Historischer Vergleich und lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung - Ein möglicher Weg zu einer integrierten Geschichte Europas

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Ekaterina Emeliantseva, Universität Zürich

Die jüngsten Debatten um die methodische Tragweite des historischen Vergleichs – insbesondere bei der Überwindung der nationalen Grenzen der jeweiligen historiografischen Traditionen – gingen kaum auf die Problematik eines mikrohistorischen Vergleichs ein. Doch gerade in der Verbindung der komparativen Sichtweise mit den Ansätzen einer kulturwissenschaftlichen Orientierung, die von der Ebene der handelnden Akteur/innen ausgeht, liegen noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten einer transnationalen Geschichtsschreibung.

Hans Medick hat bereits 1992 auf die Chancen mikrohistorischer Vergleiche hingewiesen und sich damit hinter das Plädoyer von Natalie Zamon Davis für einen „dezentrierenden Vergleich“ gestellt, der „nicht über die Einzelfälle hinweggeht, sondern sie stets als Bezugspunkt nimmt, von dem her die Frage nach den Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschieden historischer Phänomene und deren Erklärung zu stellen ist“.1

Die Forderung nach „dezentrierenden Vergleichen“, die leider lediglich auf einen mündlichen Konferenzbeitrag von Natalie Zamon Davis zurückgeht und seitdem nicht weiter ausgeführt wurde, nahmen das Editorial der Historischen Anthropologie 2 sowie das Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte in ihre Forschungsprogramme auf.3 Dabei unterstrichen die Befürworter dieser Form des Vergleichs insbesondere die folgenden beiden Momente: Erstens sollen bei diesem Vorhaben „Einzelfälle zu Beobachtungs- und Bezugspunkten“ werden; zweitens sollen „individual- und gruppenbiografische Zugänge mit Perspektiven auf gesamtgesellschaftliche und transnationale Prozesse“ verbunden werden. Nicht näher sind die Autor/innen darauf eingegangen, wie diese Forderungen methodisch zu bewältigen seien. Weiter zu führen scheint hier der Anschluss an eine lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung, wie sie unter anderem am Basler Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte vertreten wird.4

Wenn man von den Lebenswelten einzelner Individuen ausgeht, ist der Bezug zu Strukturen, großen Prozessen und Systemen bereits gegeben und muss nicht in einem weiteren analytischen Schritt vollzogen werden: Denn bei der Analyse einer individuellen Lebenswelt geht es um die Gefühle, Einstellungen und Wahrnehmungsweisen eines konkreten Menschen in ihrer Wechselwirkung mit der sozialen Umgebung, den materiellen Bedingungen, den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen und den vorherrschenden Ideologien. Die Lebenswelt lässt sich somit wesentlich durch die Beschreibung des Kommunikationsnetzes einer Person mit ihrer Umgebung erfassen. Die Analyse einer individuellen Lebenswelt bleibt daher nicht beim Zufälligen oder Beliebigen stehen. Der Einzelne ist eingebunden in ein Netz gesellschaftlicher Verbindungen zu anderen Menschen, zu ihren Lebenswelten, und wird bewusst und unbewusst mit strukturellen Bedingungen konfrontiert: Exemplarisch werden dabei gesellschaftliche Strukturen und Systeme analysiert. Aus der Sichtweise eines Individuums wird ein Ausschnitt der gesellschaftlichen Vorgänge entschlüsselt.

Bei diesem Vorgehen stellt sich die viel diskutierte Frage nach der Polarität von Makro- und Mikro-Geschichte, von großen Strukturen und dem einzelnen Menschen nicht: In den individuellen Lebenswelten bündeln sich Makro-Phänomene und individuelle Ansichten und Handlungsweisen.

Der im Umfeld der französischen Methodendiskussion um den Untersuchungsmaßtab 5 (échelle) formulierte Ansatz einer Histoire croisée, vertreten von Bénédicte Zimmermann und Michael Werner, kommt in einigen Punkten dem lebensweltlich angelegten Vergleich nahe.

