Civil Servants, Work, and Life Course

Civil Servants, Work, and Life Course

Organizer(s)
Internationales Geisteswissenschaftliches Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive/Work and Human Life Cycle in Global History“
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
14.06.2010 -
Conf. Website
By
Christian Teichmann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Den Staat beschrieb Michel Foucault einmal als „eine bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit, eine mythifizierte Abstraktion, deren Bedeutung viel beschränkter ist, als man glaubt“. Mit der Betonung der institutionellen und personellen Heterogenität von Staaten wandte sich Foucault gegen die Überbewertung ihrer institutionellen Einheitlichkeit und Individualität. Vielmehr müsse die Untersuchung von Staatsdenken und Regierungspraktiken historisiert werden, um durch die Analyse der normativen Grundlagen und der disziplinierenden Verfahren ein genaueres Bild von den Veränderungen der Staatlichkeit zu gewinnen.1 Das Diktum Foucaults ist in aller Munde. Nur selten wird es allerdings in sozialwissenschaftlichen und historischen Forschungsprojekten konkretisiert.

Der Workshop „Civil Servants, Work, and Life Course“ setzte inhaltlich an dieser Stelle an. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschäftigten sich mit Staatsbedientesten als distinkter sozialer Gruppe, deren Aufgabe es ist, durch ihre alltägliche Arbeit den Staat am Leben zu halten und zu tragen. In vergleichender Perspektive stellten die Referentinnen und Referenten die unterschiedlichen Funktionsweisen staatlicher Institutionen in Afrika und Europa dar und zeichneten die Veränderungen des Dienstverständnisses der Staatsbediensteten nach. Dabei stand die Frage im Vordergrund, wie sich die Arbeitseinstellung von Staatsbediensteten in sich wandelnden politischen und biographischen Kontexten verändert und wie dieser historische und lebensweltliche Wandel auf die Staatlichkeit zurückwirkt.

Der erste Teil des Workshops befasste sich aus ethnologischer Perspektive mit Staatsbediensteten in Westafrika. Insbesondere ging es um die Handlungsbedingungen, unter denen Amtsträger im Bildungswesen, im Gesundheitsbereich und bei der Polizei arbeiten. Alle drei Bereiche staatlichen Engagements bilden ein „bureaucratic interface“ zwischen Staat und Bevölkerung – eine Schnittstelle, deren Untersuchung entscheidend für das Verständnis der postkolonialen Staatlichkeit in Afrika ist. JEAN-PIERRE OLIVIER DE SARDAN zeigte am Beispiel von Geburtskliniken in Niger, dass staatliche Aufgaben nur durch die Anwendung „praktischer Normen“ vor Ort realisierbar sind: Zwar ist in Westafrika der Staat nicht abwesend und fern, sondern durch seine Repräsentanten und seine Symbole weithin sichtbar. Die „offiziellen Normen“ des Staates sind der Bevölkerung auch gut bekannt. Gleichwohl gewährleistet erst das nicht-normenkonforme Verhalten der Mitarbeiter staatlicher Institutionen die Bereitstellung der nachgefragten Dienstleistungen für die Bevölkerung. Um die tatsächliche Funktionsweise dieser Bereitstellungsverfahren zu beschreiben, müsse man die „professionelle Kultur“ der Staatsbediensteten in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen verstehen, indem man ihre alltäglichen Arbeitsabläufe und Problemlösungsstrategien untersucht.2

