R. Karlsch u.a. (Hrsg.): Für und Wider "Hitlers Bombe"

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Titel
Für und Wider "Hitlers Bombe". Studien zur Atomforschung in Deutschland


Herausgeber
Karlsch, Rainer; Petermann, Heiko
Reihe
Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 29
Erschienen
Münster 2007: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Wolfgang G. Schwanitz, Gloria Center, Herzliya, Israel

Als Rainer Karlsch sein Buch "Hitlers Bombe" vorlegte, gab es einen der einschlägigen Momente in der Wissenschaftsgeschichte: wie nach einem Steinwurf ins Wasser ziehen die Wellen vom Epizentrum seit März 2005 immer weitere Bahnen. Es spricht für diesen Berliner Wirtschaftshistoriker (und seinen journalistischen Koeditor Heiko Petermann), dass er und ein Dutzend Autoren nun alles prüft oder überprüfen lässt. Fragt sich, wie der Stand inzwischen ausfällt. Bevor allein diese Frage hier erhellt wird, sei der Inhalt dieses Bandes berührt. Dann hellt ein arabischer Freund des SS-Reichsführers die Historie auf.

Dieses Werk hat zwei Teile. In den physikalischen und zeithistorischen Analysen kehrt Karlsch zum Ereignis auf dem Ohrdrufer Übungsplatz 1945 zurück, indes Gernot Eilers aus Wolfenbüttel die Stärke der dortigen Explosion abschätzt. Diesen deutschen Atomtest erörtern physikalisch Vladimir Mineev und Alexander Funtikov aus Sarow. Wie weit die polnischen Forschungen zur Reduktion der kritischen Masse gediehen waren, lotet Pawel Rodziewicz aus Bochum aus. Heiko Petermann aus Detmold vergleicht Luftbildanalysen aus White Sands und Ohrdruf, während der Hamburger Marcus Landschulze Tests bei größeren Sprengungen am 10. Oktober 1944 und 12. März 1945 geophysikalisch prüft. Die Aussagen des Überfliegers Rudolf Zinsser evaluiert der Londoner Wolfgang Ebsen.

Im zweiten Teil, in den Schlaglichtern zur Wissenschaftsgeschichte, behandeln Karlsch und Paul-J. Hahn aus Willstädt Ronald Richter und die Anfänge der Fusionsforschung. Wie sich dies an der Humboldt-Universität ausnahm, erläutert der Potsdamer Günter Nagel am Beispiel Erich Schumanns und des II. Physikalischen Instituts. Bernd Schulze aus Chemnitz befragt die Geheime Kommandosache Nummer 4268 auf konventionelle oder nukleare Angriffsplanungen. Das Fallbeispiel Kurt Starke und die Entdeckung des Elements 93 erkunden der Marburger Reinhard Brandt und Rainer Karlsch. Schließlich unternimmt Petermann eine Bestandsaufnahme zu Patenten der Mininukes in der BRD. Jeden Beitrag leitet ein Abstract ein; Faksimilia und Fotos machen das Buch attraktiver.

Nun zu Karlschs Einführung. Vergleicht man seine Aussagen mit "Hitlers Bombe" zuvor, so hat er Hauptdokumente stärker erläutert, die deutschen Besonderheiten akzentuiert und nukleare Ereignisse am 3. und 12. März in Ohrdruf plausibel in den Kontext gerückt. Die wichtigsten Quellen seien die kurz hernach verfassten Berichte des Geheimdienstes der Roten Armee. Das betrifft vor allem den Text des Leiters des Moskauer Atomprojektes Professor Igor Kurchatov an Stalin "über die deutsche Atombombe" vom 30. März 1945. Die meisten Kritiker seines Buches hätten ihn nicht erörtert. Karlsch gibt das fragliche Dokument erneut wieder und diskutiert den gestiegenen Kenntnisstand aus dem Umfeld. Es ginge nicht darum, einen Test der ehedem traditionellen Kernspaltung nachzuweisen. Sondern es gehe um eine Hybridanordnung aus viel Sprengstoff und kleineren Teilen an spaltbaren und Fusionsstoff, die in Ohrdruf getestet wurden. Denkbar seien entweder eine detonierende Kernwaffe oder nur radioaktive Kampfstoffe (schmutzige Bombe) gewesen.

