der Techniken der europäischen Architekturavantgarde ging. Dabei nahmen sie bereits in den 1920er und 1930er Jahren ernsthaft Rücksicht auf die lokale Ornamentik sowie die klimatischen und landschaftlichen Bedingungen.
Mobilität und erzwungene oder freiwillige Migration waren explizite Eckpfeiler der Doppelveranstaltung „From Emigrant and War Refugee to International Avant-Garde Artist.“ Ein möglicher raison d’ être eines solchen Panels kann es sein, die Zahl der Künstler:innen litauischer Herkunft (oder aus Städten, die zum heutigen Litauen gehören) aufzuzeigen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts zu bedeutenden Persönlichkeiten der internationalen Kunstszene wurden, darunter Marianne von Werefkin, Władysław Strzemiński, Aleksandra Kasuba, Jonas Mekas und Jurgis Mačiūnas/George Maciunas. Die gleiche Strategie verfolgten auch die Panels zu den nordischen Ländern und das zu „Czech Matters“.
Das Panel „Czech Matters“ ließ diesen Aspekt der Globalisierung missen und griff auf die Nationalität als gemeinsamen Nenner zurück. Das Referat von ZUZANA ŘÌHOVÁ (Prag) gab dieser Insellage jedoch eine Wendung: Sie erzählte, wie Übersetzungen der anglophonen modernen Literatur in den 1940er Jahren oft ohne genaue Kenntnis des Englischen erfolgten. Die Praxis verdeutlicht die abstrakte Sehnsucht tschechischer Poeten nach einem fremden Land und einer fremden Kultur, eine andere als die der deutschen Besatzer. In einigen Panels wurden Vorträge mit dem Fokus auf einzelne nationale Kontexte zusammengefasst, um den bekannten Rahmen eines Phänomens - wie des Futurismus – durch den Blick auf australische, argentinische, rumänische oder serbische Künstler:innen zu erweitern.
Ich persönlich fand jene Sektionen konzeptionell am fruchtbarsten (wie auch am interessantesten für die Aufgabe einer Globalisierung der Avantgarde), in denen mehrere nationale Fallstudien für die Untersuchung eines gemeinsamen Problem oder einer gemeinsame These zusammengebracht wurden. Dies war etwa in dem Panel „Avant-garde with an Accent: Modernism’s Entanglements between the Global and the Local“ der Fall. In den Ausführungen der Referent:innen wurde „Akzent“ als Metapher für eine nicht-dominante Art der Kulturproduktion verstanden, die aus der spezifischen Position von migrantischen, zu Minderheiten gehörenden oder aus dem ländlichen Gebiet kommenden Künstler:innen hervorgingen. ADRI KÁCSOR (Chicago/New York) diskutierte den Einfluss ungarischer kommunistischer Künstler und Theoretiker mit Migrationshintergrund auf die sowjetische Kultur in den 1920er Jahren. Kácsor argumentierte, dass einige von ihnen (Béla Uitz, János Mácza/Ivan Mátsa) ihre Fremdheit erfolgreich als einzigartige Position nutzten, von der aus sie Wissen über die neuesten Trends der europäischen Avantgarden verbreiteten, einschließlich ästhetischer Praktiken, die in den dominanten sowjetischen Diskursen missbilligt wurden. BART PUSHAW (Kopenhagen) lud sein Publikum ein, die avantgardistischen visuellen Strategien dreier indigener Künstler aus der Arktis der Zwischenkriegszeit (Appa aus Kanada, Steffen Møller aus Grönland und Charles Menadelook aus Alaska) zu betrachten. In dieser Zeit, in der die Assimilationspolitik und die Durchsetzung der Sprache ihren Höhepunkt erreichten, konnte ein Akzent ein Zeichen der Schande sein, aber auch als Strategie der Resilienz seitens der indigenen Modernist:innen fungieren. In solchen Kontexten könne sogar stilistischer Konservatismus avantgardistische Impulse enthalten, fügte die Referent hinzu. JULIA SECKLEHNER (Brno) warf die Frage auf: „Wie kann man einen Modernismus denken, der nicht großstädtisch ist?“ Als Antwort darauf sprach sie über Formen eines ländlich inspirierten Modernismus in der slowakischen Kunst nach 1918. Sie stellte scharfsinnig fest, dass das ländliche Flair, das gewöhnlich als Ausdruck der nationalen Identität interpretiert wird, eigentlich auf die Lebenswirklichkeit der slowakischen Künstler:innen zurückgeht. Die Vermischung der Bildsprache des internationalen Surrealismus und der lokalen Volkstraditionen, wie sie z. B. bei Imro Weiner-Král zu beobachten ist, erscheint daher als eine ästhetisch konsistente Entscheidung. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Quelle dieser Vermischung weniger in nationaler Identität als in ethnischer Vielfalt zu finden ist.
