A. Schors u.a. (Hrsg.): Wie schreibt man Internationale Geschichte?

Cover
Titel
Wie schreibt man Internationale Geschichte?. Empirische Vermessungen zum 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Schors, Arvid; Klose, Fabian
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: Campus Verlag
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Silke Mende, Historisches Seminar, Universität Münster

Das Feld der internationalen Geschichte durchläuft seit den 1990er-Jahren einen markanten Wandel: Analog zu anderen Ansätzen, die sich einer „Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats“ (Jürgen Osterhammel) verschrieben haben, sowie vor dem Hintergrund einer Pluralisierung von Ansätzen und einer Entideologisierung innerhalb des Faches hat sich auch in diesem Bereich ein pragmatischer Zugang durchgesetzt. Diesem fühlt sich auch ein kürzlich von den beiden Kölner Historikern Fabian Klose und Arvid Schors herausgegebener Sammelband verpflichtet. Unter dem etwas vollmundigen und teils falsche Erwartungen weckenden Titel „Wie schreibt man Internationale Geschichte?“ umfasst er insgesamt 16 Beiträge von überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich in Deutschland arbeitenden, aber allesamt international orientierten Historiker:innen.

Der Band wird durch eine ausführliche Einleitung sowie ein resümierendes Fazit der Herausgeber eingerahmt. Der Großteil der Texte – nämlich zwölf – gibt empirische Einblicke in unterschiedliche Forschungsfelder internationaler Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Anhand eigener Forschungsgegenstände zeigen die Autor:innen exemplarische Zugänge zur internationalen Geschichte auf. Die große Vielfalt der behandelten Themen reicht beispielsweise von Lohnverhandlungen und Lebenshaltungskosten im Zeitalter des Goldstandards (Sebastian Teupe) über jüdische Reaktionen auf Ritualmordvorwürfe im 19. Jahrhundert (Elisabeth Gallas) sowie internationale Orchestertourneen an der Jahrhundertwende (Friedemann Pestel) bis hin zu transatlantischer Migration und internationaler Mobilität nach 1848/49 (Sarah Panter). Darüber hinaus geht es etwa um materielle Reparationen nach Versailles (Anna Karla), die „International Conference on African Children“ im Jahr 1931 (Katharina Stornig) sowie internationale Adoptionen nach dem Zweiten Weltkrieg (Silke Hackenesch). Hinzu kommen zwei einordnende sowie kommentierende Beiträge von Madeleine Herren und Petra Goedde.

Mit der Entscheidung für ein sehr breites und pragmatisches Verständnis von internationaler Geschichte wirft der Band einen frischen Blick auf aktuelle Forschungen im Feld. Zugleich geht damit notgedrungen Trennschärfe verloren. Indem die beiden Herausgeber für „Internationale Geschichte“ als Dachbegriff und „Oberkategorie“ plädieren, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zu anderen Ansätzen: Lassen sich transnationale oder Globalgeschichte so einfach unter „Internationaler Geschichte“ subsumieren, wie es die Einleitung nahelegt? Genauso ließe sich über weitere Grundüberlegungen und konzeptionelle Entscheidungen der Herausgeber diskutieren. So überzeugt zwar die zeitliche Konzentration auf das 19. und 20. Jahrhundert, allein schon mit Blick auf den Aufstieg und Wandel des Nationalstaats, der für die Geschichte der internationalen Beziehungen weiterhin einen zentralen Bezugspunkt darstellt. Aber ist es sinnvoll, nach einem Plädoyer für einen „substanziellen Brückenschlag über die chronologische Grenze zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert hinweg“ (S. 21) eine Zweiteilung des Bandes nach Jahrhunderten vorzunehmen? Auch die Aufteilung der empirischen Beiträge beider Jahrhunderte in jeweils sechs systematische Themenbereiche (1. Diplomatie, 2. Wirtschaft, 3. Recht, 4. Netzwerke, 5. Familie, 6. Wissen) vermag nicht vollständig zu überzeugen. Zum einen ließen sich – zugegebenermaßen etwas wohlfeil – weitere und andere relevante Kategorien sowie Themenfelder der internationalen Geschichte benennen, die auch in mehreren Beiträgen des Bandes immer wieder prominent auftauchen. Dazu gehören Migration, Medien und Öffentlichkeiten sowie mit Abstrichen auch Umwelt. Zum anderen sind die Einteilungen – wenig überraschend – nicht immer trennscharf. Die überragende Bedeutung von „Wissen“ als Kategorie arbeiten nicht nur die Beiträge von Nils Bennemann anhand der Zentralkommission für Rheinschifffahrt für das 19. und Sarah Ehlers anhand des Pestizid-Welthandels in den 1970er- und 1980er-Jahren für das 20. Jahrhundert heraus. Stattdessen prägt „Wissen“ – häufig in Gestalt von Expert:innen – fast alle empirischen Beiträge des Bandes, worauf auch die Herausgeber (unter anderem S. 362) verweisen. Zugleich kommt dem „Recht“ als prägender Faktor eine ähnlich herausgehobene Rolle zu. Zutreffend argumentiert Julia Eichenberg in ihrem Beitrag zu europäischen Exilregierungen im London des Zweiten Weltkriegs, dass „Recht als Ressource“ nicht nur in diesem Fall eine zentrale Rolle spielte, sondern dass sich Rechtsgeschichte „durch fast alle Themen der internationalen Geschichte“ zieht, „weshalb jedes Thema auf rechtliche Aspekte überprüft werden sollte“ (S. 262).

