Die Basler Historikerinnen Susanna Burghartz und Madeleine Herren rekonstruieren in dem vorliegenden Buch die Mikroglobalgeschichte (S. 16) eines Hauses, das Mitte des 18. Jahrhunderts vor den Toren Basels als Sommerpalais der Bankiers-, Kaufmanns- und Fabrikantenfamilie Leisler errichtet wurde. Im Fokus steht dabei das sogenannte „Chinazimmer“, ein mit aus Kanton (Guangzhou) importierten Tapeten dekorierter Raum im Obergeschoss des Hauses. Ausgehend von diesem besonderen Ensemble und der Familien- und Unternehmensgeschichten seiner Eigentümer eröffnen die Verfasserinnen Perspektiven auf eine Basler Globalgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Das Buch ist mit 110 Illustrationen (Fotos von Objekten und Häusern, Reproduktionen von Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafiken) facettenreich bebildert und sehr ansprechend gestaltet.
Der etwas rätselhafte Titel des Buches erklärt sich folgendermaßen: Die Leisler gelangten ab dem späten 17. Jahrhundert unter anderem mit der Seidenverarbeitung zu Wohlstand; ihr Sommerpalais hieß nach einem alten Flurnamen „Sandgrube“; die Tapeten des Chinazimmers waren aus Maulbeerpapier. Diese Tapeten sind Gegenstand eines derzeit laufenden, interdisziplinären Forschungsprojekts, das unter anderem mit einer faszinierenden digitalen Rekonstruktion der ursprünglichen Farbigkeit der verblichenen Tapeten aufwartet.1 Das Buch von Burghartz und Herren erscheint zugleich in englischer Übersetzung unter dem Titel „Building Paradise“ als Open Access-Version.2
Ausgehend von dem besonderen materiellen Ensemble des Chinazimmers fragen die Verfasserinnen nach den „lokalen Ausprägungen des globalen Konsums und dem Zugang zu weltweiten Märkten“ (S. 16f.). Hierzu kombinieren sie Fragenstellungen der materiellen Kulturforschung, der Wirtschafts- und Konsumgeschichte sowie der Stadtgeschichte. Der Einleitung folgen fünf Hauptkapitel, von denen die Kapitel 2 bis 4 jeweils thematisch unterschiedlich ausgerichtete zeitliche Längsschnitte vornehmen, wobei dem „langen“ 18. Jahrhundert die meiste Aufmerksamkeit gewidmet wird. Kapitel 5 und 6 bieten dann einen Ausblick der späteren Geschichte der „Sandgrube“ im Kontext der weiteren Entwicklung der globalen Verbindungen Basels im 19. und 20. Jahrhundert.
Kapitel 2 verfolgt den Aufstieg der ursprünglich von einem reformierten Einwanderer abstammenden Familie Leisler in die Wirtschafts- und Machtelite Basels. Zur Zeit der Erbauung und Ausstattung des Sommerpalais „Sandgrube“ von 1746 bis 1753 durch Achilles Leisler (1723–1784) verfügten die Leisler über europäische und globale Handelsbeziehungen und waren zugleich mit mehreren eingesessenen Familien verwandtschaftlich verbunden. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ausgestaltung des Sommerpalais und insbesondere dessen Chinazimmer einerseits als Ausdruck der globalen Verflechtung der Auftraggeber, andererseits als Ergebnis eines lokalen Distinktionswettbewerbs interpretieren. Von besonderer Bedeutung sind dabei die familiären und zeitweise auch unternehmerischen Verbindungen mit den Familien Weiss und Ryhiner. Kapitel 3 bettet diese Familiengeschichte ein in die Transformation der Basler Wirtschaft und Gesellschaft durch frühkapitalistische Unternehmungen in der Seiden- und Indiennefabrikation seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert. Die Grundlage des Erfolgs der Firmen Leisler, Weiss, Ryhiner und anderer war eine Kombination europaweiter und global ausgreifender Handelsbeziehungen, der protoindustrielle Einsatz von Bandmühlen zur Textilproduktion und das Färben und Bedrucken der Stoffe entsprechend aktueller Modekonjunkturen. In der Folge handelten sich diese Fabrikantenfamilien zahlreiche Konflikte mit dem ortsansässigen zünftigen Handwerk ein, konnten sich aber aufgrund ihres lokalpolitischen Einflusses und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für Basel meist gegen Klagen durchsetzen.
