V. Agnew: Enlightenment Orpheus

Titel
Enlightenment Orpheus. The Power of Music in Other Worlds


Autor(en)
Agnew, Vanessa
Reihe
The New Cultural History of Music
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
$25.00
Rezensiert für Connections. A Journal for Historians and Area Specialists von
Teresa Pinheiro, Technische Universität Chemnitz

Das vorliegende Buch ist eine kulturhistorische Untersuchung zu einer wichtigen Epoche der Musikgeschichte im deutschen Sprachraum. Von etwa Mitte des 18. bis zum ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die deutschsprachigen Staaten von kultureller terra incognita zu einer europaweit anerkannten Musiknation (S. 14). Hielten die europäischen Musikeliten die deutsche Instrumentalmusik bis in die 1770er-Jahre noch der französischen und italienischen Vokalmusik für unterlegen, so wurde sie um 1810 als der Höhepunkt der künstlerischen Vollendung angesehen (S. 6). Dies war zugleich die Zeit der großen Entdeckungsreisen von James Cook in den Pazifik. Solche Reisen sind paradigmatisch für den Enthusiasmus der Aufklärer für die Feldforschung als Methode der ethnographischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung (S. 5-6). Zu diesem ethnographischen Wissen gehört, wenn auch nicht an erster Stelle, die Musik. Die Fremdheit der Klänge, der Harmonien, der Instrumente und der rituellen Einbettung der Musik in überseeische Gesellschaften, die sich den europäischen Forschern vor Ort darbot, stellte sie vor – so würden wir sie heute nennen – musiksoziologische Grundfragen nach der Funktion von Musik in verschiedenen Gesellschaften, nach einem Universalcharakter von Musik, oder danach, ob es ‚bessere‘ und ‚schlechtere‘ Musiknationen gibt.

Vanessa Agnew untersucht in ihrer Studie Enlightenment Orpheus die damals über Musik geführten Debatten im inner- wie im außereuropäischen Kontext. Sowohl die europäische Musikaktivität als auch die Kenntnisse der Erde entwickelten sich damals durch das Reisen, was für beide Bereiche epistemologische Folgen nach sich zog. Reisen impliziert die Überschreitung von kulturellen Grenzen. Wenn man das eigene Reisen reflektiert – und dies erwarten wir von schreibenden Reisenden –, kommt man nicht umhin, Themen wie die der Identität und Alterität zu berühren. In diesem Buch geht es um solche Fragen und – dem übergeordnet – um den Zusammenhang zwischen Aufklärungsreisen und dem musiktheoretischen Denken der Zeit. Agnews These ist, dass die Begegnung mit einer musikalischen Fremdheit zur Entwicklung neuer ästhetischer Ideen während der Aufklärung beigetragen hat.

Um zu untersuchen, was in der Zeit zwischen 1750 und 1810 über fremde und eigene Musik gesagt wurde, greift Agnew auf eine metatheoretische und überzeitliche Interpretationsebene zurück, die auf dem antiken Mythos des Orpheus beruht. Warum Orpheus? Zum einen aufgrund der Bedeutung, die die Antike für die Episteme der Musiktheorie in der Aufklärung hatte. Die Musikforscher des ausgehenden 18. Jahrhunderts sahen zu einer Zeit, in der das musikologische Wissen im Begriffe war, sich vom nichtprofessionellen Musikgenuss abzuspalten, in Orpheus ein Emblem. Zum anderen, weil es in Orpheus’ Geschichte um die hartnäckigste Frage der Musikgeschichte geht, nämlich die Frage nach dem utilitaristischen Wert von Musik, nach der Macht der Musik, Gesellschaften zu verändern.

Das Buch hat eine sehr klare Struktur, die aus drei Hauptkapiteln besteht: 1. Der Orpheus der Argonauten; 2. Das Reich der Musik; 3. Anti-Orpheus. Das vierte Kapitel enthält die Schlussbetrachtungen. Ein Bilderverzeichnis und eine Einleitung in das Thema werden den Hauptkapiteln vorangestellt, im Anhang erscheinen die Anmerkungen, die Bibliographie und ein sehr ausführliches Namens- und Themenregister.