Schließlich funktioniert auch die Bildung systematischer Tandems über die Jahrhunderte hinweg unterschiedlich gut, was aber nicht den durchweg mit Gewinn zu lesenden empirischen Beiträgen als solchen anzulasten ist. Mit dem Ziel, Bezüge zwischen den beiden Jahrhunderten aufzuzeigen, wird jeder der sechs Teilbereiche von einem Beitrag zum 19. und einem zum 20. Jahrhundert bespielt. Während dies beispielsweise bei den beiden im Bereich „Recht“ verorteten Texten (Elisabeth Gallas und Julia Eichenberg) interessante Bezüge zutage fördert, ließe sich etwa mit Blick auf die Beiträge im Bereich „Diplomatie“ zugespitzt fragen, was Henry Kissingers Geheimverhandlungen während des Kalten Krieges (Arvid Schors) mit den diplomatischen Ränkespielen um die Jagd von Pelzrobben am Ende des 19. Jahrhunderts (Robert Kindler) zu tun haben. Denn gerade der sehr lesenswerte Beitrag von Kindler zeigt den ganzen Facettenreichtum internationaler Geschichte jenseits einer eher klassischen Diplomatiegeschichte auf, wenn er etwa auf den Zusammenhang von „Robbendiplomatie“ und „Robbenwissen“ (S. 38), die zunehmende Austragung von internationalen Ressourcenkonflikten als Wissenskonflikten sowie die steigende Bedeutung rechtlicher Instanzen wie beispielsweise internationalen Schiedsgerichten verweist.

Von besonderer Bedeutung für die Gesamtschau des Bandes sind deshalb die zusammenfassenden Kommentare von Madeleine Herren für das 19. und Petra Goedde für das 20. Jahrhundert, die Bezüge zwischen den empirischen Fallbeispielen aufzeigen sowie übergreifende Einordnungen vornehmen und ein „bigger picture“ zeichnen. So unterstreicht Herren für ihren Bereich zurecht, dass es nicht die „linearen Entwicklungslinien, die angeblich in die Gegenwart führen“ sind, die „das 19. Jahrhundert als chronologischen Abschnitt herausfordernd und interessant“ machen, sondern „Ambivalenzen und Asymmetrien, die uns mit der Frage konfrontieren, was die Geschichtsschreibung analytisch zu bieten hat, wenn der historische Vergleich scheinbar naheliegend ist“ (S. 173). Petra Goeddes Beitrag lädt wiederum dazu ein, darüber nachzudenken, „ob sich seit dem Beginn des Umbruchs in der Diplomatiegeschichte in den 1990er-Jahren so etwas wie eine innere Kohärenz in Hinblick auf Theorie und Methodik herausgebildet hat“ (S. 331). Sie kommt dabei zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Herausgeber: „Es gibt so etwas wie einen Konsens in der Teildisziplin der internationalen Geschichte, allerdings besteht dieser Konsens in der Pluralität der möglichen Ansätze.“ (S. 332)

In diesem Sinne bietet der Band einen facettenreichen Einblick in ein dynamisches Forschungsfeld und präsentiert eine interessante sowie durchweg lesenswerte Auswahl von aktuellen Forschungen in diesem Bereich. Er ist damit eine willkommene, vor allem aus der Empirie schöpfende Ergänzung zu den beiden deutschsprachigen, bereits etwas älteren Standardwerken im Bereich der „Internationalen Geschichte“, die jedoch weiterhin für eine systematischere Vermessung des Feldes stehen.1

Anmerkung:
1 Wilfried Loth / Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000; Jost Dülffer / Wilfried Loth (Hrsg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012.

Redaktion
Veröffentlicht am
30.10.2024
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/