Die Titelseite des Buchs von Sabine Pitteloud ziert eine Zeichnung des Bundeshauses, umgeben von Symbolen verschiedener multinationaler Unternehmen (MNU): Die „Silbersonne“ des Aluminiumherstellers Alusuisse, das Nestlé-Vogelnest, das Hochhaus der Pharmafirma Roche sowie ein Firestone-Reifen. Es geht um die „Schweizer MNU in der politischen Arena“ beziehungsweise um die Politikgeschichte der Internationalisierung dieser Unternehmen in der Schweiz (S. 9). MNU spielen in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte eine bedeutende Rolle: Viele Unternehmen aus dieser kleinen offenen Volkswirtschaft hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg Tochtergesellschaften im Ausland. MNU sind seither ein fixer Bestandteil des Kapitalismus helvetischer Prägung. Das Buch Les multinationales suisses dans l’arène politique schließt daher eine wichtige Forschungslücke.
Fast ebenso alt wie die Internationalisierung der Schweizer Wirtschaft ist auch die Kritik an ihr. Aus Sicht der Schweiz als home country der MNU bestand zum Beispiel in der Zwischenkriegszeit die Furcht, dass ausländische Direktinvestitionen zu Arbeitsplatzverlagerungen und Arbeitslosigkeit führen. Seit den 1970er-Jahren wird die Macht der Großkonzerne über die Standortländer der Tochtergesellschaften (host countries) im globalen Süden kritisiert. Demgegenüber verstehen sich die MNU als Aktivposten der Volks- und Weltwirtschaft. Pittelouds Buch, hervorgegangen aus ihrer Dissertation, befasst sich mit den entsprechenden Diskursen, vor allem aber dem proaktiven Handeln der MNU in eigener Sache. Die Autorin untersucht, wieso und mit welchen Mitteln die Manager der MNU sich in der Wirtschaftspolitik engagierten, auf welche Widerstände sie dabei stießen, wie sie im Konzert mit anderen Teilen der Wirtschaft und mit den hohen Funktionären der Bundesverwaltung ihre Interessen durchsetzten und das marktwirtschaftliche Wirtschaftssystem verteidigten (S. 24, 33, 41). Das Buch zeigt die Perspektive der Arbeitgeber (patronat). Die Arbeitnehmerseite und die politische Linke spielen eine untergeordnete Rolle, was damit zusammenhängt, dass sie sich offenbar in vielen Debatten nur am Rande beteiligten (S. 30f.).
Die Einleitung situiert das Buch an der Schnittstelle dreier Forschungsrichtungen: Unternehmensgeschichte (insbesondere die Geschichte des international business, geprägt von Mira Wilkins und Alfred Chandler), Politikgeschichte (die Geschichte der Interessenvertretungen, wie sie in der Schweiz etwa an der Universität Lausanne von André Mach vertreten wird) sowie die Geschichte des Kapitalismus (im Gefolge von Peter Katzenstein und der Varieties of Capitalism von Peter Hall und David Soskice). Ganz offenbar sind Pittelouds Forschungen anschlussfähig, wurden doch mehrere Kapitel des vorliegenden Buchs bereits in Zeitschriften wie Business History oder Business and Politics publiziert.
Pitteloud organisiert ihren Stoff in drei Teilen und insgesamt zehn Kapiteln. Das Buch kann linear gelesen, aber auch als Aufsatzsammlung verstanden werden: Die einzelnen Kapitel sind in sich geschlossen und nehmen nicht systematisch aufeinander Bezug. Unter der Überschrift „Mikro“ stellt der erste Teil in zwei Kapiteln die Geschichte und die Themenschwerpunkte des Verbands der Schweizer MNU dar, der Vereinigung Schweizerischer Industrie-Holdinggesellschaften (kurz Industrie-Holding, heute SwissHoldings). Das Gründungsjahr 1942 ist der zeitliche Ausgangspunkt der Untersuchung. Nestlé und Alusuisse gehörten zu den Gründungsmitgliedern, später traten die Chemie- und die Maschinenfabriken bei. Da die Außenwirtschaftspolitik stark auf die Interessen der Exportunternehmen und der Banken ausgerichtet war, sollte die Industrie-Holding die anders gelagerten Interessen der MNU vertreten, etwa den Schutz der Direktinvestitionen im Ausland oder den Rücktransfer der Dividenden von ausländischen Tochtergesellschaften. Die Industrie-Holding, seit 1950 Mitglied des Spitzenverbands Schweizerischer Handels- und Industrieverein (SHIV), genannt „Vorort“ (S. 68), bevorzugte direkte Verhandlungen mit anderen Wirtschaftsverbänden sowie mit der eidgenössischen Verwaltung und war in der Öffentlichkeit sehr wenig sichtbar. Im Gegensatz zu den ersten Forschungen zu diesem ältesten MNU-Verband der Welt1 bewegt sich Pitteloud auf einer breiteren Quellenbasis.
