Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945

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Title
Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945. Band 3, L-R


Author(s)
Keipert, Maria; Grupp, Peter; Keiper, Gerhard; Kröger, Martin
Published
Paderborn 2008: Ferdinand Schöningh
Extent
749 S.
Price
€ 158,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Wolfgang G. Schwanitz, Gloria Center, Herzliya, Israel

Kaum begann das neue Millennium, da legten die Mitarbeiter des Historischen Dienstes im Auswärtigen Amt um Maria Keipert und Peter Grupp Band eins dieses vorzüglichen Nachschlagewerkes vor. Nun, acht Jahre später, folgt Band drei, bearbeitet von Gerhard Keiper und Martin Kröger, letzterer von Anfang an dabei. Fünf geplante Bände erfassen alle Angehörigen des höheren Auswärtigen Dienstes. Erinnert sei daran, dass Band eins in zwei einleitenden Kapiteln den Grundaufbau erklärt hat wie die Kriterien, Quellen, Datenerfassung, Biographieraster und Hinweise zur Organisation und Personalstruktur. 1 Jüngst fragte ein Student zum "Charakter als Konsul", "Prädikat Exzellenz" und "Konsul fliegend", ob dies auf Charaktereigenschaften, Prüfungen oder eine Kündigung hindeute. Solche Termini bedürfen wohl der Erläuterung, die man auch im vorliegenden Band dankend registriert hätte.

Wer in Band drei blättert, dem fallen allgemeine Aspekte auf. Einige seien genannt, bevor es um eine Tradition mit Blick auf jene geht, die sich mit Beziehungsgeschichten im Dreieck Amerika, Mittelost und Europa befassen. Der Leser sieht, dass 1871 bis 1945 nur eine Handvoll Frauen im höheren Dienst waren, zumeist im Presse-, Chiffrier- oder Schreibbereich. Auch waren Familien anfänglich grösser - Emil Freiherr von Richthofen hatte acht Kinder "und 2 weitere Töchter". Familien erscheinen stabiler, denn zweite oder dritte Ehen kommen noch eher selten vor. Dies kam dem seit Band eins um einhundert Seiten gestiegenen Umfang zugute (man stelle sich dies nur für die Ära der deutschen Zweistaatlichkeit vor, wie viele Kinder aus mehreren oder gar keinen Ehen stammen). Ohnehin ist das Referenzwerk recht lebendig, zumal es den Nachwuchs bis in die 1950er Jahre anführt, etwa bei Günther Pawelke oder Oswald Freiher von Richthofen. 2

Abgesehen von biographischen Daten, die auch die Parteizugehörigkeit zum Beispiel für die NSDAP ausweisen, sind die Literaturhinweise sehr hilfreich. Manche Beamte wirkten nach ihrer aktiven Zeit als Publizisten. Unter ihnen ragen Hans-Otto Meissner, Gerhard von Mutius, Georg von Oertzen und Wilhelm Pferdekamp heraus. Sofern bekannt, wird hier überdies verzeichnet, wo Nachlässe lagern, darunter in Privatbesitz in Deutschland wie bei Werner Freiherr von Ow-Wachendorf oder in Amerika wie bei Curt Prüfer. In anderen Mittelost-Fällen muss der Leser durch weitere Hilfsmittel ergründen, ob und wo es einen Nachlass gibt: zum Beispiel bei Rudolf Lindau, Dietrich Freiherr von Mirbach, Ottmar von Mohl, Herbert Müller-Roschach, Kurt Munzel, Wilhelm Padel, Hans Pilger und Edgar Pröbster.

