A. Iandolo: Arrested Development

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Title
Arrested Development. The Soviet Union in Ghana, Guinea, and Mali, 1955–1968


Author(s)
Iandolo, Alessandro
Published
Extent
XIII, 287 S.
Price
$ 50.00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Andreas Hilger, Max Weber Stiftung, Bonn

In den letzten Monaten hat sich das offizielle Russland als militärischer und wirtschaftlicher Partner der Militärregierung in Mali ins Spiel gebracht. Es ist ungewiss, ob der russische Außenminister Lavrov in entsprechenden Gesprächen auf sowjetische Vorläufer der bilateralen Beziehungen hinwies. Öffentlich stellte Lavrov kürzlich die Kontakte jedoch unmissverständlich in die historische Traditionslinie angeblicher anti-kolonialer Gemeinsamkeiten, als er vor der Presse erklärte, dass sich die früheren Kolonialmächte „daran gewöhnen“ müssten, „dass die Welt sich verändert hat“.1

Unabhängig von tagesaktuellen Instrumentalisierungen: Historische Erfahrungen bzw. Erinnerungskulturen nichteuropäischer Gesellschaften und Staaten tragen sicherlich dazu bei, dass nicht alle Teile der Welt dem russischen Krieg gegen die Ukraine heute die Bedeutung beimessen und die Bewertung zuteilwerden lassen wie die meisten europäischen Nachbarn. Auch aus dieser Sicht kommt das neue Buch von Alessandro Iandolo, der seit längerem über sowjetisch-afrikanische Beziehungen forscht und aktuell als Marie Skłodowska-Curie Fellow am Davis Center for Russian and Eurasian Studies der Universität Harvard tätig ist, genau rechtzeitig.

Die Studie behandelt, mit Fokus auf der sowjetischen Perspektive, die Wirtschaftsbeziehungen der UdSSR mit den drei westafrikanischen Staaten Ghana, Guinea und Mali in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren. In diesem Zeitraum engagierte sich die Sowjetunion unter Nikita Chruščev in der Region, um dort ein eigenes, nichtkapitalistisches Entwicklungsmodell zu etablieren und zum Erfolg zu führen. Mit seinem Fokus fügt sich der Titel in die wachsende Zahl von Analysen der Beziehungen zwischen der Sowjetunion – und ihren Verbündeten – und dem globalen Süden im Kalten Krieg ein, die Strategien bzw. Opportunismus der Supermacht und Handlungsspielräume und Agency der sogenannten Dritten Welt ausloten.2

Ghana, Guinea und Mali erlangten ab Ende der 1950er-Jahre in relativ dichter Abfolge ihre Unabhängigkeit, wenn auch unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Ghana, eine Art von britischer Musterkolonie, erreichte 1957 eine mehr oder weniger einvernehmliche Trennung von Großbritannien, verließ jedoch 1960 das Commonwealth. Guinea verweigerte sich 1958 der französischen Communauté. Daraufhin stellte Frankreich abrupt alle Beziehungen und Hilfen ein und zog beispielsweise mit der Administration auch buchstäblich deren gesamte Ausstattung aus dem Land ab. Die Mali-Föderation gewann 1960 die Unabhängigkeit innerhalb der französischen Gemeinschaft. Noch im selben Jahr verließ der Senegal die Föderation.

Die Außen- und Wirtschaftspolitik aller drei Staaten war bald von linksgerichteten Persönlichkeiten bestimmt: Kwame Nkrumah, Sékou Touré und Modibo Keïta. Ihr Ziel war es, sich mit raschen Entwicklungsschritten auch im wirtschaftlichen Bereich aus der Dominanz der früheren Metropolen und ihres kapitalistischen Systems zu lösen. Daraus folgte keine bedingungslose Anlehnung an das sozialistische Lager: In Ghana beispielsweise fürchtete die Regierung zunächst jede Art von Abhängigkeit von einer „white power“, ganz gleich, ob diese kapitalistisch oder sozialistisch agierte (S. 71). Guinea seinerseits wollte durch vorschnelle Beziehungen zu Moskau nicht die Anerkennung durch westliche Staaten gefährden (S. 84f.). Letztlich bot das sowjetisch-sozialistische Wirtschafts- und Staatensystem in den Augen der afrikanischen Staatsmänner hinsichtlich ihrer postkolonialen Vorhaben jedoch vielversprechende Anknüpfungspunkte. Methoden sozialistischen Wirtschaftens wie Planung, staatliche Lenkung und Mechanisierung der Landwirtschaft schienen in der eigenen Situation vorbildlich, handfeste Hilfen wie längerfristige Kredite mit vorteilhaften Bedingungen attraktiv. Lücken, die sich in sowjetischen Narrativen über eigene Entwicklungserfolge im Ganzen sowie in der sowjetischen Peripherie auftaten – von der Bedeutung von lend-lease im Zweiten Weltkrieg bis hin zur Deformation durch repressive Instrumentarien – wurden von westafrikanischen Entscheidungsträgern nicht erkannt oder ignoriert. China konnte bis Mitte der 1960er-Jahre im Übrigen angesichts fehlender Mittel und unerwünschter Radikalität nicht mit den Angeboten der UdSSR konkurrieren.

