Wie kommen archäologische Erkenntnisse überhaupt zustande und wie verliefen archäologische Untersuchungen am Beispiel Ägyptens zwischen 1898 und 1914? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der Studie von Maximilian Georg. Dabei verweist Georg auf ein Grundproblem archäologischer Diskurse und Publikationen: die Rolle von Grabungsarbeitern im Forschungsprozess. Während studierte Archäologen als „Entdecker“, „Forscher“ oder „Leiter“ archäologischer Unternehmungen auftreten, bleiben die grabenden Arbeiter dahinter meist unsichtbar.
In der vorliegenden Studie untersucht Georg die Beziehungen der deutschen Archäologen und Ägyptologen Ludwig Borchardt, Georg Steindorff, Georg Möller, Otto Rubensohn und Friedrich Zucker zu ihren ägyptischen Arbeitern sowie zum ägyptischen Antikendienst. Dabei stellt Georg weniger die archäologischen Ergebnisse in den Vordergrund als die Frage nach dem Weg zu diesen. Die „ägyptische Arbeiter“ - darunter versteht Georg alle Personen, die im Untersuchungszeitraum in Ägypten lebten, als solche wahrgenommen wurden und bei den Grabungen angestellt waren - hatten durchaus einen erheblichen Einfluss auf die Grabungsergebnisse, weshalb eine Erforschung der ägyptischen Arbeiter nicht nur lohnenswert, sondern für das Verständnis der Grabungsergebnisse auch notwendig ist.
Der Untersuchungszeitraum 1898-1914 stellt eine qualitative und quantitative „Hochphase“ deutscher Beschäftigung im Bereich der Archäologie in Ägypten dar. Im einführenden Kapitel „Voraussetzungen und Methodik“ (S. 17-74) begründet Georg sein Thema und erörtert die Motive der Deutschen, in Ägypten archäologisch tätig zu werden. Dazu stellt Georg seine wichtigste Quellengattung vor, die Feldtagebücher der deutschen Archäologen und ihrer Assistenten (42 Stück), die als Arbeitsnachweis für Geldgeber und Förderer sowie als Grundlage für die spätere wissenschaftliche Publikationen regelmäßig geführt wurden.
Die Tagebücher, die durch Archivreisen sowie in digitalisierten und publizierten Bestände erschlossen wurden, umfassen über 7.500 Seiten und wurden von Georg auf Wissen und Informationen über ägyptische Arbeiter untersucht und kritisch analysiert. Diese werden in den Tagebüchern jedoch meist nur in einem negativen bzw. die Grabung störenden Kontext erwähnt. Neben den Tagebüchern bezieht Georg publizierte Feldberichte, Lohnlisten, Fotographien, Briefe, Telegramme und Rechnungen in seine Studie ein, um Auskünfte über die ägyptischen Arbeiter auf deutschen Ausgrabungen geben zu können.
Das erste Kapitel schließt mit einem Überblick über die bisherige Forschung und einer Vorstellung der eigenen Forschungsperspektiven. Dabei wird den Archäologen, insbesondere den Ägyptologen, zu Recht ein verspätetes Interesse an der eigenen Geschichte attestiert und trotz einiger wichtiger Vorstudien im englisch- und französischsprachigen Raum, auf die fehlende Behandlung der archäologischen Arbeiter und ihrer Rolle bei archäologischen Unternehmungen hingewiesen – was die publizierte Dissertation von Georg umso begrüßenswerter und aktueller erscheinen lässt.
Das zweite Kapitel „Vorgeschichte: Westliche Archäologen und Einheimische in Ägypten, 1798-1898“ (S. 75-118) widmet sich dem historischen und archäologischen Kontext und zeichnet - anhand von Porträts von Forschenden, Reisenden, Sammlern und ersten archäologischen Unternehmungen - nach, wie sich die Ägyptologie im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierte, wie sich die archäologischen Arbeitsbedingungen mit besonderem Fokus auf Antikenbehörde, Konzessionen und Denkmalschutz entwickelten und was über Begegnungen mit Einheimischen bekannt ist.
Dabei zeigt Georg, dass Begegnungen mit Einheimischen spätestens seit 1800 unausweichlich waren, aber nicht immer konfliktfrei verliefen. Deutlich wird auch, dass die archäologischen Unternehmungen ebenso vom Wohlwollen der Politik wie von den diplomatischen Beziehungen der Länder der Forschenden zu Ägypten und untereinander abhängig waren. Während das ägyptische Antikengesetz im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend restriktiver und reglementierender wurde - Grabungskonzessionen wurden aus dem Machtbereich des ägyptischen Vizekönigs an den 1858 gegründeten Antikendienst übertragen - wurde die ägyptische Bevölkerung durch die Teilnahme an archäologischen Unternehmungen, aber auch durch den Handel mit Antiken und touristischen Dienstleistungen immer mehr mit der materiellen Kultur des Alten Ägypten vertraut.