Behauptungen wie die genannten tragen dazu bei, oberflächliche Stereotypen aufzulösen, wie die mechanische Verquickung des Volkstümlichen, Ländlichen und Völkischen mit dem Nationalen und die Verbindung des Lokalen oder Nationalen mit dem Nationalistischen. Beide Ansätze waren auf der Konferenz präsent. DIANA WASILEWSKA (Krakau) zum Beispiel stützte sich gerne auf ein Narrativ, dass eine starke Bindung an die nationale Kultur direkt mit rechten Überzeugungen in Verbindung steht (in ihrem Fall im Polen der Zwischenkriegszeit), und war daher erstaunt zu beobachten, dass „sogar junge Künstler:innen“ und zentristische Journalist:innen dieses Idiom befürworteten. JANE ECKETT (Melbourne) wiederum verkennt nicht, dass kultureller Nationalismus für junge unabhängige Staaten wie Litauen oder Polen unabdingbar war, um das Selbstverständnis ihrer Bürger:innen zu prägen. Fremden Einflüssen ausgesetzt zu sein (z. B. durch das Exil), führte zweifellos zu einer allmählichen Zerrüttung des kulturnationalistischen Narratives, so Ecketts Fazit.
Sich ausdehnende Geografien, laterale Netzwerke und sich verlagernde politische Verhältnisse
Die Erforschung interkultureller Verbindungen und supranational aufkommender künstlerischer Stile und Tendenzen gehörte schon immer zu den axiomatischen disziplinären Aufgaben. Die Einschränkungen und Exklusivität der vermeintlich internationalen oder globalen Perspektive der Kunstgeschichte waren jedoch aufzudecken und ein Teil des jüngsten Globalisierungsdrangs zielt darauf ab, diese Korrekturen zu liefern. Kunsthistorische Darstellungen der Moderne, der Avantgarde und der Neoavantgarde waren nicht nur weitgehend auf den euroatlantischen Kern beschränkt, sondern zudem auch auf Ereignisse und Personen in den Metropolen dieser begrenzten Landschaft. Die Verlagerung des Fokus auf (ehemalige) Kolonien und ländliche Gebiete, die sich in unterschiedlichsten Entfernungen zu den Zentren des modernistischen Fortschritts befinden, erweitert diesen begrenzten Blick.
TIIT HENNOSTEs (Tartu) Vortrag basiert auf der Untersuchung der Fluktuation des estnischen Futurismus zwischen Avantgarde und „Ethno-Lokalität“. Dabei untermauerte er Harsha Rams These zu den Strategien, mit denen nicht-italienische Futurist:innen die kosmopolitischen Tropen der Moderne neu zu definieren suchten. Der russische Futurismus, so Ram, nutzte eine eigene Variante des eurasischen Multikulturalismus als Quelle künstlerischer Innovation.2 In Hennostes estnischer Fallstudie war es die bewusste Verwendung abweichender (ländlicher) Dialekte, die dazu diente, konventionelle Deutungsansätze in futuristischen Texten zu brechen. Das Panel „Shifting Futures“, in das dieser Vortrag eingeordnet war, erwies sich als außergewöhnlich kohärent. Die vier Beiträge diskutierten modernistische Ansätze in halbperipheren kosmopolitischen Kontexten, darunter Portugal und die erweiterten Wirkungsfelder des italienischen Futurismus in Ägypten. Die beiden letztgenannten Rednerinnen zeigten auf, dass die Vision des Futurismus von einer internationalen Revolution eigentlich im italienischen Imperialismus und einem staatsgebundenen Verständnis von Identität verankert war, so dass Marinetti & Co. es versäumten, sich auf die ethnisch gemischten lokalen Gemeinschaften einzulassen, die bereits eine heterogenere kulturelle Identität entwickelt hatten. Darüber hinaus ergab sich während des Q&A ein spontanes Theoretisieren über die Notwendigkeit, zwischen der „organischen“ und der „romantischen“ Natur zu unterscheiden, wenn man darüber nachdenkt, welche Natur die maschinenverliebten Futurist:innen als „dunkle Macht“ oder „tollwütigen Hund“ (Marinetti) fürchteten.