Ungeachtet der Annäherung an die UdSSR entzogen sich westafrikanische Programmatiken auch weiterhin einer klaren Kategorisierung als sozialistisch oder gar kommunistisch (S. 229f.). Diese Unbestimmtheit sahen auch sowjetische Beobachter. Die UdSSR unter Chruščev begnügte sich zunächst einmal damit, dass die neuen Staaten dem sogenannten nichtkapitalistischen Entwicklungsweg folgten. Moskau wollte sich die Chance nicht entgehen lassen, um via Westafrika vor der gesamten Dritten Welt die Vorzüge des eigenen Wirtschaftsmodells zu demonstrieren, anti-westliche Abkopplungsprozesse zu unterstützen sowie, zumindest auf lange Sicht, mit gezielten Entwicklungsschritten und -schwerpunkten im globalen Systemkonflikt neue Gesellschaften für den Sozialismus zu gewinnen. Die Bewertung rein wirtschaftlicher Motivationen Moskaus fällt in dem Buch widersprüchlich aus (S. 137, S. 225). Insgesamt kam der UdSSR jede Möglichkeit entgegen, durch Barter-Abkommen Devisen einzusparen, da sie diese für den Einkauf notwendiger Technologien im Westen benötigte. Dieser Aspekt wird von Iandolo, die mit seiner Argumentation letztlich auf die fehlende Profitabilität sowjetischer Aktivitäten fokussiert, übersehen (S. 225f.).

Der Optimismus, den sowohl die afrikanischen Regierungen als auch die sowjetische Politik in die Wirtschaftskooperation setzte, verflog in erstaunlich kurzer Zeit. In sowjetischen Behörden waren bereits Anfang der 1960er-Jahre kritische Stimmen zu vernehmen, die angesichts der sowjetischen Kosten bei weitem zu geringe wirtschaftliche und politische Gewinne registrierten. In Westafrika wurde die Zusammenarbeit ebenfalls durchaus kritisch begleitet: Ende 1961 verwies Guinea gar den sowjetischen Botschafter des Landes, auch, weil der ständig politische Entscheidungen des Gastlandes kritisiert hatte und überall herumerzählte, die Guineer seien faul und wollten nicht arbeiten (S. 157). Wichtiger als diese Episode war unter anderem, dass das Land, ebenso wie Mali, 1963 den von Moskau ungeliebten Institutionen Weltbank und Internationaler Währungsfond beitrat. Chruščevs Sturz sowie, wenige Jahre danach, die Machtverluste von Nkrumah in Ghana und Keïto in Mali besiegelten quasi nur das Ende der jeweils seit längerem deutlich abgekühlten bilateralen Beziehungen; Guineas Präsident Touré fand derweil zu einer Art von Schaukelpolitik zwischen USA, UdSSR und China.

