Transnationale Geschichte als Herausforderung der wissenschaftlichen Historiografie

Von
Hannes Siegrist, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Der vorliegende Essay befasst sich mit zentralen methodischen Herausforderungen an eine transnationale Historiografie. Wenn wir Transnationalisierung, De-Nationalisierung, Nationalisierung und Re-Nationalisierung als interdependente Prozesse begreifen, deren gemeinsamer – positiver oder negativer – Referenzpunkt die moderne Nation ist, können wir den Beginn des Zeitalters, das durch die Spannung zwischen Nationalisierung und Transnationalisierung gekennzeichnet ist, ins 18. Jahrhundert datieren. Seitdem werden immer weitere Teile der Welt von dieser Dynamik erfasst. Das Ende des Zeitalters der Nation wird zwar ständig beschworen, ist aber nicht wirklich in Sicht. Die Debatte über die Transnationalisierung kann auch als Ausdruck eines Formwandels der Nation in einem neuen transnationalen Umfeld verstanden werden, der nicht unbedingt auf deren Ende hinweist.

Von der monoperspektivischen zur multiperspektivischen Historiografie
Um 1900 wurde der genetisch-individualisierende Historismus als die dominante Methode der Nationalgeschichtsschreibung institutionalisiert. Um 2000 mehrten sich die Anzeichen dafür, dass das Zeitalter der transnationalen Geschichtsschreibung anbricht. Historiker/innen, die sich nicht mehr auf die monoperspektivische Nationalgeschichte beschränken wollen, denen es nicht genügt, die Geschichte eines Landes und eines Nationalisierungsprozesses genetisch und individualisierend zu rekonstruieren, können nicht mehr allein auf die klassischen Methoden des Historismus abstellen. Transnationale Geschichtsschreibung erfordert also nicht nur größere und vielfältigere geschichtliche und sprachliche Kenntnisse, sondern auch Methoden und wissenschaftliche Regeln, die sich für die Behandlung vieler Geschichten und komplexerer Zusammenhänge besser eignen als der klassische Historismus. Zahlreiche große und kleine Geschichten von der lokalen bis zur globalen Ebene müssen unter allgemeinen und besonderen Gesichtspunkten erschlossen, interpretiert und in ein kohärentes und hierarchisches System von Aussagen gebracht werden.

Strukturierung und Institutionalisierung von Raum und Zeit
Die Prozesse der Nationalisierung, Transnationalisierung, Europäisierung und Globalisierung schließen sich in gewissen Hinsichten aus, können sich in anderen Hinsichten aber auch ergänzen und gegenseitig verstärken. So oder so handelt es sich um Formen der räumlichen und zeitlichen Strukturierung und Institutionalisierung gesellschaftlicher, rechtlicher, politischer, kultureller und wirtschaftlicher Ordnungen. Nationalisierung und Transnationalisierung beruhen auf Prozessen und Strategien der kulturellen, gesellschaftlichen und materiellen Differenzierung, Exklusion, Distinktion und Diversifizierung auf der einen Seite, der Entdifferenzierung, Inklusion, Nivellierung und Homogenisierung auf der anderen. Um diese Prozesse zu analysieren und zu begreifen, brauchen wir Begriffe, Theorien, Erhebungs- und Auswertungsmethoden, die uns helfen, viele Fälle und deren Interdependenzen unter ausgewählten Gesichtspunkten systematisch in Beziehung zu setzen. Solide Kenntnisse der klassischen und neueren Theorien, der Narrative und Methoden der Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften sind für die transnationale Geschichtsschreibung genau so unerlässlich wie für die Nationalhistoriografie. Der Wechsel von der Einzelfall-Geschichte, zum Beispiel von der Lokal- oder Nationalgeschichte, zur transnationalen Geschichte ist für viele traditionell ausgebildete Historiker/innen allerdings mehr als ein bloßer Wechsel des Untersuchungsgegenstandes. Mit der steigenden Zahl der Fälle, der Vervielfachung der Beziehungen und der Ausdehnung der räumlichen Dimension nimmt die Komplexität exponential zu; deshalb ändern sich auch die Anforderungen an die kognitiven Kompetenzen und wissenschaftlichen Methoden der Forschung und Darstellung.