Auf welchen Wegen staatliche Dienstleistungen verfügbar gemacht werden, wie staatliche und private Initiative ineinandergreifen und welche Rolle Entwicklungshilfeorganisationen in diesem Prozess spielen, untersuchte THOMAS BIERSCHENK am Beispiel der Polizeiarbeit und des Erziehungssektors. Für Bierschenk ist die Metapher des „Staates als Baustelle“ ein geeigneter Ausgangspunkt, um die „komplexen normativen Universen“ der staatlichen Bürokratien zu erfassen, innerhalb derer die Staatsbediensteten in Westafrika agieren. Den Staat verglich Bierschenk mit einem Haus, das fortwährend umgebaut und niemals fertiggestellt wird; in diesem Haus funktionieren einige Bereiche effizient, während andere verfallen und verlassen sind. Die hohe institutionelle Komplexität, die die westafrikanischen Bürokratien auszeichne, entstehe nicht nur durch die wechselhaften Vorgaben der Zentralregierung, sondern auch durch das Agieren der internationalen Entwicklungshilfeorganisationen, die in Konkurrenz zu den staatlichen Institutionen stünden. Die Staatsbedientesten reagierten unterschiedlich auf die widersprüchlichen und realitätsfernen Normenvorgaben in diesem institutionellen Gefüge: Manche versuchten durch Weiterqualifizierung einen besseren Status innerhalb der Bürokratie zu erlangen, andere suchten nach Tätigkeiten außerhalb des staatlichen Sektors und wieder andere reagierten mit Korruption und der Privatisierung staatlicher Dienstleistungen. Aus seinen Beobachtungen folgerte Bierschenk, dass es bei der ethnologischen Erforschung postkolonialer Staatlichkeit nicht darum gehen müsse, zu zeigen, „was der Staat sieht“, sondern darum, wie die Staatsbediensteten ihre Welt wahrnehmen.3

GERD SPITTLER nahm in seinem Kommentar die Frage Thomas Bierschenks auf, „was Staaten tun, wenn sie bei der Arbeit sind“. Er stellte drei Aspekte heraus: Erstens unterstrich er die Bedeutung der Arbeiten Lorenz von Steins für die Untersuchung staatlichen Alltagshandelns. Steins Unterscheidung der „Haupt- und Staatsaktionen“ von der Alltagsarbeit der Staatsverwaltung müsse auch für die ethnologische Feldforschung erkenntnisleitend sein. Damit hob Spittler zweitens die entscheidende Rolle der genauen Beobachtung staatlicher Akteure in der Feldforschung hervor, die durch die Untersuchung der „interface bureaucrats“ gewährleistet sei. Drittens sollte jedoch die Untersuchung von Staatlichkeit in Afrika nicht auf die institutionellen Veränderungen seit der Kolonisierung verkürzt werden. Vielmehr sei es nötig, auch die vorkolonialen Herrschaftstraditionen und ihre kulturellen Symbole in den Blick zu nehmen.4

Im zweiten Teil des Workshops wurde das Themenfeld um historisch-soziologische und vergleichende Aspekte erweitert. ANDREAS ECKERT ging in seinem Beitrag auf die Folgen der Dekolonisierung für den Beamtenapparat in Tansania ein. Für die tansanischen Amtsträger bedeutete das „Arbeiten für die Nation“ Selbstdisziplin und ehrgeizige Reformprojekte. Politik und Verwaltung sollten dazu eine enge Verbindung eingehen. Gerade die Staatsbediensteten, die Berufserfahrung in der britischen Kolonialverwaltung gesammelt hatten, formierten sich nach der Unabhängigkeit 1961 als elitäre und durchsetzungsstarke Gruppe. Dies sorgte schnell für Spannungen mit den Mitgliedern der Einheitspartei TANU, der auch die staatlichen Amtsträger beitreten mussten. Auch sahen weite Teile der Bevölkerung die Arbeit der Staatsbeamten zunehmend negativ und distanzierten sich von den „Profiteuren der Nationalisierung“. Als ungeduldige Modernisierer hatten die Beamten ihrerseits kein Verständnis für die „Ignoranz“ der Bevölkerung, die „ihre Pflichten nicht versteht“. In den Krisenjahren zwischen 1967 und 1976 verstand es Präsident Julius Nyerere hervorragend, die negative Haltung der Bevölkerung gegenüber den Beamten zur Sicherung seiner politischen Macht auszunutzen. Das Prestige des Staatsdienstes sank. Über das Dienstethos und die Arbeitspraxis der Staatsbediensteten in Tansania während der 1960er- und 1970er-Jahre ist dennoch insgesamt wenig bekannt.

