M. Herren: Internationale Organisationen seit 1865

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Title
Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung


Author(s)
Herren, Madeleine
Series
Geschichte kompakt
Published
Extent
136 S.
Price
€ 14,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Klaas Dykmann, Global and European Studies Institute, Universität Leipzig

Internationale Organisationen (IO) erfreuen sich zunehmender Aufmerksamkeit in der Wissenschaft. Dabei haben bislang vorwiegend die Politik- und Rechtswissenschaften das Forschungsfeld dominiert, während Historikerinnen und Historiker nicht selten diese transnationalen Einrichtungen nur am Rande behandelten. Nachdem Akira Iriye mit seiner Studie zur „Global Community“1 2002 eine nützliche, wenngleich etwas unkritische Bestandaufnahme lieferte, ist der nun vorliegende Einführungsband der Historikerin Madeleine Herren, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg, sehr willkommen. Das Buch, welches die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in der Reihe „Geschichte Kompakt“ veröffentlichte, bietet nicht nur Studierenden, sondern auch Historikerinnen und Historikern transnationaler und globaler Geschichte eine hilfreiche Orientierung, hält aber auch für Fachleute aus anderen Disziplinen anregende Interpretationsmöglichkeiten bereit. Freilich sind, wie der knapp gehaltene Band auch aufzeigt, noch zahlreiche empirische Studien nötig, bevor der Themenkomplex als historisch erschlossen gelten kann.

Der Band gliedert sich in vier Abschnitte. In der ebenso inspirierenden wie geistreichen Einleitung wird zunächst überzeugend dargestellt, dass historische Forschung, die sich mit globalen und transnationalen Prozessen beschäftigt, kaum auskommt ohne die Betrachtung der Geschichte transnationaler Ordnungsversuche. Das zweite Kapitel befasst sich mit „internationalen Organisationen im langen 19. Jahrhundert“, das heißt vorwiegend in der Zeit vom Wiener Kongress (1815) bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs (1914). Das dritte Kapitel behandelt den Völkerbund, während sich der letzte Hauptteil auf das System der Vereinten Nationen konzentriert. Bedauerlicherweise lässt der Band eine abschließende Schlussbetrachtung vermissen, die eine zusammenfassende Einordnung der Geschichte der internationalen Organisationen in die Globalgeschichte versuchte und mögliche Forschungsprojekte aufzeigte. An den Textteil schließen sich eine Auswahlbibliographie sowie ein Sach- und Personenregister an, das jedoch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit hegt (zum Beispiel in bezug auf die Bretton-Woods-Einrichtungen).2

Als Hauptziel gibt die Verfasserin an, im Gegensatz zu herkömmlichen historischen Studien, die sich eher mit Großmächtepolitik, Krisen und Kriegen befassen, am Beispiel internationaler Organisation die „…spannungsreichen Bezüge zwischen einer Geschichte von Staaten und einer breit gefassten Globalgeschichte zu verdeutlichen“ (S. 3). Im Großen und Ganzen gelingt ihr dies auf erhellende Weise, wenngleich ein pointiertes abschließendes Fazit den Band noch abgerundet hätte.

Die problematische Frage nach einer allgemeingültigen Definition internationaler Organisationen wird von der Autorin behandelt, ohne dass sie auf einen eigenen Auslegungsversuch verzichtet: „Internationale Organisationen sind grenzübergreifend formalisierte Strukturen, die im internationalen System von Zivilgesellschaften und/oder Staaten als Akteure wahrgenommen werden. Sie sind Teil der internationalen Organisation der Welt und verbinden ihre mindestens aus drei unterschiedlichen Staaten stammenden Mitglieder durch die Regelung eines grenzübergreifenden Informationszugriffs“ (S. 6). Natürlich wird auch dieser Definitionsversuch nicht auf ewig Allgemeingültigkeit beanspruchen, doch verdient die Hervorhebung von Strukturen und des Zugriffs auf Informationen Aufmerksamkeit. Ein IO übergeordneter Kernbegriff des Bandes ist internationale Ordnung, deren Entfaltung sich der Verfasserin zufolge nicht auf Weltausstellungen, internationale Kongresse und Organisationen begrenzen lässt (S. 17). Bei der Unterscheidung von Zwischenregierungs- und Nichtregierungsorganisationen weist die Verfasserin zurecht darauf hin, dass die entsprechende Trennung des UN-Wirtschafts- und Sozialrats im Jahr 1950, nach der IO, die nicht auf zwischenstaatliche Verträge zurückgehen, als NGO gelten, sich aus historischer Sicht problematisch gestaltet, da im 19. Jahrhundert nur wenige IO existierten, die ausschließlich zwischen Regierungen bestanden. Vielmehr stellten die meisten Organisationen „semioffizielle Mischformen“ dar; entweder erhielten private Organisationen staatliche Subventionen oder aber staatliche Organisationen bezogen private Experten ein (S. 7).