Im ersten Kapitel untersucht Agnew die Debatten über Musik, die im innereuropäischen – konkreter: im deutsch-britischen – Kontext von Reisen geführt wurden. Die aus diesen musikalischen Begegnungen resultierenden Reflexionen über Fremdheit und nationale Identität – die Agnew ‚Orphische Diskurse‘ nennt – stehen hier im Mittelpunkt. Protagonisten dieser musikalischen Begegnungen waren auf der einen Seite der Brite Charles Burney (1726-1814) und auf der anderen Seite die deutschen Musikinteressierten um Christoph Daniel Ebeling (1741-1817), denen Burney während seiner Reise begegnet ist. Burney unternahm eine Reise durch die deutschsprachigen Länder – dies ist an sich bereits ein bemerkenswerter Fakt, berücksichtigt man, dass Italien und Frankreich die traditionellen Reiseziele der britischen (musikinteressierten oder nicht) Eliten waren. Was aber Burney zu einem zentralen Gegenstand einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung zu Musik in der Aufklärung macht, ist die Tatsache, dass er seine Reise durch die deutschsprachigen Länder unternahm, um ihre Musiklandschaft zu kartieren. Sein daraus entstandener Reisebericht ist somit, Agnew zufolge, der erste Musikreisebericht überhaupt (S. 15). Somit verkörpert Burney die Symbiose aus Reisen und Musik, der das Buch nachspürt.

Die Analyse dieser deutsch-britischen musikalischen Begegnung verdeutlicht die diskursive Bedeutung von Musik als Indikator für Eigen- und Fremdwahrnehmungen. Die Kontroverse zwischen Burney und seinen Gastgebern im deutschen Sprachraum entfachte sich um die Frage, was die „deutsche Essenz“ dessen sei, was Burney auf seiner Reise zu hören bekam. Aber auch in ihren Verständnissen von der Funktion, die Musik zu erfüllen habe, unterschieden sich die Kontrahenten. Der Orphische Diskurs Burneys unterstreicht die utilitaristische Bedeutung von Musik und steht somit am Anfang der soziologischen und ethnologischen Musikforschung. Die deutschen Kontrahenten hingegen betonten die ästhetische Autonomie von Musik, die losgelöst von der Gesellschaft entstehe.

Im zweiten Kapitel – Das Reich der Musik – erfahren wir, nach wie vor an Orpheus' Hand, mehr über Burneys musikwissenschaftliche Reflexionen unter Einbeziehung der durch Reisende gesammelten Erfahrungen in Übersee. Burney setzte alles in Bewegung, um Transkriptionen, Instrumente und Augenzeugenberichte über die Musik überseeischer Gesellschaften zu erkunden. Was er in diesem Material fand, passte jedoch nicht zur Geschichte der Harmonie, wie er sie verstand: eine teleologische Entwicklung in der Menschheitsgeschichte, die in der Entdeckung der Harmonie in der westlichen modernen Welt kulminierte. Die Feststellung Georg Forsters und anderer Reisender, dass die Musik im Pazifik komplex war und über Harmonie verfügte, drohte, dieses Gebäude an den Fundamenten zu zerstören.

Burney teilte die im 18. Jahrhundert verbreitete evolutionistische Sicht der Menschheit, der zufolge die Naturvölker in einem früheren Stadium der Entwicklung zurückgeblieben seien. Denn er nahm zu den vielen Hinweisen auf eine Harmonie in der polynesischen Musik nicht Stellung. Im Gegenteil: Er fügte dem Evolutionismus die Koinzidenz zwischen Philo- und Ontogenese hinzu, um die Musik des Pazifiks mit den kindlichen Musikvorlieben für unfeine Melodien zu vergleichen (S. 119). Agnew zeigt in diesem Kapitel überzeugend, dass die Musikgeschichte und -ethnologie Produkte der Aufklärung und ihres philosophischen, politischen und ökonomischen Denkens waren. Die Reiseberichte, mit ihrem durch Empirie gewonnenen Wissen, wurden auf diese Weise einem unflexiblen Erklärungsmuster untergeordnet (S. 117). Die Macht der Musik in der interkulturellen Begegnung wurde so durch die Resistenz der europäischen Reisenden untergraben, das Lied des Fremden zu hören.