Historische Komparatistik in Verbindung mit transfer-, interaktions- und kommunikationsgeschichtlichen Ansätzen
Zur Behandlung mehrerer Fälle und deren Interdependenzen besonders geeignet sind erprobte historisch-komparative sowie interaktions-, kommunikations- und mediengeschichtliche Ansätze und Methoden. Die einen kommen nicht ohne die anderen aus. Die historische und sozialwissenschaftliche Vergleichsforschung hat traditionell den Schwerpunkt auf die theoretisch geleitete Analyse der inneren Strukturen und Prozesse mehrerer Vergleichseinheiten gelegt. In den letzten Jahrzehnten sind in stärker qualitativ orientierten historischen Vergleichsstudien über zwei, drei Länder die Input- und Output-Beziehungen, Überlappungsprozesse und die Probleme der Wahrnehmung, Deutung und Verarbeitung externer Phänomene stärker berücksichtigt worden.1 Die Forschung über den Austausch symbolischer und materieller Artefakte und das Aushandeln von deren Bedeutung und Funktion im jeweiligen Kontext ist das zentrale Anliegen der Forschung über Kulturtransfer- und interkulturellen Transfer. Die sprach- und kulturwissenschaftliche Forschung über Interkulturalität und Transkulturalität konzentriert sich auf die Analyse sprachlich vermittelter Interaktion und Kommunikation. In der Politikwissenschaft tritt die Governance-Forschung, die den Kreis der untersuchten Akteure erweitert und die Interdependenz und Hierarchie der nationalstaatlichen, internationalen und transnationalen Regelungs- und Koordinationsprozesse untersucht, an die Seite der klassischen international vergleichenden Policy-Forschung. Die Richtungen der historischen Komparatistik sowie der Transfer- und Interkulturalitätsforschung sind in den letzten Jahren in Ansätzen, die sich als „geteilte Geschichte“, „verflochtene Geschichte“ oder „sich überkreuzende Geschichte“ bezeichnen, in der einen oder anderen Weise variiert und territorial erweitert worden.

Diese Bemühungen machen deutlich, dass die transnationale Historiografie zur erfolgreichen Behandlung ihrer komplexen Probleme verschiedene Methoden und intellektuelle Verfahren verbinden muss. Aufrufe zur Beschränkung des thematischen Blicks oder zum Tragen methodischer Scheuklappen sind angesichts des verschärften Wettbewerbs um Positionen, Deutungsmacht und Ressourcen zwar auch immer wieder zu hören. Angesichts der Komplexität der transnationalen Geschichtsschreibung sind sie jedoch wenig hilfreich. Deshalb plädiere ich grundsätzlich für eine problemlösungsorientierte Verbindung der Ansätze.

Wenn ich im Folgenden diese Verbindungen stärker aus der Perspektive der vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte skizziere, so hat das biografische und sachliche Gründe. Ich habe in den späten 1970er-Jahren den vergleichenden Ansatz bei Jürgen Kocka in Bielefeld und bei Wolfram Fischer und Hartmut Kaelble in Berlin kennen gelernt und habe seitdem an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Kooperationen selber zur Erweiterung und Verfeinerung dieser Richtung beigetragen; seit den späten 1990er-Jahren zusammen mit Matthias Middell in Leipzig auch zur Verbindung mit den transfergeschichtlichen Ansätzen. Die historische Komparatistik hat aufgrund ihrer Tradition und Institutionalisierung sowie aufgrund der Quantität und Qualität der theoriegeleiteten und empirischen Forschungsarbeiten die internationale und transnationale Historiografie in Deutschland, weiten Teilen Europas und einigen weiteren Weltregionen stark geprägt. Die Forschungsansätze, die sich auf die Interaktion und Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen und kulturellen Akteuren und Einheiten konzentrieren, sind etwas später in Gang gekommen; sie haben aber das unbestreitbare Verdienst und das Potential, Formen der Interaktion, Interdependenz und Kommunikation zwischen den Akteuren und so genannten Einheiten genauer zu explizieren und zu modellieren.2