Kapitel 4 nimmt dann das Chinazimmer in den Fokus. Da weder die Anschaffung der Tapeten noch deren Anbringung im Sommerpalais genauer dokumentiert sind, nähern sich die Verfasserinnen dem Gegenstand aus mehreren Blickwinkeln an: Erstens stellen sie begründete Vermutungen hinsichtlich der Datierung und des Transportwegs der Tapeten an (entweder über die preußische Ostindienkompanie oder die französische Compagnie des Indes). Zweitens rekonstruieren sie die Chronologie der Ausstattung weiterer Basler Häuser mit chinesischen Interieurs, darunter insbesondere das Landhaus „Bruckgut“ von Markus Weiss-Leisler, dem Schwager des Erbauers der „Sandgrube“. Drittens interpretieren sie diesen lokalen und verwandtschaftlichen Wettbewerb vor dem Hintergrund der europäischen Chinabegeisterung. Dabei schlagen sie vor, nicht zwischen „authentischen“ chinesischen Tapeten einerseits und in Europa hergestellten sogenannten Chinoiserien andererseits zu unterscheiden, da auch erstere gezielt für den europäischen Markt hergestellt wurden und somit ebenfalls transkulturelle Produkte darstellten (S. 128). Stattdessen arbeiten sie, viertens, unterschiedliche lokale Aneignungsstrategien heraus: Für das Chinazimmer der „Sandgrube“ wurden die importierten chinesischen Tapeten auseinandergeschnitten und neu zusammengesetzt, wobei die darauf dargestellten Vogelpaare teils getrennt wurden. Damit ging deren ursprüngliche Bedeutung als Sinnbild der Vereinigung von Gegensätzen verloren; der Fokus lag nun auf den dargestellten Tier- und Pflanzenarten, quasi als Verlängerung des mit exotischen Pflanzen reich besetzten Gartens des Sommerpalais – entsprechend der zeitgenössischen europäischen Begeisterung für Zoologie und Botanik. Im Gegensatz dazu boten die Chinoiserie-Tapeten im „Bruckgut“ einen virtuellen Blick auf eine „idealisierte fremde Welt“ (S. 152).
Kapitel 5 und 6 verfolgen das weitere Schicksal der „Sandgrube“ nach dem Aussterben der Familie Leisler im Jahr 1795 vor dem Hintergrund der Stadtgeschichte Basels, dem politischen Wandel in der Schweiz, und der globalen Verflechtungen Basler Familien im 19. und 20. Jahrhundert. Bemerkenswert ist daran unter anderem, dass die „Sandgrube“ und andere Landhäuser erst als Rückzugsorte während des politischen Umbruchs um 1800 dienten, bevor sich ihr Umfeld durch die Urbanisierung Basels komplett veränderte. In den 1950er-Jahren wurde die „Sandgrube“ schließlich Teil des kantonalen Lehrerseminars, und das Chinazimmer zum Büro des Direktors. Seit 2019 ist es nach einer umfassenden Renovierung Sitz des Europainstituts der Universität Basel.
Das materialreiche und vielseitige Buch bietet auch am Rande noch eine Fülle interessanter Beobachtungen, wie etwa die Ausstattung Basler Zunftstuben mit „newen Indiennen Vorhängen“ (S. 97), oder die Verwendung des Begriffs „Sklaverei“ durch streikende Arbeiter der Basler Textilfabriken 1794 (S. 102). Angesichts der komplexen Zusammenhänge zwischen Familien-, Wirtschafts-, Konsum- und Stadtgeschichte ist die thematische Struktur der Kapitel 2 bis 4 zwar hilfreich, doch muss man beim Lesen dennoch gelegentlich hin und her blättern, um den Überblick über die Verbindungen zwischen den Akteuren zu behalten. Auch werden manche Begriffe der Textilherstellung wie Florettband oder Bandmühle bzw. Strickstuhl zwar bereits in Kapitel 2 verwendet, aber erst in Kapitel 3 erläutert. Insbesondere in Bezug auf die Stadtgeschichte Basels hätte sich der nicht lokalkundige Rezensent ein paar kurze Erläuterungen mehr gewünscht, z.B. zum Amt des „Oberstzunftmeister[s]“ (S. 63–66).