Neben der üblichen Fokussierung auf Europa und die USA legt die Autorin bei ihren Betrachtungen einen regionalen Schwerpunkt auf Asien. Sie erklärt diese Auswahl damit, dass die asiatischen Netzwerke keinesfalls nur kontinentale Zusammenschlüsse waren, sondern auch bislang ungebührend beachtete globale Ziele verfolgten.3

Einleuchtend erscheint Herrens Folgerung, dass die Gestaltung und Aufgabenzuweisung internationaler Organisationen stets auch zeitgenössische Ordnungsvorstellungen widerspiegelten (S. 5). So verweist sie schlüssig darauf, dass neben einem prägenden Darwinismus (S. 24) sowie dem Streben nach Gleichheit in Europa (S. 26), IO in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem dem „zahlenberauschten Jahrhundert der Meistererzählung der Statistik“ folgten: „[IO] übersetzten die verwirrende Vielfalt der Welt in ein System des Zählens, das wiederum von westlichen Vorstellungen geprägt war.“ Somit konnten internationale Organisationen die Deutungshoheit über die vermeintliche Vernunft der Zahlenwerke sichern und dadurch auch über entsprechende Vergleiche die Welt nach westlichem Muster hierarchisieren (S. 19). Als interessant erweist sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit die Konzeption von IO ein genuin westliches Ordnungsmodell reflektiert. Diese Frage wird von Madeleine Herren zum Teil explizit, oft aber nur implizit behandelt.4

Die Gründung des Völkerbundes 1919/20 läutete ein neues historisches Kapitel der IO ein, da zum ersten Mal eine Einrichtung entstand, die generell für nahezu alle unabhängigen Staaten offen war und sich zugleich als „Gravitationsfeld“ für zivilgesellschaftliche Organisationen erwies (S. 54). Die internationale Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg und die wachsende Zahl an IO können auf die Teilnahme bis dahin nicht im internationalen System partizipierenden Staaten und Gesellschaften hinweisen. Jedoch existiert nach Herren auch eine andere Lesart: Die Öffnung kann als Strategie der Großmächte gedeutet werden, durch die ein grundlegender Wandel verhindert werden sollte, indem mit eher unwichtigen Zugeständnissen den kleineren Staaten der eigene Bedeutungszuwachs suggeriert werden sollte (S. 56). Während sich der Völkerbund dem Frieden zwischen gleichgestellten Staaten verschrieb, führte dieser gemäß der Autorin jedoch den Kolonialismus unter anderem Etikett fort und folgte bei der Übernahme ehemaliger Kolonien der Verliererstaaten ins Mandatssystem „dem zivilisatorischen Modell des 19. Jahrhunderts“ (S. 58).