Ähnlichkeiten und Unterschiede
Der historische Vergleich von Gesellschaften und Kulturen will Ähnlichkeiten und Unterschiede der Definition eines Problems (bzw. des Umgangs mit diesem) in verschiedenen gesellschaftlichen Konstellationen und kulturellen Kontexten verstehen und erklären. Die Grundannahme lautet, dass es – in gewissen Hinsichten – zwar universelle und zeitindifferente menschliche Fähigkeiten und Bedürfnisse sowie Grundformen des symbolischen und sozialen Handelns geben mag, dass diese aber durch die jeweilige Gesellschaft, Kultur und Geschichte spezifisch strukturiert und überformt werden. Kulturelle Artefakte, Institutionen und soziale Praktiken bekommen so ihre orts- und zeitspezifische Form, Bedeutung und Funktion. Indem sich Erfahrungen und Erinnerungen in kollektiven kulturellen Gedächtnissen ablagern und in Institutionen verfestigen, wird die Geschichtswissenschaft selber zu einer Instanz, welche die Herstellung, Wahrnehmung und Deutung von Ähnlichkeiten und Unterschieden bestimmt – und ermöglicht.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die vergleichende Sozial- und Kulturgeschichte ihre spezifische Aufgabe. Diese besteht darin, soziale, symbolische und materielle Formen und Praktiken im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zu begreifen, zu erklären und zu verstehen. Die vergleichende Geschichtswissenschaft bezieht die Einzelphänomene auf abstraktere Grundformen, Funktions- und Bedeutungsmuster und fragt nach den Voraussetzungen, Formen und Folgen von Institutionen und Praxisformen in Zeit und Raum. Sie liefert die Grundlagen für eine methodisch kontrollierte, systematische und empirisch fundierte Forschung über die Verräumlichung und Verzeitlichung sozialer, wirtschaftlicher, politischer, rechtlicher und kultureller Ordnungen und Entwicklungspfade in Europa und der Welt. Begriffsbildungen, Abstraktionen und Synthesen in gesellschafts- und kulturvergleichender, inter- und transkultureller Perspektive beruhen in jedem Fall darauf, dass mehrere – mehr oder weniger verräumlichte, verzeitlichte und interdependente – Geschichten, Entwicklungspfade und Erfahrungswelten unter einem bestimmten Erkenntnisinteresse analysiert und auf einen gemeinsamen, übergeordneten Referenzhorizont bezogen werden.

Die Leitthemen des historischen Gesellschafts- und Kulturvergleichs und der historischen Transferforschung sind die Verräumlichung und Verzeitlichung sozialer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller und rechtlicher Strukturen und Prozesse. Die erkenntnisleitenden Begriffe sind Multiperspektivität, Interkulturalität, Selbstreflexivität.3

Differenzierung und Distinktion
Sowohl die Vergleichsforschung im engeren Sinn als auch die Interaktions-, Interkulturalitäts- und Transferforschung befassen sich mit den Voraussetzungen, Formen und Folgen sozialer und kultureller Differenzen und Differenzierungsprozesse. Aus historischer und systematischer Sicht sind Unterschiede und Ähnlichkeiten das Ergebnis von Prozessen der symbolischen und sozialen Differenzierung bzw. Entdifferenzierung. Je nach erkenntnistheoretischem Standpunkt gelten Unterschiede und Ähnlichkeiten als „objektiv“ gegeben; als Ergebnis zirkulärer, selbstreferentieller Systeme; als Produkte der Wahrnehmung, die durch vorgegebene Diskurse und Begriffe bestimmt ist; oder als Ergebnis der interaktiven Aushandlung von Bedeutung und Sinn. Die intertemporal und interkulturell vergleichende Geschichts-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaft kann diese systematischen Positionen empirisch relativieren. Ausgangspunkte der historischen Komparatistik, Kommunikations- und Transferforschung sind

a) soziale und kulturelle Differenzen und deren Institutionalisierung in sozialen Konstellationen und kulturellen Kontexten, d.h. in und zwischen mehr oder weniger verräumlichten Gesellschaften und Sinnsystemen;

b) die Annahme, dass Differenzen und Ähnlichkeiten durch interaktive Prozesse in und zwischen sozialen und kulturellen Systemen (bzw. deren Angehörigen) hergestellt, ausgehandelt, festgestellt, institutionalisiert und mit Namen und Bedeutungen versehen werden.