Im zweiten, von Pitteloud „Meso“ genannten Teil geht es um das Zusammenspiel der Industrie-Holding mit den anderen Wirtschaftsverbänden (namentlich dem Vorort), mit Politik und Verwaltung sowie den Gewerkschaften. Die vier Kapitel behandeln den Diskurs über die Produktionsverlagerungen im Kontext der Hochkonjunktur, die Gründung von Tochtergesellschaften von amerikanischen MNU in der Schweiz, die Einführung einer Investitionsrisikogarantie und Verhandlungen mit Italien über Doppelbesteuerung und Migration. Interessanterweise kamen in dieser Zeit der „Wirtschaftsüberhitzung“ die Wirtschaftsverbände, die Verwaltung sowie der Gewerkschaftsbund zum Konsens, dass Produktionsverlagerungen ins Ausland ein probates Mittel gegen den ausgetrockneten Arbeitsmarkt und die Arbeitsimmigration aus Italien seien. Bei der Investitionsrisikogarantie oder den Verhandlungen mit dem wichtigen Partnerland Italien zeigt sich, wie die Industrie-Holding nach jahrelangen Diskussionen mit anderen Wirtschaftsverbänden sowie mit Politik und Verwaltung beider Länder ihre Anliegen schließlich zielsicher durchbrachte.
Der dritte Teil mit dem Titel „Makro“ umfasst wiederum vier Kapitel, diesmal vor allem über die 1970er- und 1980er-Jahre: Die Verteidigung der marktwirtschaftlichen Ordnung gegenüber der Gewerkschaftsbewegung oder dem Gewerbe, der Umgang der MNU mit den von internationalen Organisationen angestrebten Verhaltenskodizes und der Kritik der Entwicklungsorganisation Erklärung von Bern, die Debatten um die Schließung der Schweizer Filiale des US-Reifenkonzerns Firestone und zuletzt die Veränderungen in der Agenda der MNU in jüngerer Zeit. Es zeigt sich auch hier, dass die MNU sich nicht ausschließlich auf die Industrie-Holding stützten, sondern auf weitere Gremien wie zum Beispiel die Wirtschaftspolitische Arbeitsgruppe Multinationale Unternehmen (WPA-MNU), in der auch Spitzenbeamte der Bundesverwaltung oder des Vororts vertreten waren. Und den MNU gelang es, ihre Vertreter:innen in den relevanten internationalen Organisationen wie der UNO oder der OECD zu platzieren und deren Politik mitzubestimmen. Die Firestone-Affäre 1978 – gemeint sind die Proteste gegen die Schließung der Schweizer Fabrik dieses US-amerikanischen Reifenherstellers – zeigt schließlich, dass der „Standort Schweiz“ sich veränderte und die Frage aufkam, ob sich auch der helvetische Kapitalismus verändern muss. Während Pitteloud im zweiten Teil die Grundstimmung der 1950er- und 1960er-Jahre anschaulich darstellt, wird in diesem dritten Teil die massive Kritik an den MNU ab den 1970er-Jahren in einem immer dichteren Spinnennetz von nationalen und internationalen Gremien und Verhandlungen verschluckt.
Pitteloud beantwortet ihre Forschungsfragen, indem sie zahlreiche Facetten des Verhaltens der MNU aufzeigt und das Funktionieren des helvetischen Kapitalismus inklusive seiner Widersprüche en détail schildert. Mehrfach taucht zum Beispiel der Gegensatz zwischen dem angestrebten Verzicht auf Staatsinterventionen und den Forderungen nach staatlicher Unterstützung auf. Das Buch ist sehr reichhaltig und gibt einen breitgefassten Überblick zur Thematik, wenn auch keine wirkliche Synthese. Eine engere Verknüpfung der einzelnen Kapitel und ein dickerer roter Faden wären denkbar gewesen. Die Auswahl der Kapitel ist nicht zuletzt der (guten) Quellenlage geschuldet – wichtige Themen hinterließen breite Papierspuren; wie Pitteloud selber anmerkt (S. 43), hätte es noch weitere Forschungsgegenstände gegeben, so etwa die Frage, ob der Aufstieg der japanischen MNU in der Schweiz in den 1980er-Jahren politische Diskussionen auslöste. Die einzelnen Kapitel unterscheiden sich in ihrem Aufbau: Während etwa die Entstehung der Investitionsrisikogarantie chronologisch entlang der Archivquellen geschildert wird, sind Themenspektrum und Quellenauswahl in anderen Kapiteln viel heterogener, so beispielsweise in jenem über die Verteidigung der Marktwirtschaft.
Das Buch ist sorgfältig produziert. Hilfreich bei der Lektüre sind die Anmerkungen in Form von Fußnoten. Etwas seltsam mutet hingegen das Personenregister an, das Namen von historischen Personen mit zitierten Autor:innen von Sekundärliteratur vermischt. Nützlich wäre ein Register der erwähnten Organisationen gewesen und die Aufführung der deutschsprachigen Namen und Abkürzungen im Abkürzungsverzeichnis.
Pitteloud hat ausgezeichnete Quellenarbeit geleistet und bisher unterbelichtete Vorgänge und Organisationen dargestellt. Das Buch basiert auf umfangreichen Quellen aus dem Bundesarchiv sowie aus Firmen- und Verbandsarchiven in privaten und öffentlichen Institutionen (S. 42). Anschauliche und treffende Quellenzitate tragen zum Erkenntnisgewinn und zum Lektüreerlebnis bei.
Anmerkung:
1 Margrit Müller, Internationale Verflechtung, in: Patrick Halbeisen / Margrit Müller / Béatrice Veyrassat (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, Basel 2012, S. 339–465.