In Anti-Orpheus sehen wir Burney erneut in zentrale Debatten der britischen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts verwickelt. Agnew befasst sich hier mit einer spezifischen Ausformung der utilitaristischen Sicht der Musik im Großbritannien des 18. Jahrhunderts. Es handelt sich hier um die burleske Musik, um die Ansicht, dass Musik eine Quelle des Gelächters und der sozialen Kritik sei. In diesem Kapitel werden die Gründe für die Entstehung der Musikparodie als einen Anti-Orpheus-Diskurs erkundet, dem Burney als Vertreter einer affirmativen orphischen Haltung gegenüber stand. Die Debatte, die sich zwischen beiden Positionen entfachte, bettet Agnew in den zunehmenden Einfluss des Fremden auf die britische Gesellschaft ein, der in erster Linie aus der kolonialen Expansion resultierte. Die Fragen nach nationaler Identität, die daraus entstanden, fanden, bezogen auf die Musik, in diesen beiden Richtungen der affirmativen und der ironischen Auffassung der Kunst ihren Niederschlag. Burney stellte sich, wie andere, auf die Barrikaden gegen das aufkommende Lächerlichmachen der Kunst. Für Burney kam der Musik eine wichtige Funktion zu: Sie trug nämlich in seinem Verständnis zusammen mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen zur Festigung der nationalen Zugehörigkeit bei. Seine Reisen jenseits nationaler Grenzen fungierten als Vergewisserungen über die eigene Identität, mehr noch: Sie trugen von "Außen" zur Konstituierung einer deutschen Musik und in der Folge zur Herausbildung Deutschlands als Kulturnation bei (S. 167).

Vanessa Agnews Buch ist selbst eine faszinierende Reise in das Denken der aufklärerischen Eliten und deren Reflexionen über nationale Identität, über außereuropäische Gesellschaften und ihre Stellung in der Menschheitsgeschichte. Anhand der Aneignung des Orpheus-Mythos als theoretischen Rahmen und des empirischen Schwerpunkts auf den Werken von James Burney, gelingt es Agnew, den Zusammenhang zwischen Musik und Reisen im 18. Jahrhundert anschaulich darzustellen. Beide Aktivitäten begünstigten die Produktion von Diskursen, in welchen die Fragen nach Identität und Alterität zusammentreffen.

Mit diesem Buch zeigt Agnew darüber hinaus, dass das Paradoxon zwischen Utilitarismus und Ästhetik, das die Beziehungen zwischen Burney und seinen deutschsprachigen Gastgebern überschattete, keines sein muss. In ihrem Buch wird Musik – entsprechend dem Verständnis Burneys – in ihren gesellschaftlichen und historischen Kontext eingebettet. Andererseits legt das Buch großen Wert auf Ästhetik. Über die hochwertigen Abbildungen hinaus, die insbesondere was Partituren angeht, nicht lediglich einen ästhetischen Wert haben, zeichnet sich diese Arbeit auf formaler Ebene durch einen sehr reflektierten und treffenden Duktus sowie eine sehr angenehme und nachvollziehbare Schreibweise aus. Man erkennt das Modell Orpheus in der wissenschaftlichen Arbeit. Dieses Buch vermittelt zwischen zwei unterschiedlichen Epochen: der seiner aufklärerischen Protagonisten und der seiner Leserschaft. Und es vermittelt zwischen der fachlichen und nicht fachlichen Welt – und beweist uns, dass gute Forschung und zugänglicher Stil keinen Widerspruch bilden. In der Tat leistet dieses Buch nicht nur einen innovativen Beitrag zur Alteritäts- und Aufklärungsforschung und zur kulturwissenschaftlichen Musikologie, sondern es kann auch vom musikinteressierten nicht fachlichen Publikum gewinnbringend gelesen werden.

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14.11.2008
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