Indem die zeitgenössischen Akteure sowie die späteren Historiker/innen Differenzen mit Hilfe von Deutungsrahmen interpretieren und bewerten, machen sie „Unterschiede“ zu „Unterscheidungen“ oder „Distinktionen“. Nur so ist zu verstehen, warum ein und der selbe Unterschied von den einen als kleiner, feiner oder gradueller betrachtet wird, von den anderen als fundamentaler und absoluter. Distinktionswissen, das sich im „Habitus“, in territorialisierten Selbst- und Fremdstereotypen, Theorien, historischen Narrativen und Diskursen über Sonderwege, partikuläre Geschichtspfade und Pfadabhängigkeiten manifestiert, macht aus vermeintlichen und realen Unterschieden bedeutsame Unterscheidungen, die durch entsprechendes Handeln auch sozial real werden.4

Wissenschaftliche Standards
Formale, durch eine ahistorische und kulturindifferente Logik und Wissenschaftstheorie begründete, Leitkategorien der vergleichenden und interkulturellen Forschung, wie Ähnlichkeit, Analogie, funktionales Äquivalent, Homologie, Gleichheit, Gemeinsamkeit, Verwandtschaft und Konvergenz sind für die empirische Forschung nützliche heuristische Instrumente, um Bedeutungen und Funktionen zu identifizieren, zu klassifizieren und zu relationieren. Sie werden von historischen Subjekten, die sich und die Umwelt vergleichen und aufeinander beziehen, sowie von den die Vergangenheit (re-)konstruierenden Historiker/innen allerdings jeweils in zeit-, kontext- und konstellationsspezifischer Weise und Absicht angewendet.

Die vergleichende, interkulturelle und transnationale Forschung hebt im Wesentlichen auf die allgemeinen Regeln der Wissenschaft ab. Sie variiert und entwickelt diese an bestimmten Punkten weiter, um die intellektuelle Distanz zu vergrößern, den Grad der Selbstreflexivität zu steigern, den Einfluss willkürlicher subjektiver, nationszentrischer, ethnozentrischer und anderer kulturalistischer Gesichtspunkte bei der Erhebung, Analyse und Bewertung zu reduzieren. Transnationale und globale Forschung genießt zurzeit einigen politischen und moralischen Kredit. Sie sollte sich indessen nicht primär moralisch oder politisch legitimieren. Sie muss sich in erster Linie wissenschaftlich legitimieren, nämlich durch Kriterien und Methoden, die sowohl intersubjektive als auch interkulturelle und transkulturelle Plausibilität und Überprüfbarkeit garantieren.

Anmerkungen:
1 Ich nenne in diesem etwas persönlicher gehaltenen Beitrag hier exemplarisch meine eigene Studie: Siegrist, Hannes, Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz (18.-20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1996. Ich habe in dieser Studie den Begriff transnationale Geschichte zwar schon gebraucht (S. 29-32), allerdings mit einigen Erklärungen versehen, da er unter Historiker/innen und Geisteswissenschaftler/innen Mitte der 1990er-Jahre noch unüblich war. Christophe Charle hat in der in den "Annales" veröffentlichten Rezension meiner Studie auf die Verbindung komparativer und transfergeschichtlicher Ansätze ausdrücklich hingewiesen.
2 Vgl. Kaelble, Hartmut; Schriewer, Jürgen (Hgg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2003. Dieser Band repräsentiert und dokumentiert in umfassender und differenzierter Weise den Forschungsstand über Vergleich und Transfer – insbesondere in Europa und Amerika. In den Zeitschriften „Geschichte und Gesellschaft“ sowie „Comparativ“ sind in den letzten Jahren wichtige Beiträge zur vergleichenden Geschichte und interkulturellen Beziehungsgeschichte im globalen Maßstab erschienen.
3 Vgl. ausführlicher und mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen: Siegrist, Hannes, Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft. Gesellschaft, Kultur und Raum , in: Kaelble, Hartmut; Schriewer, Jürgen (Hgg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2003, S. 305-339; Siegrist, Hannes; Petri, Rolf, Einleitung. Geschichten Europas. Kritik, Methoden und Perspektiven, in: Dies. (Hgg.), Problem und Perspektiven der Europa-Historiographie, Leipzig, 2004 [Comparativ 14,4 (2004), S. 7-14].
4 Derartige Prozesse sind in der Sozialpsychologie und Soziologie systematisch modelliert worden; so in der Theorie der kognitiven Konsonanz und Dissonanz, im symbolischen Interaktionismus und in der Kultursoziologie von Pierre Bourdieu.

Redaktion
Veröffentlicht am
16.02.2005
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Dieser Beitrag enstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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