Die „Sandgrube“ ist zweifellos ein spannender Fall globaler Verflechtungen eines Objekts (bzw. Objekt-Ensembles), und es gelingt Burghartz und Herren, die Vielschichtigkeit dieser globalen Bezüge herauszuarbeiten. Anschlussfähig ist auch ihre Feststellung, das Chinazimmer stehe für ein „enges Zeitfenster“ der Ausstattung Basler Häuser mit „globalen Gütern“ (S. 129). Zwischen 1750 und 1790 hätten „Binnenländer und ihre Gesellschaften einen maritimen Horizont“ (S. 138) gewonnen, dann wurde jedoch der Zugang zu globalen Gütern kriegsbedingt immer wieder erschwert oder ganz unterbrochen. Daher könne von einer linear zunehmenden Globalisierung der lokalen materiellen Kultur kaum die Rede sein. Außerdem geriet das Chinazimmer nach 1780 bald aus der Mode, als die europäische Chinabegeisterung einem zunehmend kritischen, eurozentrischen Blick wich. Diese Beobachtungen fügen sich gut ein in aktuelle Debatten über Störungen und Unterbrechungen globaler Verbindungen in historischer Perspektive.
Nicht ganz klar ist jedoch die methodische Verortung des Buchs in dem wachsenden Forschungsfeld der „global microhistory“, das von den Verfasserinnen mit „Mikroglobalgeschichte“ übersetzt wird.3 In ihrer Einleitung schreiben sie: „Eine mikroglobale Perspektive verleiht auch jenen Akteuren Gesicht und Stimme, die, wie der Erbauer der Sandgrube, Achilles Leisler, für lange Zeit aus dem Blickfeld der Geschichtsschreibung verschwunden sind.“ (S. 18) Diese Formulierung rückt Leisler, einen der wohlhabendsten und einflussreichsten Bürger Basels seiner Zeit, unversehens in die Nähe „kleiner Leute“, denen eigentlich die Aufmerksamkeit der Mikrogeschichte seit den 1970er-Jahren gegolten hatte. Auch werden die Schattenseiten des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels im 18. Jahrhundert, die Pauperisierung großer Teile der Basler Bevölkerung einerseits und die Verflechtung der Profiteure in den Sklavenhandel andererseits, zwar gelegentlich erwähnt, doch liegt der Fokus des Buches eindeutig auf der globalen Verflechtung und lokalen Prachtentfaltung der städtischen Eliten. Haben die Verfasserinnen ihre Herangehensweise deshalb nicht „globale Mikrogeschichte“, sondern „Mikroglobalgeschichte“ genannt, um sich zugunsten der Globalgeschichte von der Tradition der italienischen microstoria zu entfernen?
Andererseits haben die Verfasserinnen ihre Untersuchung nicht wirklich globalgeschichtlich ausgelegt, sondern die Lokalgeschichte in den Mittelpunkt gerückt. Denn so faszinierend und vielschichtig die globalen Bezüge und Verflechtungen des Chinazimmers und der Stadt Basel auch sind, bleibt ihre Erzählung letztlich eurozentrisch – und damit nicht wirklich eine Mikro-global-geschichte. Durch das bereits erwähnte Argument, chinesische Tapeten und europäische Chinoiserien in Basel unterschieden sich nicht hinsichtlich ihrer Authentizität, gerät nämlich die unterschiedliche Materialität dieser Tapeten aus dem Blickfeld. So erfahren die Lesenden auch kaum etwas über die Herstellung der chinesischen Tapeten, während etwa über die Basler Seiden- und Indiennefabrikation deutlich mehr berichtet wird. Dabei wäre es aus Sicht des Rezensenten gerade spannend gewesen, ob man die Geschichte des Basler Chinazimmers nicht auch hätte anders erzählen können, nämlich noch stärker aus einer objektgeschichtlichen Perspektive, bei der Guangzhou eine größere Rolle gespielt hätte, und Basel vielleicht eine etwas kleinere.
Anmerkungen:
1 URL: <https://chinaroom.europa.unibas.ch> (29.03.2022).
2 URL: <https://edoc.unibas.ch/81922/1/_OA_RZ_EIB_BUILDING_PARADISE_EN_PDF_A_31.8.2021.pdf> (29.03.2022).
3 Vgl. auch URL: <https://mhistories.hypotheses.org/tag/mikroglobalgeschichte> (07.03.2022); Tonio Andrade, A Chinese Farmer, Two African Boys and a Warlord: Toward a Global Microhistory, in: Journal of World History 21,4 (2010), S. 573–591.