Eine Überwindung nationalgeschichtlicher Standpunkte suchen die Autoren hier durch eine verstärkt selbstreflexive Forschungspraxis zu erreichen, in der die Beobachterposition in den Erkenntnisprozess mit einbezogen wird. Die Kreuzung und Bündelung unterschiedlicher Blickwinkel und Untersuchungsebenen löse die Verkürzungen eines symmetrischen Vergleichs sowie einer Transferanalyse auf und führe schließlich viel näher an das Transnationale.6 Den Ausgangspunkt solcher Analyse solle die Ebene der handelnden Akteur/innen bilden. Werner und Zimmermann bezeichnen dieses Vorgehen als „induktive Pragmatik“, die „von der Beobachtung der Dinge und Gegenstände ausgeht, von den Handlungssituationen, aus denen heraus die Objekte mit Sinn bedacht werden, schließlich von der Logik der Akteure“.7 Als Beispiel steht hier eine Disziplingeschichte, die von der Betrachtung der Situationen einzelner Wissenschaftler/innen ausgeht.

Das Anliegen einer lebensweltlich orientierten Geschichtsschreibung trifft an dieser Stelle mit dem Ansatz der Histoire croisée zusammen; geht es jedoch darum, historische Phänomene vom Menschen aus zu betrachten, formuliert der lebensweltliche Ansatz dieses Forschungsvorhaben präziser.

Wie könnte nun ein Vergleich, der von individuellen Lebenswelten ausgeht, die in unterschiedlichen gesellschaftlich-kulturellen Kontexten situiert sind, aussehen? Was ist der Anspruch eines lebensweltlich angelegten Vergleichs? Entgeht diese Vorgehensweise der Gefahr, eine zentristische Weltsicht implizit mitzutragen, wie dies etwa dem nationalgeschichtlichen oder dem modernisierungstheoretischen Paradigma eigen ist?

Zwei Beispiele aus der Forschungspraxis sollen hier die gestellten Fragen näher beleuchten.

Ein erstes Beispiel: Um sich den Strategien von „Kolonisierten“ im Rahmen der asymmetrischen Machtverhältnisse einer kolonialen Besetzung vertieft annähern zu können, versuchte Heiko Haumann die Perspektive der Urbewohner Amerikas und Sibiriens anhand zweier Frauenschicksale zu rekonstruieren.8 Aus der Gegenüberstellung zweier Konstellationen – des Schicksals der indianischen Häuptlingstochter Pocahontas, die einen Engländer heiratete, und der Geschichte der Chukchen-Frau Pylmau, die sich mit einem Kanadier verband – ergeben sich zunächst Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die Vorstellungen und Verhaltensweisen der Urbewohner. Zugleich erlaubt ein solches Vorgehen vertiefte Einblicke in die Kolonisierungsvorgänge im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext.

Der Anspruch einer solchen Form des Vergleichs besteht weder im Herausarbeiten von anthropologischen Konstanten noch in einem direkten symmetrisch angelegten Gesellschaftsvergleich. In erster Linie geht es hier um die punktuelle Vertiefung in unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte, die eine Annäherung an transnationale Phänomene aus der Sicht der handelnden Akteur/innen erlaubt.

Ein weiteres Beispiel: Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts „Vertraut und fremd zugleich. Juden in interkulturellen Beziehungen“, das am Historischen Seminar der Universität Basel zwischen 2001 und 2004 unter der Leitung von Heiko Haumann durchgeführt wurde, ging ein Forschungsteam der Frage nach dem Verhältnis von Nähe und Distanz in den Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in verschiedenen Gesellschaften und zu verschiedenen Zeiten nach.9

Überkommene christlich-antijüdische Stereotypen, unterschiedliche Wirtschaftsweisen, Bräuche und Verhaltensformen führten dazu, dass Jüdinnen und Juden in den untersuchten Gesellschaften zu „Fremden“ wurden. Nachbarschaftliche Nähe führte aber auch immer wieder zu Vertrautheit. Die Prämissen dieser Beziehungen und ihres Umschlagens in Aggressivität wurden von einem einheitlichen Ausgangspunkt aus untersucht – der Lebenswelt eines Individuums. Um das dichotomische Verhältnis von Vertrautheit und Fremdheit präziser erfassen zu können, arbeitete das Forschungsteam am gemeinsamen gedanklichen Modell der „Kontaktzonen“. Diese analytische Kategorie – geprägt von der Amerikanistin Marie Louise Pratt – beschreibt Kommunikationsorte und Interaktionen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, und zwar nicht unter der Perspektive der Segregation, sondern im Sinne von Kopräsenz, sich überschneidenden Auffassungen und Praktiken, oftmals mit stark asymmetrischen Zugängen zur Macht.