Zudem gab es in der Wilhelmstrasse früh Beamte islamischen Glaubens, die entweder in Max von Oppenheims Nachrichtenstelle für den Orient oder im Stiftungsrat von Amin al-Husainis Islamischem Zentral-Institut in Berlin wirkten wie der Inder Abd ar-Rauf Malik und der Ägypter Abd al-Halim an-Naggar. Andere, meist aus dem Dragomanat, waren in Mittelost gebürtige Christen wie der Palästina-Deutsche Fadlallah Marum, der im Ersten Weltkrieg in der "Nachrichtenabteilung" diente. Welche Schnittstellen gab es zwischen letzterer und jener Nachrichtenstelle? Die meisten ihrer knapp 60 Mitarbeiter von 1918 fanden hier keinen Eingang, zumal diese Stelle im Auswärtigen Amt eine Schöpfung des Krieges für den Krieg war. Aus ihr ging am 1. November 1918 ein Deutsches Orient-Institut mit einer verwickelten Geschichte an Nachfolgern hervor.

Nun zu einem Mittelostfall, zu Paul Leverkühn in Oppenheims Tradition. Deutlich wird, dass Kenner des Orients und Asienkämpfer des Ersten Weltkriegs im Zweiten Weltkrieg in Führungspositionen wie zuvor handelten. Leverkühn etwa war ab Mai 1915 anderthalb Jahre damit befasst, für Oppenheims Nachrichtenstelle und den Generalstab "den Tigris und die türkisch-iranische Grenze" zu erkunden. Dies leitete Max Erwin von Scheubner-Richter, Vizekonsul in Erzerum und Zeuge der "Armeniergreuel" (siehe auch Walter Rössler). Scheubner hat nicht nur Alfred Rosenberg und Adolf Hitler beeinflusst, sondern Hitler hat auch ihm den Teil eins von "Mein Kampf" mit gewidmet.

Aber Scheubner hat auch Leverkühn geprägt. An dessen Erfahrung knüpfte Abwehrchef Wilhelm Canaris an. Daher sollte Leverkühn erneut Aserbaidschan und Syrien erkunden. So kam es, dass er von Frühjahr bis Herbst 1940 Konsul in Täbris war. Dabei ging es ihm auch darum, wie man die Erdölanlagen von Baku vom Nordiran her zerstören könne. Das war eine Idee im islamischen Revolutionierungsplan Oppenheims 1914, der Ölbrände in Baku als Jihadfanal für Muslime gegen den Zaren sowie die Nutzung von Minderheiten wie Tscherkessen, andere kaukasische Bergvölker und iranische Stämme vorgesehen hat.

Bekanntlich hatte der osmanische Sultan-Kalif wie von Oppenheim geplant nach Beginn des Krieges den Jihad ausrufen lassen. Wilhelm II. hat dies auch von ihm gefordert, um in britischen, französischen und russischen Kolonien durch Glaubenskrieger Truppen zu binden. Oppenheim gründete in der Türkei 75 Propagandazentren der Nachrichtenstelle, die islamistische Jihadrevolten verbreiteten - zum Schaden lokaler Nichtmuslime wie Armenier, Griechen und Juden. Er stützte sich zudem auf antichristliche Bruderschaften Nordafrikas. Kein Zufall, dass Ägyptens Muslimbrüder als Keimzelle modernistischer Terrorvereine 1928 aufkamen. Bei all dem griff er auf seine Entdeckung des Jihad in der Weltpolitik von 1898 zurück, als er auf diplomatischem Posten in Kairo der Reichsleitung die Idee antrug, im Kriegsfall den Jihad konzertiert mit den Osmanen betreiben zu lassen.

Von all diesen Ideen war Leverkühn geprägt, der sodann 1941 bis 1944 die Aussenstelle der Abwehr in Istanbul leitete. Mithin klärte er auch Mittelost auf. Nach 1945 arbeitet er als Anwalt, so beim Nürnberger OKW-Prozess, und in den 50er Jahren im auswärtigen Ausschuss des Bundestags, im Europäischen Parlament und als Präsident des Instituts für Asienkunde. Er beschrieb 1957 den geheimen Nachrichtendienst der Wehrmacht bis 1945 (Englisch erschien dies Werk drei Jahre zuvor). Über 1914 bis 1918 betonte er zwei Neuheiten: den militärischen Kampfwillen und zivilen Widerstand durch Propaganda zu zersetzen; und nationale Zwiste durch Sabotage und Opposition zu schüren. Das hiess Irreführung an der Front und daheim sowie geheime und offene Fünfte Kolonnen (wie Oppenheim dereinst). Medien gegen den Feind waren die Entdeckung und Befehlshaber erhielten Pressestellen.