Für den Fall Russlands und der frühen Sowjetunion lässt sich das Gegenteil behaupten. Es liegt eine Reihe von Untersuchungen zu den russischen Staatsbediensteten, ihrem Arbeitsethos und dem Wandel ihrer Einstellungen zum Staat vor.5 Darum wählte THERESE GARSTENAUER einen vergleichenden Zugang: Sie stellte das nachrevolutionäre Russland dem Österreich der Zwischenkriegszeit gegenüber. Hier wie dort gab es in den frühen 1920er-Jahren Kampagnen gegen die Überbürokratisierung und in den 1930er-Jahren politisch motivierte Säuberungen des Staatsapparats. Hier wie dort wurde den Staatsbediensteten vorgeworfen, gegen die neue Herrschaftsordnung zu arbeiten. Doch führte die Entwicklung in Österreich nicht zur Auslöschung der alten Beamtenklasse, wie dies in Russland in den Terrorwellen zwischen dem Beginn der „Kulturrevolution“ 1928 und dem Ende der „Massenoperationen“ 1939 geschah. Vielmehr blieben die bürokratischen Strukturen trotz einschneidender politischer Veränderungen intakt. Den Strukturvergleich verband Therese Garstenauer mit einem lebensgeschichtlichen Ansatz: Wie gingen die sowjetischen und österreichischen Staatsbediensteten in einer Zeit der Krise mit politischer Unsicherheit, Einkommensrückgang und Statusverlust um?

In ihrem Kommentar zu Therese Garstenauers Vortrag wies JULIA ECKERT darauf hin, dass neben den sozial- und kulturgeschichtlichen Aspekten der Erforschung von Arbeit und Lebensläufen von Staatsbediensteten auch ideologische Faktoren in Betracht gezogen werden sollten: Wie sehen sich die Beamten im Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber? Was bedeuten „Staat“ und „Dienst am Staat“ für sie? In Anspielung auf den Titel von Andreas Eckerts Beitrag „We must run while others walk“ (ein Zitat des tansanischen Präsidenten Julius Nyerere) stellte ISAÏE DOUGNON in seinem Kommentar die Frage, worauf die Metapher des Nachlaufens abziele: Wer wird hier verfolgt? Hat man eine Chance, jemals aufzuholen? Er äußerte Zweifel an Andreas Eckerts These vom sinkenden Prestige des Staatsdienstes. Denn in vielen frankophonen afrikanischen Staaten sei dies gegenwärtig einer der wenigen Bereiche, in denen Aussicht auf eine einigermaßen sichere Berufslaufbahn bestehe. Der Staat sei – in Dougnons Worten – eine „Milchkuh für die zahlreichen Karrieristen“.

Auf die „Veränderungen der Subjektivität von Amtsträgern“, die für europäische Beamte und Staatsangestellte aus den Verwaltungsreformen seit den späten 1970er-Jahren erwachsen sind, ging PETER BECKER (der krankheitsbedingt nicht anwesend sein konnte) in seinem Beitrag ein. Der von den Regierungen geforderte „Wandel von einem obrigkeitlichen zu einem dienstleistungsorientierten Aufgabenverständnis“ stelle Beamte und Angestellte vor die Herausforderung, mit „selbstbewussten Bürgern“ als „Kunden“ umzugehen zu müssen; statt Normendurchsetzung sei nun das „Aushandeln von Geltungsansprüchen mit Vertretern von Interessengruppen“ gefordert. Gestützt auf die Arbeiten der Soziologin Fabienne Hanique fragte Berger, welche Folgen der technologische Wandel und die Veränderung der Rollenerwartungen auf die Selbstsicht und den Berufslebenslauf von Amtsträgern haben. Am Beispiel des Bürgerbüros im österreichischen Linz legte er dar, wie sich die Lockerung von behördlichen Hierarchien und Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf die lokale Ebene in den Arbeitsabläufen der Behörden und der Selbstdarstellung ihrer Mitarbeiter niederschlägt.

In der Abschlussdiskussion wurden drei Themenkomplexe besprochen: die veränderliche gesellschaftliche Bedeutung des „civil service“, die Schwierigkeit der historischen Rekonstruktion von Berufsbiographien und der Vergleich europäischer und außereuropäischer Modelle von Staatlichkeit. Als Ergebnis des Workshops wurde festgehalten, dass in vielen Ländern – insbesondere in Afrika – die Attraktivität des Staatsdienstes in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten massiv abgenommen habe. In der Dekolonisierungsphase bedeutete eine Karriere in der Staatsverwaltung Ausbildung, Versorgungssicherheit und soziales Prestige, während Staatsdienst heute Entbehrung, Unsicherheit und persönliche Abhängigkeit heißen kann. Die Rekrutierungsmuster und die soziale Zusammensetzung der Mitarbeiter staatlicher Institutionen haben sich verändert. Wer Karriere machen will, arbeitet nicht mehr (immer) für den Staat.