Für die Zeit nach 1945 macht Herren zwei Phasen aus, von denen die erste in die Zeit des Ost-West-Konflikts (1945-89) fällt und sich von zwischenstaatlicher Kooperation geprägt zeigte, während die zweite (nach 1989) eher vom Aufstieg der Nichtregierungsorganisationen bestimmt war. Auf den ersten Blick mag dies einleuchtend erscheinen, aber es lässt sich auch fragen, ob nicht auch viele nichtstaatliche Netzwerke und NGOs bereits während des Ost-West-Konflikts große Bedeutung erlangten. Da die Autorin Dekolonisation, Unabhängigkeit und Entwicklungspolitik als „zentrale Themen“ der internationalen Ordnung betrachtet (S. 107), könnte auch eine andere Periodisierung als die angeführte (1945-89) angedacht werden (zum Beispiel 1960 als Zäsur): Die „...charakteristische Verflechtung unterschiedlicher politischer Motive auf nationaler wie auf internationaler Ebene eskalierte in den sechziger Jahren im Fadenkreuz des West-Ost- und des Nord-Süd-Konflikts zu einer mit allen Mitteln geführten Auseinandersetzung um die Beanspruchung von politischen Deutungsmonopolen“ (S. 107). Der Teil zu der Zeit nach 1945 gestaltet sich im Vergleich zur Analyse des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger überzeugend. Die Autorin verzichtet hier weitgehend auf eine historische Einordnung der UNO und behandelt kaum andere Organisationen wie beispielsweise die Bretton-Woods-Institutionen oder die Konkurrenz zwischen letzteren und den UN-Einrichtungen.

Das Buch ist als Einstieg in den Themenbereich ausgezeichnet geeignet und daher eine empfehlenswerte Anschaffung für Lehrende und Studierende. Zahlreiche Beispiele veranschaulichen die Argumentationsführung. Während die Kapitel 2 und 3 zu beeindrucken vermögen, gestaltet sich die Lektüre des vierten Kapitels zu den Vereinten Nationen etwas nüchterner. Insgesamt bietet Madeleine Herren mit dem vorliegenden Werk eine gelungene Einführung in die Geschichte der IO und regt an vielen Stellen zu Neuinterpretationen an, indem sie auf globale Verflechtungsprozesse und Strukturen verweist.

Anmerkungen:
1 Akira Iriye, Global Community. The role of international organizations in the making of the contemporary world, Berkeley 2004 (Erstauflage 2002).
2 Zu den bibliographischen Empfehlungen ließen sich Paul Kennedys Geschichte der UNO und Bob Reinaldas jüngst erschienenes Nachschlagewerk zu IO sowie die Studien des United Nations Intellectual History Project (UNIHP) hinzufügen: Paul Kennedy, Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung, München 2007; Bob Reinalda, The Routledge History of International Organizations. From 1815 to the Present Day, London 2009. Zum UNIHP siehe <www.unhistory.org> (18.04.2010).
3 Zudem sei Asien ein Beispiel, das derzeit Gegenstand vieler Diskussionen sei. Während das zweite Argument Historikerinnen und Historiker nicht ausreichend überzeugen dürfte, erscheint das erste umso relevanter. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit aus einer globalen Perspektive nicht auch eine stärkere Berücksichtigung Afrikas und Lateinamerikas hilfreich gewesen wäre, gerade weil Afrika für lange Zeit als passiver „Empfänger“ der Politik internationaler Organisationen (Mandatssystem oder Entwicklungshilfe) betrachtet wurde und Lateinamerika seit jeher eine changierende Rolle zwischen der eigenen Verortung im „Westen“ und einer Solidarität mit der Dritten Welt einnahm.
4 Seitdem die kritische postkoloniale Theorie die Überprüfung westlich geprägter Universalismen verlangt, fragt die Forschung nach der Entstehung globaler Begriffe sowie ob IO auch aus anderen Perspektiven als einer eurozentrischen betrachtet werden können (S. 13). Herren zufolge entwickelten sich im 19. Jahrhundert Formen indirekter Herrschaft und internationaler Verwaltung, die einer Legitimierung des europäischen Einflusses auf nichtwestliche Gesellschaften, die als un- oder „halbzivilisiert“ galten, dienten. (S. 19). Während das 19. Jahrhundert (in Europa) vom „Streben nach Gleichheit“ geformt war, blieben Gleichheitsforderungen aus europäischer Sicht durch die Verbindung mit kultureller Fortschrittlichkeit auf westliche Gesellschaften beschränkt (S. 26).

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Published on
23.04.2010
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/