In verschiedenen weiteren Beiträgen und Diskussionsrunden ging es um das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie im Sinne eines Kontrasts zwischen der dominierenden großstädtischen und den ländlichen, volkstümlichen, althergebrachten, kolonialen oder indigenen Kulturen.3 Im Panel „Uncivilized“ interpretierte MARINA PROTRKA ŠTIMEC (Zagreb) die Hinwendung des jugoslawischen Zenitismus zu Barbarei und Primitivismus als Ablehnung der westlichen Zivilisation mit ihren sozialen Regeln und ihrem Utilitarismus durch die Bohème der Zwischenkriegszeit.
Natürlich wurden von den beiden Hauptvorträgen theoretische oder methodologische Überlegungen erwartet, und beide erfüllten dieses Versprechen, wenn auch auf recht unterschiedliche Weise. In seinem Vortrag „The Globalisation of the Avant-Garde: A User's Manual“ sinnierte der britische Künstler und Kunsthistoriker PAUL WOOD (Milton Keynes) über verschiedene Definitionen und Auffassungen von Avantgarde im Laufe der Zeit nach. Er kam zu dem Schluss, dass die osteuropäische aktivistische Kunst des 21. Jahrhunderts, produziert in selbsternannten illiberalen Demokratien, möglicherweise nur die zeitgenössische Inkarnation des politisch engagierten Teils der historischen Avantgarde ist. Wood lieferte auch eine ausführliche polemische Antwort auf Sascha Brus Buch The European Avant-Gardes, 1905-1935: A Portable Guide (2018), in dem er über die „aufkommende Orthodoxie der postkolonialen Kritik und Identitätspolitik“ reflektiert. Zwar zitierte Wood in seinem Überblick fast ausschließlich weiße westliche Autor:innen. Man kann ihm dennoch nicht vorwerfen, er hätte die jüngsten Debatten um die Idee einer Weltkunstgeschichte aus den Augen verloren. Der Titel seiner Monografie Western Art and the Wider World (2013) könnte jedoch einen Aspekt des Problems offenbaren, das er mit der jüngsten innovativen Forschung zu haben scheint – und das Problem, das die meisten Zuhörer:innen mit seiner Keynote hatten. Die Berücksichtigung des „Rests der Welt“ ergibt für Wood lediglich zur Beseitigung der Hinterlassenschaften des Kolonialismus Sinn. Dies ist natürlich eine respektable Absicht, ein Teil des Ansatzes ist dennoch falsch. Wenn der „Rest der Welt“ nur in Bezug auf den (schuldigen) Westen betrachtet werden sollte, sind wir mit der Reproduktion globaler Narrative konfrontiert, die immer noch eurozentrisch sind. Interessanterweise wollte Wood selbst einen Trugschluss aufdecken, nämlich die Art und Weise, in der die heutigen Verfechter:innen der Identitätspolitik sich oft in einer unkritischen Akzeptanz der globalen Ausbreitung des neoliberalen Kapitalismus verfangen und dabei die materiellen Dimensionen der neokolonialen Beziehungen nicht erfassen. Sein konkretes Beispiel für „culture washing“ war Klara Walkers Installation in der Tate Modern (Fons Americanus, 2019), die sich mit der gewalttätigen Rassenpolitik des britischen Empire auseinandersetzt. Bei der Herstellung des großformatigen Skulpturenbrunnens wurde weitgehend auf die Verwendung von nicht recycelbaren Materialien und schädlichen Stoffen verzichtet. Gleichzeitig wurde das Werk von Hyundai in Auftrag gegeben, einem Unternehmen, das dafür bekannt ist, lokale Fischergemeinden skrupellos auszulöschen, wenn es eine neue Fabrik errichten will.