Das Modell der Kontaktzonen – erweitert durch die lebensweltliche Perspektive – konnte in allen Teilprojekten gewinnbringend angewandt und weiterentwickelt werden. Sichtbar wurden dabei jüdisch-christliche Kontaktzonen, die an verschiedenen realen und symbolischen Orten unterschiedliche Formen annahmen: im Warschau des ausgehenden 18., im schweizerischen Lengnau des 19. und im Lemberg des beginnenden 20. Jahrhunderts. Aus dem Blickwinkel einzelner Akteur/innen wurden Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden, etwa in der Schule, im Laden, auf dem Markt oder in der Wirtschaft, beim täglichen „Schwatz“, im Beruf, beim Aushandeln von Mietverhältnissen oder bei Geselligkeiten und Festen, in Vereinen und Institutionen, aber auch vor Gericht und in anderen Konfliktsituationen, analytisch aufgearbeitet.

Aufgrund der andersartigen Lektüre bereits bekannter wie auch neuer Quellen konnten die Projektmitarbeiter/innen unter anderem die bis anhin vorherrschende Vorstellung einer scharfen sozialen Trennung von Juden und Nichtjuden aufgrund religiöser Unterschiede revidieren: Das jüdisch-christliche Zusammenleben erwies sich als vielschichtiger und lebendiger, als es bisher in der Fachliteratur beschrieben worden war.

Strukturell vergleichbare Ausgangslagen – in allen drei untersuchten Fällen handelte es sich um Krisen- und Umbruchsituationen – ermöglichten eine übergreifende Betrachtung: Die christliche Bevölkerung griff insbesondere in Krisensituationen auf tradierte antijüdische Stereotypisierungen zurück. Dabei reflektierten die antijüdischen Haltungen nicht das Verhalten der jüdischen Nachbarn, sondern in erster Linie soziale Spannungen innerhalb der Gesamtgesellschaft.

In Warschau beispielsweise wurzelten die heftigen Kontroversen um den rechtlichen Status der Juden im ausgehenden 18. Jahrhundert in den ständischen Konflikten zwischen den Bürgern, dem Adel und dem Klerus, die sich während der letzten Reformphase in der Adelsrepublik zunehmend radikalisierten. Auch die Lengnauer Bürger stritten darüber, ob Juden ebenfalls „Schweizer Bürger“ seien, besonders engagiert in dem Moment, als die einzelnen Gemeinden im Zuge zentralisierender Maßnahmen des jungen Schweizer Bundesstaates ihre frühere Autonomie einbüßen mussten. Die zunehmende Konkurrenz in Handel und Gewerbe, die Monetarisierung der Landwirtschaft sowie die Entstehung neuer bürokratischer Strukturen verunsicherten die einzelnen Bürger sowohl in der Schweiz als auch in Polen stark. Ein geeignetes Forum, diese Befindlichkeiten artikulieren zu können, fanden sie in den aktuellen Debatten um die rechtliche Gleichstellung ihrer jüdischen Nachbar/innen. Dagegen waren es im Lemberg des beginnenden 20. Jahrhunderts nationalistische Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ukrainern, die auch ihre Beziehungen zu den Juden unter Spannung setzten. Die Entstehung des polnischen Nationalstaates sowie das „nationale Erwachen“ der Ukrainer und Polen in Galizien bereiteten den Nährboden, aus dem sich Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden speisen und während der Lemberger Pogrome von 1918 dramatisch zuspitzen konnten.

Aufgrund ihrer inhaltlichen Offenheit konnten antijüdische Stereotype rasch und effizient aktiviert werden. Sie waren ein „kultureller Code“, der breiten Teilen der christlichen Bevölkerung vertraut war. Auf diesem Weg ließen sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Anliegen für Forderungen und Aktionen gewinnen, die dann in antijüdischer Gewalt mündeten.

