Potosí kann in der internationalen Wirtschaftsgeschichte der Vormoderne mit ihren sozial- und kulturhistorischen Implikationen in doppelter Hinsicht als ein zentrales Symbol gelten: Zum einen steht die Bergstadt in Alto Perú als „treasure of the world“ (S. 1) für den als unermesslich angesehenen Reichtum an Silber, der aus dem andinen Hochland (wie auch aus Zentralmexiko) nach Europa, Asien und Afrika strömte. Zum anderen - und dies erscheint noch bedeutender - wurden die aus diesem Silber geprägten Münzen, die pesos de ocho reales in ihren verschiedenen Bezeichnungen und gegebenenfalls auch Weiterentwicklungen, zum zentralen „Schmiermittel“ (Patrick Karl O’Brien) des globalen Handels und in letzter Konsequenz auch der beginnen-den Industrialisierung in Europa, ermöglichten sie doch den europäischen Handelsnationen den vergleichsweise kostengünstigen Bezug von Rohstoffen, Halbfabrikaten, Genussmitteln und Luxuswaren, insbesondere aus den asiatischen Ländern. Wenn man die Epoche vom Beginn der europäischen Expansion bis zum Ende des ersten Kolonialzeitalters als eine Epoche des globalen Silbers bezeichnen möchte, dann ist Potosí zweifellos ein - wenn nicht der - wesentliche Dreh- und Angelpunkt, um den sich eine derartige Betrachtung drehen sollte.
Dies ist der Ansatzpunkt der Gruppe von Autorinnen und Autoren, die sich 2019 auf einer Konferenz der Asociación de Estudios Bolivianos in Potosí zusammengefunden haben und deren Ergebnisse nun in einem kompakten und zugleich vorzüglich gestalteten Band vorgelegt werden. Die Konzeption der beiden Herausgeberinnen setzt vier Schwerpunkte, die, eingeleitet durch ein hervorragendes Glossar und einen konzisen Überblicksartikel der Herausgeberinnen, ein facettenreiches Themenspektrum auffächern, das weit über traditionelle Darstellungen des Stoffes hinausreicht: Der erste Abschnitt umfasst Fragen der Geologie, der Sakralräume sowie des politischen und technologischen Wissensstandes, d.h. der Rahmenbedingungen des Bergbaus in Potosí, im Übergang von der vorspanischen Epoche bis ins späte 16. Jahrhundert. Im zweiten Teil stehen Umwelt- und Arbeitsgeschichte im Mittelpunkt, konkret die innovativen hydraulischen Anlagen (‚Wasserkünste‘) im kolonialen Potosí und die Verhandlungen über Arbeitskräfte für die aufwändige und gefährliche Bergbautätigkeit. Der dritte Teil nimmt unter dem Titel „Flows, Heterogenous Producers and Agency“ die eigentliche Silberproduktion in Potosí in den Blick und konzentriert sich dabei zum einen auf die erste Blütezeit im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, zum anderen auf den zweiten großen Aufschwung der Silbererzeugung im 18. Jahrhundert, der auf wesentlich veränderte Bedingungen in den globalen Handelsbeziehungen traf.
Die drei hierzu verfassten Kapitel stellen aus wirtschaftshistorischer Sicht gewissermaßen den Kern des Bandes dar, zumal hier die in der Forschung seit Jahrzehnten diskutierten Fragen nach Produktions- und Exportmengen erneut aufgegriffen werden. Im vierten Teil geht es schließlich um die lokalen, regionalen und globalen Folgen der Silbererzeugung in Potosí, die zum einen am großen Münzbetrug der Mitte des 17. Jahrhunderts und zum anderen am Übergang von der Silber- zur Quecksilberproduktion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts exemplarisch beleuchtet werden. Diese Fallstudien sind zwar von großem Interesse, können aber eine tatsächlich umfassende und globale Perspektive auf die Konsequenzen der Potosí-Produktion für die weltweiten Handelsströme und ihre Verflechtungen mit ihren Implikationen für das internationale Zahlungsverkehrssystem und auf die letztlich einsetzende ökonomische Integration der Volks-wirtschaften, die im Gefolge der Industrialisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine Weltwirtschaft münden sollte, nicht zu ersetzen.
Diese - wenn man so will - Schwäche des Bandes ist zugleich seine Stärke: Die Beträge fokussieren eine im Wesentlichen südamerikanische Perspektive auf Potosí und seine Bedeutung für den Globalisierungsprozess und lassen europäische Sichtweisen oder auch den Vergleich mit dem mexikanischen Produktionsgebiet außen vor. Dieser Perspektivwechsel gegenüber der traditionellen Forschung lässt jedoch am Beispiel Potosís die Bedeutung des Globalen Südens für die Herausbildung von Welthandel, Weltwirtschaft und Globalisierung prägnant hervortreten - und gerade darin liegt das Verdienst dieses Bandes, der in der einschlägigen Forschung künftig breite Berücksichtigung finden sollte.