Diese Entwicklung macht es zu einer Herausforderung, den Zusammenhang zwischen Staatsdienst, Berufsbiographie und Staatlichkeit zu erforschen: Familien mit langer Berufstradition im postkolonialen Staatsdienst bilden ihre Kinder heute zu Ärzten oder Technikern aus; Karrieren von Staatsbediensteten sind weniger normiert und darum schwieriger zu verfolgen; politische Veränderungsprozesse wie die „Demokratisierung“ in Westafrika führen zu schwächeren Staatsstrukturen und der Privatisierung von Dienstleistungen. Das „Goldene Zeitalter“ des Staatsdienstes ist in vielen außereuropäischen Regionen vorbei. Die Folgen dieser Entwicklung gaben den Workshop-Teilnehmern dazu Anlass, die Vielgestaltigkeit und den Formenreichtum des Staates zu unterstreichen: Den europäischen Staat gab es nie, sondern immer nur eine Vielzahl mehr oder weniger idealisierter europäischer Staatsmodelle. Gleichermaßen gab es viele unterschiedliche Formen des Kolonialstaats. Auch von einem unilateralen Transfer von Staatswissen und Verwaltungstechniken von „Europa“ in die koloniale Welt kann nicht gesprochen werden. Dementsprechend sind für die Erforschung globaler Staatlichkeit genaue Beobachtung und nicht-normative Analysekategorien gefragt. Ein dazu gut geeigneter Untersuchungsgegenstand, so demonstrierte der Workshop, ist die Lebenshaltung und Arbeitsweise von Staatsbediensteten.

Konferenzübersicht:

Jean Pierre Olivier de Sardan (Niamey/Marseille): The Bureaucratic Mode of Governance and the Provision of Public Goods in Niger and Beyond

Thomas Bierschenk (Mainz): States at Work. Empirical Perspectives on Public Bureaucracies in Africa

Discussant: Gerd Spittler (Bayreuth/Berlin)

Andreas Eckert (Berlin): „We Must Run While Others Walk“. African Civil Servants and Bureaucratic Practices in Tanzania, 1950s to 1970s

Therese Garstenauer (Wien/Berlin): Comparative Perspectives on Austrian and Soviet Civil Servants (Inter-War Period)

Peter Becker (Wien): Changing Personae. From Public Officials to Provider of Public Services

Discussants: Julia Eckert (Bern); Isaïe Dougnon (Bamako/Berlin)

Final Discussion

Anmerkungen:
1 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978, Frankfurt am Main 2004, S. 163.
2 Zu den Ergebnissen vgl. Jean-Pierre Olivier de Sardan, Local Governance and Public Goods in Niger, APPP Working Paper No. 10, Brighton 2010; <http://www.lasdel.net> (01.12.2010).
3 Vgl. Thomas Bierschenk, States at Work in West Africa. Sedimentation, Fragmentation and Normative Double-Binds, Mainz 2010; <http://www.ifeas.uni-mainz.de/workingpapers/AP113.pdf> (01.12.2010).
4 Vgl. Gerd Spittler, Herrschaft in Gobir. Sakrales Königtum oder Despotie?, in: Katharina Inhetveen / Georg Klute (Hrsg.), Begegnungen und Auseinandersetzungen. Festschrift für Trutz von Trotha, Köln 2009, S. 210-232.
5 Unlängst Ilya V. Gerasimov, Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia. Rural Professionals and Self-Organization, 1905-1930, London 2009; Matthew Rendle, Defenders of the Motherland. The Tsarist Elite in Revolutionary Russia, Oxford 2010; Paul Hagenloh, Stalin’s Police. Public Order and Mass Repression in the USSR, 1926-1941, Washington, DC 2009.


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Published on
08.12.2010
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