An diesem zweiten Beispiel wird deutlich, dass die Form eines lebensweltlich angesetzten Vergleichs die Defizite der nationalgeschichtlich zentrierten Betrachtungsweise methodisch zu überwinden vermag und damit ein großes Potential für die Historiografie einer integrierten Geschichte Europas in sich birgt: Zu einer dichotomischen Kontrastierung von West- und Osteuropa kam es bei diesem Vorgehen weder auf der methodischen noch auf der thematischen Ebene. Eine nationalgeschichtliche wie auch disziplinspezifische Engführung konnte hier durch einen lebensweltlich orientierten Vergleich fruchtbar ausgeweitet werden. Die schweizerische, polnische, ukrainische und jüdische Geschichte sowie die Geschichte des Habsburgerreiches konnten dabei unter einem bestimmten Blickwinkel zusammengeführt werden. Auf diesem Weg – durch eine Bündelung in lebensweltlicher Orientierung – wurde es möglich, einen Beitrag zu einer integrierten Geschichte Europas zu leisten.

Für die einzelnen historischen Teildisziplinen und ihren Platz innerhalb einer Geschichte Europas ist diese Form des Vergleichs von nicht zu unterschätzender Bedeutung – insbesondere auch für die Geschichte Osteuropas und das Fach Osteuropäische Geschichte: Denn das Rückständigkeits- und Nachholparadigma prägt die historiografische Praxis im Hinblick auf Osteuropa weiterhin stark, wie dies kürzlich auf der Tagung über die „Möglichkeiten und Grenzen des historischen Vergleichs“ am Zürcher Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte (Nada Boskovska) thematisiert wurde.10 Gerade die Form einer lebensweltlich angelegten komparativen Forschungsperspektive birgt für die Osteuropäische Geschichte – wie für jede andere historische Teildisziplin auch – die Chance, zum einen aus der Enge der fachinternen Diskussionen auszubrechen und einen Beitrag zur allgemeinen Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft zu leisten und zum anderen, den Weg zu einer integrierten Geschichte Europas mit ihren spezifischen Kompetenzen aktiv mitzugestalten.

Anmerkungen:
1 Medick, Hans, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Mattes, Joachim (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992, S. 167-178, hier S. 174ff.
2 Editorial, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 2.
3http://www.geschichte.mpg.de/deutsch/forsch.html (01.04.2005)
4 Vgl. Haumann, Heiko, Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den jüdischen Studien. Das Basler Beispiel, in: Hödl, Klaus (Hg.), Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes, Innsbruck 2003, S. 105-122.
5 Revel, Jacques (Hg.), Jeux d’échelles. La mirco-analyse à l’expérience, Paris 1996; Werner, Michael, Maßstab und Untersuchungsebene. Zu einem Grundproblem der vergleichenden Kulturtransfer-Forschung, in: Jordan, Lothar; Kortländer, Bernd (Hgg.), Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa, Tübingen 1995, S. 20-33; Lepetit, Bernard, Architecture, géographie, histoire. Usages de l’échelle, in: Genéses 13 (1993), S. 118-138.
6 Werner, Michael; Zimmermann, Bénédicte, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607-636, hier S. 620f.
7 Ebd.
8 Haumann, Heiko, Von Pocahontas zu Pylmau. Familienpolitik als Friedensstrategie bei indianischen und sibirischen Völkern? Ein Diskussionsbeitrag, in: Historische Anthropologie 9,2 (2001), S. 290- 298.
9 Die gemeinsame Publikation der Forschungsergebnisse von Alexandra Binnenkade, Svjatoslav Pacholkiv und Ekaterina Emeliantseva ist für den Herbst 2005 geplant und erscheint in der Reihe „Jüdische Moderne“, herausgegeben von Jacques Picard und Alfred Bodenheimer, bei Böhlau Wien.
10 Der von Peter Collmer verfasste Tagungsbericht kann unter folgender Adresse eingesehen werden: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=710> (01.04.2005); vgl. dazu auch Goehrke, Carsten; Haumann, Heiko, Osteuropa und Osteuropäische Geschichte. Konstruktionen – Geschichtsbilder – Aufgaben. Ein Beitrag aus Schweizer Sicht, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 52 (2004), S. 585-596; sowie den Beitrag von: Stollberg, Eva-Maria, Transnationale Forschungsansätze in der Osteuropäischen Geschichte in diesem Forum: <http://geschichte-transnational.clio-online.net/forum/id=595&type=artikelikel> (01.04.2005).

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06.04.2005
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