Die zweite Keynote von MING TIAMPO (Carleton), „Pluriversal Avant-gardism: Unworlding, Reworlding, and Worlding the Avant-Garde“ erläuterte die Art theoretisch-methodischer Ansätze, die (Kunst-)Historiker:innen im Zusammenhang mit Nicht-Kernregionen der Welt verfolgen sollten, wo sie sich nicht einfach dem modernistischen (westlichen) Kanon und dem durch ihn vermittelten Wissen unterwerfen wollen. 4
Tiampos Ansatz in Bezug auf diese "Hausaufgaben" war umso interessanter, als die von ihr skizzierten asiatischen Kontexte - Indien, Japan, China - zweifellos einige Merkmale mit dem Status Osteuropas im kunsthistorischen Kanon teilen. Die Progressive Artists' Group im Bombay der Jahrhundertmitte wuchs beispielsweise in einer besonderen Konstellation des Kolonialismus heran, in der eine umfassende Ablehnung der Kultur der Kolonialmacht nicht möglich war. Das Gespenst der Selbstkolonisierung 5 sucht offenbar auch asiatische Künstler:innen und Denker:innen heim, nur wird es anders ausgedrückt – als die ständige Ahnung, „in Sklaverei geboren zu sein“. Die eigene lokale Moderne als ein Phänomen zu betrachten, das in größere globale Ströme eingebunden ist, und nicht als eine Art idiosynkratische oder isolierte nationale/regionale Besonderheit, war eine weitere Lektion, die wir mit nach Osteuropa nehmen wollen. Die Rednerin beschrieb den „kulturellen Merkantilismus“ 6 als unmoralische Machtausübung, die nicht-westliche Künstler:innen aus dem Gesamtnarrativ der Moderne ausschließen will, was dieses Narrativ eindeutig verarmen lässt; ein Aspekt, der wiederum in ostmitteleuropäischen Ressentiments mitschwingt. Kunstgeschichte transversal zu denken, erlaubt es, Orte, die nicht in sichtbarem Kontakt standen, in sinnvolle Beziehung zu bringen. So wird Raum für die Würdigung weniger offensichtlicher Verbindungen und lateraler Netzwerke geschaffen.
Tiampo veranschaulichte anhand einer Anekdote einen souveränen Weg, mit der Dominanz euro-amerikanischer Denkweisen und dem Primat solcher Vorfahren zu brechen. Diese Geschichte beschreibt eine kreative Geste, die auch für osteuropäische Konzeptkünstler typisch war. Ushio Shinohara, der in den frühen 1960er Jahren für seine „Imitationskunst“ berüchtigt war, fertigte eine Kopie von Robert Rauschenbergs Coca-Cola-Plan (1958) an und überreichte Rauschenberg seine Kopie, als der Amerikaner einige Jahre später Japan besuchte. Rauschenberg verstand diese Geste eindeutig als Hommage und reagierte erfreut: „Mein Sohn, mein Sohn!“ Weniger erfreut war er jedoch, als Shinohara zugab, dass er tatsächlich zehn solcher Kopien angefertigt hatte. Der japanische Künstler untergrub damit sowohl den Wert des Coca-Cola-Plans als Original als auch Rauschenbergs Beharren auf dem Status des Originalgenies. Er besiegte Rauschenberg sozusagen auf dessen eigenen Terrain.
Anmerkungen:
1 Das Programm des Kongresses kann online eingesehen werden: https://bitok.datastore.pt/scimeet-prod/cms/eam2022lisbon.sci-meet.net/7a8b66e7-80df-4dc1-a916-ff55b9b41e8d/Programme-updated30.08.2022.pdf
2 Harsha Ram, Futurist Geographies: Uneven Modernities and the Struggle for Aesthetic Autonomy: Paris, Italy, Russia, 1909-1914, in: Mark Wollaeger (Hrsg.), The Oxford Handbook of Global Modernisms, Oxford 2013), pp. 313–340.
3 Der Blick über Europa hinaus, wurde in Panels wie “African Vanguards”, “An Oceanic Avant-Garde?” und “Indigenous Energies” besprochen. Sie werden in diesem Bericht nicht näher behandelt, da der Fokus auf Beiträgen über und aus Mittelosteuropa liegt.
4 Meine Gedanken zu dem Thema sind in dem Kapitel “Constructing and bringing gendered identities into representation” zu finden, in: Beáta Hock, Gendered Creative Options and Social Voices: Politics, Cinema and the Visual Arts in State-socialist and Post-socialist Hungary, Stuttgart 2013, pp. 15–45.
5 Der Begriff stammt vom bulgarischen Theorist Alexander Kiossev, siehe: „Notes on Self-Colonising Cultures“, in: Bojana Pejić / David Elliott (Hrsg.): After The Wall: Art and Culture in Post-Communist Europe, Stockholm 1999, S. 114–118.
6 Eine umfassende Diskussion findet sich in Tiampos Texten zu Gutai: Decentering Modernism (Chicago University Press, 2011) sowie in “Cultural Mercantilism: Modernism’s Means of Production” erschienen in “Globalization and Contemporary Art” hrsg. von Jonathan Harris, Hoboken 2011, S. 212–24.