Leverkühn hob hervor, Hitler habe die Bedeutung dessen erkannt und entsprechend die Oberkommandos der drei Wehrmachtteile und die Abwehr ausformen lassen. Tatsächlich hat er es so 1924 dargelegt. Zum Islam ging er drei Schritte. Zunächst war er gespalten: zwar mochte er religiösen Fanatismus, aber nicht Oppenheims Jihadidee. Er sah darin feiges Denken, "dass andere für uns ihr Blut vergiessen". Bis ihn dann 1941 zwei türkische Generäle und an der Ostfront die Tatsache von abertausenden gefangenen Muslimen umstimmten, die Massen an Soldaten wieder in einem Jihad gegen den roten Zaren umzukehren. Am Ende bekannte er es als eines seiner Versäumnisse, keine kühne Islampolitik verfolgt zu haben.

Aus Hitlers Einsichten, so nun wieder Leverkühn, folgten die Aufgaben der Abwehr und ihres Brandenburger Regiments, wo auch manche "volksechte" Muslime dienten. In diesem Licht erläuterte Leverkühn, wie viele englische Truppen in Iran durch deutsche Agenten gebunden worden sind; weshalb 1940 die deutsch-russische Revolutionierung Indiens im bilateralen Interesse lag; warum man dem antibritischen Putsch im Irak durch Aufstände in Nachbarländern helfen wollte; wie Ägyptens Königshaus unter Nutzung türkischer Familienbande panislamisch gedieh; und was wohl der "kleine Aufstand in Syrien" koste.

Man vergleiche im Lexikonband drei Oppenheim und Leverkühn, die auch in Amerika weilten. Wie der pensionierte Oppenheim als Grand Seigneur der Berliner Mittelostpolitik wirkte, so Leverkühn beim Aufbau auswärtiger Strukturen der Bonner Republik. Wer den Revolutionierungsplan samt Nachrichtenstelle 1914 mit Leverkühns Bilanz über den Nachrichtendienst 40 Jahre später vergleicht, dem wird Oppenheims Vorreiterrolle klar. Das Lexikon hilft hier weiter, wo es Adepten wie Leverkühn in der Abwehr oder Fritz Grobba (siehe Band zwei) im Hamburger Nah- und Mittelostverein verzeichnet. Leverkühns Buch, das auf Oppenheims Konzept beruht, hat Rollen und Aufgaben weiterer Geheim- und Nachrichtendienste in Ost und West berührt. Wie Oppenheim erhellte er politisch und ökonomisch integrierte Ansätze mit komplexen, globalen in- und auswärtigen Prinzipien der Außenpolitik.

Band drei befördert nun solche Vergleiche. Ihn mag der Leser dankbar aufnehmen. Steht lediglich noch zu wünschen, dass der Reichtum an Informationen in digitalisierter Form zugänglich wird. Bis dahin ist auch Band drei als Standardlektüre höchst empfehlenswert.

Anmerkungen:
1 Ausf. meine Besprechung Biographisches Handbuch, Bde. 1, 2. (http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/Schwanitz_neu/Auswaertiges%20Amt%20Biographien%201871%201945.pdf)
2 Zur Vorgeschichte vgl. auch Struckmann, Johann Caspar, Preußische Diplomaten im 19. Jahrhundert. Biographien und Stellenbesetzungen der Auslandsposten 1815-1870, Berlin 2003.

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05.11.2008
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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