Frage man nach der Energiefreisetzungsart, so gehe es um Kernspaltung oder Kernfusion. Ersteres, der Bau einer reinen Kernspaltungsbombe, sei damals kaum angestrebt worden. Aber die Fusion schon. Der Punkt sei, wie die sehr hohe Zündtemperatur erreicht werden konnte. Laser, Teilchenbeschleuniger oder Hohlladung? Wahrscheinlich sei in Ohrdruf ein Zündsystem für eine noch zu entwickelnde Bombe getestet worden. Ob schon als eine Bombe oder nur Versuchskörper, dies bleibe offen. Nach den Schemen im sowjetischen Bericht hätten die beiden Kernwaffenentwickler Mineev und Funtikov nun Grenzen des TNT-Äquivalents ermessen, die der Physiker Gernot Eilers um 100 Tonnen angesetzt hat. Wie Mineev zeige, sei den Deutschen bereits 1945 die Entwicklung einer Hybridbombe möglich gewesen. Er wies darauf hin, dass dafür kein hoch angereichertes Uran, sondern solches eines niederen Grades ausgereicht habe, was die damaligen Zentrifugen hergaben.

Damit ist der Kern der neuen Akzentuierung Karlschs umrissen. Freilich ist dieser Band ein Füllhorn an Informationen auch auf sekundären und tertiären Ebenen, so der Träger,1 die nicht erhellt werden können. Konsens im Ohrdrufer Fall besteht weiter zu Karlschs Hauptaussage: Deutsche haben dort eine Hybridanordnung getestet mit viel Sprengstoff samt kleineren Mengen spaltbaren und Fusionsstoff; die Explosion hat unkonventionell viel kinetische Energie freigesetzt mit heftiger Detonationswelle, hohen Temperaturen, Umkreiszerstörung, starker Radioaktivität, Toten und Verletzten. Dort gab es Zeitzeugen.

Insgesamt hat Karlsch seine früheren Thesen erhärtet. Er erklärt besser den Hybridweg, den sodann in der Tat alle Produzenten von Kernwaffen gegangen sind. Dies vor allem, wenn es ihnen um Rationalisierungen, limitierte Dosen und Miniaturisierung von Waffen ging. Offen sind zumindest drei Punkte: die genaue Ohrdrufer Anordnung über die Moskauer Texte und andere Quellen hinaus sowie woher jener angereicherte Fusionsstoff kam. Die heutige Nachweisbarkeit damaliger Kerntests hat klar an Bedeutung verloren. Zum einen durch schwache Langzeitspuren im Vergleich zu anderen Testgeländen. Zum anderen, weil die fragliche Bundesanstalt kostspielige Analysen vermieden hat. Was getan wurde, kann jetzt weder als ein Beweis dafür noch dagegen gelten. Dies ist schon enttäuschend.

Eine dritte Frage soll berührt werden: das Wissen der Amerikaner um diese Vorgänge in Thüringen und im Dritten Reich. Dies ist bei weitem nicht ausgeschöpft. Es sei abermals an das von mir beigebrachte US-Dokument 2 mit diesen Punkten erinnert: Forschungen an Geheimwaffen, Forschung wird forciert fortgesetzt an "Atomexplosionen" unter Leitung der SS speziell in Brünn; derartige Experimente tragen auch alte Institutionen von Bayer und IG Farben bei Berlin und Regensburg. Dieser als "geheim/sehr dringend" eingestufte Text trägt zwei Daten: Januar 1945; 20. März 1945, also acht Tage nach einem Ohrdrufer Test. Er erwähnt einen Vorbericht aus Bern vom 21. Dezember 1944. Einige Ortschaften und Begriffe wie ein Forschungszentrum "Kappel" im Norden Berlins, "E.M. de Doenitz" und eine Technische Akademie der SS bei Zellendorfs Bahnstation konnten nicht geklärt werden. Oder war es das SS-Sanatorium Hohenlychen im Norden Berlins, wo Heinrich Himmler seit 3. März 1945 zwei Wochen weilte? Dies und mehr muss ausgelotet werden.

Karlsch hat die Sonderrolle Heinrich Himmlers erklärt. Der SS-Chef hatte in Ohrdruf am 2. November 1944 betont, sehr bald die letzte geheime Waffe einzusetzen, die zur völlig veränderten Kriegslage führe. Himmler empfing vom 3. bis 13. März 1945 die Ohrdrufer Beauftragten, darunter SS-General Hans Kammler. Laut der Retrospektive von Himmlers Adjutant Werner Grothmann sei da ein Kernsprengsatz mit 130 Tonnen TNT-Äquivalent getestet - und sofort Himmler über die gelungenen Versuche informiert worden. Himmler sagte, dieser Waffe könne niemand mehr widerstehen. Laut Planänderung im Januar 1945 werde an ihr Tag und Nacht gearbeitet. Sie könne im Juni gegen England benutzt werden. Freilich habe es das Problem der geringen Menge gegeben wie auch die Unsicherheit, ob sie im Einsatz funktioniere. Dann die Frage ihrer tatsächlichen politischen Wirkung. Aber ein solcher Verzweifelungsangriff hätte militärisch und politisch nichts mehr bewirkt. So sei es bei Gedankenspielen geblieben. Himmler habe zuletzt nur noch auf vermeintliche Verhandlungspositionen gesetzt. Und dies führt nun zum arabischen Aspekt dieser Story.