Die eindeutige Stärke des Buchs liegt darin, an zahlreichen Beispielen die Differenzen zwischen Vorstellungen und Möglichkeiten in der Praxis wirtschaftlicher Zusammenarbeit empirisch dicht zu beschreiben. Dies gelingt nicht zuletzt durch die beeindruckend breite Quellengrundlage, die Bestände westafrikanischer, russischer, westeuropäischer und US-amerikanischer Archive einbezieht. Die ambitionierten Ziele beider Seiten verkannten oft genug die wirklichen Begebenheiten und Bedürfnisse vor Ort. Sie scheiterten unter anderem am unwirtschaftlichen Gigantismus von Einzelprojekten, an fehlenden Finanzierungsquellen, an technischen Schwierigkeiten, an überforderten Arbeitskräften und Experten, an mangelhafter Qualität und Quantität von Ausrüstungen und Materialien, an planerischen Fehlkalkulationen sowie daran, dass weder die westafrikanischen Staaten noch die UdSSR ihre Bindungen an kapitalistische Logiken und Mechanismen der Weltwirtschaft kappen konnten. Die starke britische Stellung im Kakaohandel Ghanas war hierfür ein Beispiel, Malis gescheiterte Anbindung an den internationalen Seeverkehr oder Guineas geplatzte Träume, eine weltweit konkurrenzfähige Aluminiumproduktion aufzubauen, weitere. Die Verantwortung für die zahlreichen Probleme suchten sowjetische und westafrikanische Vertreter mit Vorliebe jeweils bei der Gegenseite. Das Vertrauenskapital, angesichts der kurzen Laufzeit der Beziehungen ohnehin kaum angesammelt, war auf diese Weise rasch aufgebraucht. Da (schnelle) Erfolge ausblieben, schwanden politischer Goodwill und der politische Wille zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Diese Prozesse entsprachen im Wesentlichen anderen sozialistischen Erfahrungen mit und in dem globalen Süden während des Kalten Kriegs nach Stalin. Somit ergänzt Iandolos Studie das bisherige Bild der Forschung mit weiteren erhellenden regionalen Facetten und verfestigt es zugleich.2 Iandolos These, dass die UdSSR in ihren Beziehungen zu dem globalen Süden den Staaten in Westafrika einen besonderen Stellenwert einräumte, vermag jedoch nicht zu überzeugen. Diese Interpretation löst die Region und die kurze Ära dieser Kooperationen zu scharf von der generellen sukzessiven Entwicklung der sowjetischen Politik seit den letzten Jahren Stalins gegenüber dem gesamten Block der postkolonialen Welt, ihren Lern- und Anpassungsprozessen sowie ihren komplexen Wechselwirkungen mit kapitalistischen und sozialistischen Akteuren.

Unabhängig von dieser Engführung eröffnet die Studie weitere spannende Forschungsperspektiven auf das Verhältnis zwischen Supermächten und globalem Süden: Erstere konnten, folgt man der Darstellung, ein Disengagement in verschiedenen Teilen der Welt möglicherweise gar nicht durchhalten, da die regionalen Akteure durch ihre aktive Annäherung an die jeweils andere, weniger indifferente Macht den Kalten Krieg in die Region holten (S. 89). Auf der anderen Seite ließen sich konkrete wirtschaftliche Herausforderungen und Projekte nicht immer deutlich als sozialistisch oder kapitalistisch erkennen (S. 111, S. 114f.). Nicht zuletzt liefert Iandolos Untersuchung weitere Anregungen, um darüber nachzudenken, inwieweit Anti-Kolonialismus oder pro-sozialistische Ausrichtung die Basis der Zusammenarbeit von Dritter und Zweiter Welt im Kalten Krieg darstellten, und inwieweit entsprechend formatierte Erinnerungskulturen die internationalen Beziehungen des postkolonialen globalen Südens bis heute mitprägen.

Anmerkungen:
1 Lawrow verhöhnt Frankreich während Mali-Visite, Spiegel online 07.02.2023, https://www.spiegel.de/ausland/mali-sergej-lawrow-provoziert-frankreich-bei-afrika-visite-a-599b0f02-ddd6-469f-a9d5-997885069397 (Zugriff 14.02.2022).
2 Vgl. zur UdSSR und afrikanischen Staaten u.a. Maxim Matusevich, No Easy Row for a Russian Hoe. Ideology and Pragmatism in Nigerian-Soviet Relations, 1960–1991, Trenton 2003; Natalia Telepneva, Cold War Liberation. The Soviet Union and the Collapse of the Portuguese Empire in Africa, 1961–1975, Chapel Hill 2021. Allg. u.a. Oscar Sanchez-Sibony, Red Globalization. The Political Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev, Cambridge 2014.
[3] Vgl. Silvio Pons (Hrsg.), The Cambridge History of Communism, Vol. 2–3, Cambridge 2017.

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03.03.2023
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