Himmler pflegte ein enges Verhältnis zum Jerusalemer Großmufti, der vom 6. November 1941 bis 4. Mai 1945 als Regierungsgast zumeist in Berlin lebte. Hitler schmiedete mit al-Husaini drei Wochen nach dessen Ankunft in der Reichskanzlei eine Art von Allianz. Der Großmufti hat Hitler durch Himmler ein Vermittlung gegenüber Stalin angeboten. Demnach sagte Amin al-Husaini am 28. September 1944 zu SS-General Gottlob Berger: der frühere afghanische Gesandte Gulam Seddiq Khan habe ihn zum Bairam-Fest besucht. Khan habe früher einmal einen Auftrag gehabt, mit Stalin persönlich zu verhandeln. "Er kenne ihn sehr gut und sei von sich aus bereit, die Fühler nach dort auszustrecken." Berger meldete es sofort Himmler weiter, wobei er es nicht für augeschlossen hielt, "dass dieser Fühler von der anderen Seite kommt", also vom Kreml. Himmler trug all dies Hitler am 10. Oktober 1944 vor. Zwar ging dieser nicht darauf ein, doch zeigt die nicht unriskante Aktion, wie weit vertraut al-Husaini und Himmler waren.

Dies bestätigt der Großmufti auch in seinen Memoiren. Demnach habe er Himmler öfter zum Tee getroffen. Dieser habe ihm Geheimnisse des Deutschen Reichs anvertraut, etwa Mitte 1943, bis dahin rund drei Millionen Juden vernichtet 3 zu haben. Am selben Tage (nach Widmung auf ihrem gemeinsamen Foto der 4. Juli 1943) habe Himmler ihm, neben einem Bericht über Panzer, eine Geheiminformation gegeben, die, wie er ihm sagte, nicht mehr als zehn Eingeweihte im Deutschen Reich kennen: den Bau einer Atombombe, die den Sieg garantiere. Dies trug seine Siegesgewissheit. Die Deutschen kamen, erläuterte Himmler dem Großmufti, in der Atomforschung voran. Die Atomwaffe werde die stärkste Waffe sein, die den Sieg garantiere." Wir haben erfahren, dass Engländer und Amerikaner auch begonnen haben, eine Atomwaffe zu erlangen. Jedoch sind wir ihnen um drei Jahre voraus. Wir werden die Atomwaffe wenigstens drei Jahre vor ihnen haben."4 Al-Husaini beschrieb in (alliiert abgefangenen) Briefen an den Araber Shakib Arslan 1944 "V-Waffen".

Nach 1945 meinte der Großmufti, dass die Feindspionage durch "jüdische, englische und amerikanische Geheimdienste" Deutschland "größten Schaden" zufügte. Sie konnten die Orte der "Atomreaktoren" in Ostpreußen entdecken. Ein Teil der Spione sei unter den 17 Millionen Fremdarbeitern gewesen. Sie hätten auch die geheimen Plätze in Peenemünde an der Ostsee in Ostdeutschland verraten, die die Alliierten dann zerstörten. Auch wären eine Anzahl deutscher Atomforscher getötet worden. So hätten die Alliierten verhindert, dass Deutschland eine Atombombe baute. Deutsche seien gezwungen gewesen, Betriebe auf eine Insel vor Dänemark mit unterirdischen Werken der Atomforschung zu verlagern.
Al-Husaini beeindruckten zudem Himmlers Terrorkommandotrupps gegen Okkupanten.5

So viel dazu. Natürlich können dies nur Bausteine am Rande des Mosaiks sein. Doch es ist interessant, dass Himmler all dies im Sommer 1943 geäußert haben soll. Nun müssen die Aussagen kritisch ausgeleuchtet werden, auch ob es dazu noch Originalpapiere gibt. Karlschs Entdeckungen ziehen also Kreise; und der vorliegende Band ist ein Meilenstein.

Bild

Anmerkungen:
1 Dazu auch Ralf Pulla, Raketentechnik in Deutschland. Ein Netzwerk aus Militär, Industrie und Hochschulen 1930 bis 1945. Frankfurt am Main 2006.
2http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&id=63536353.
3 Ausf. mein Beitrag Amin al-Husaini und das Dritte Reich: http://www.trafoberlin.de/pdf-Neu/Amin%20al-Husaini%20and%20the%20Holocaust.pdf
4 Abd al-Karim Umar, Muzakkirat al-Hagg Muhammad Amin al-Husaini [The Memoires of al-Hagg Muhammad Amin al-Husaini], Damascus 1999, S. 127, 162f.
5 Abd al-Karim Umar, Guerilla-Fidaiyun-Kommandos, S. 145; Peter Longerich, Heinrich Himmler, Berlin 2008, S. 735.

Redaktion
Veröffentlicht am
06.02.2009
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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