Mit Beginn des Untersuchungszeitraums waren die Deutschen nicht nur institutionell in Ägypten verankert (durch Konsulatsposten sowie das Kaiserliche-Deutsche Institut für Ägyptische Altertumskunde), sondern es hatte sich bereits ein ägyptisches „Grabungsarbeitertum“ herausgebildet, weshalb Georg von einer „Archäologisierung der Ägypter“ und einer „Ägyptisierung der Ägypten-Archäologie“ spricht (S. 117). Damit wird deutlich, dass sich die Ägyptologie als Wissenschaft mit der sich verändernden Rolle der Einheimischen für die Archäologen veränderte.
Im dritten Kapitel „Deutsche Archäologen, 1898-1914: Auswertung der deutschen Quellen“ (S. 119-304) erfährt man informativ und gut dargestellt über die deutschen Beziehungen zum ägyptischen Antikendienst, über die Rekrutierung der Arbeiter (die regional und teils in der Familie erfolgte, teils folgten die erprobten Arbeiter aber auch den Archäologen), über die Anzahl der Arbeiter (ca. 131 pro Tag, an manchen Tagen über 600), über die Organisation der Arbeiter (in Vorarbeiter, höher gestellte und niedriger gestellte Männer und Jungen, die wiederum in Gruppen und als Gespann organisiert waren), über die Abläufe und Tätigkeiten der Arbeiter auf deutschen Grabungen (vom Graben, Freilegen und Verpacken der Funde bis hin zu Spezialaufgaben wie Kochen, Bewachen und Betreiben der Feldbahn) sowie über die wesentliche Rolle der ägyptischen Vorarbeiter (raise), die als Bindeglied zwischen Deutschen und Ägyptern fungierten.
Besonders lobenswert ist, dass Georg auch auf die „Materialität“ der Arbeiter und ihre Ernährung, auf Krankheits- und Arbeitsunfällen sowie auf die Löhne eingeht. Hervorzuheben sind auch die sprachlichen Analysen der Tagebüchern, in denen antike Objekte einen Subjektstatus erhalten, während die ägyptischen Arbeiter entindividualisiert und abgewertet werden und hinter Kollektiven verschwinden. Das dritte Kapitel schließt mit den Porträts von drei ägyptischen Vorarbeitern, von denen mehr bekannt ist als nur der Name (Mohammed Ahmed el-Senussi, Abu el-Hassan Mohammed, Hissen Mabruk).
Im vierten Kapitel greift Georg „Die Perspektive der ägyptischen archäologischen Arbeiter“ (S. 305-372) auf und geht der Frage nach, warum es für manche Ägypter attraktiv war und ist, bei archäologischen Unternehmungen als Arbeiter tätig zu werden - ideelle Gründe spielten bei der Entscheidungsfindung damals wie heute kaum eine Rolle. Bei der Motivsuche geht Georg auch auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse der damaligen Zeit ein und verortet die Beschäftigung in der Archäologie als saisonalen Zuverdienst (S. 315).
Für die Arbeiter, die zumeist aus der bäuerlichen und ländlichen Bevölkerung Ägyptens (den Fellachen) stammten, bot die Archäologie die Möglichkeit, zumindest für eine gewisse Zeit ein gesichertes Einkommen zu haben. Und trotz der körperlich schweren Arbeit bei archäologischen Unternehmungen und des kolonialen Stils der deutschen Archäologen ermöglichten diese auch für Ägypter (vor allem den Vorarbeiter) einen sozialen Aufstieg.
Ein ausführliches Fazit (S. 373-420) schließt die Studie ab. Dabei geht Georg noch einmal darauf ein, wie die Deutschen ein „leistungsorientiertes Arbeitersystem“ (d. h. besondere Fundmeldungen der Arbeiter wurden ebenso finanziell abgegolten wie islamische Feiertage und Grabungsenden) schufen (S. 376) und wie sich deutsche Archäologen und ägyptische Arbeiter arrangierten. Ihre Beziehungen zueinander, die Rahmenbedingungen vor Ort und die Vorerfahrungen der Arbeiter entschieden mit darüber, welche Funde gemacht wurden und ob eine archäologische Unternehmung von „Erfolg“ gekrönt war. Archäologie in Ägypten um 1900, so schlussfolgert Georg überzeugend, war eben auch eine „Arbeiterfrage“ (S. 411).
Die meisten der zahlreichen Abbildungen, Tabellen und Grafiken sind sehr hilfreich und gewinnbringend, auch wenn die Abbildungen noch besser analysiert werden könnten. Lediglich die Karte Nr. 1 erscheint mir als etwas „überladen“, da sie nicht nur antike und moderne Orte und Grabungsstätten zeigt, sondern auch weitere größere Orte (basierend für das Jahr 1907), die im Text nicht weiter erwähnt werden (S. 15). Mir fehlt zudem eine stärkere theoretische Bezugnahme – trotz der Einordnung der Studie in die Post-Colonial- und Global Studies – bzw. ein systematischeres Vorgehen nach Analysekategorien. Viele Textbeispiele aus den Tagebüchern werden stark verdichtet in den Fußnoten präsentiert, was teilweise ausufert und gewöhnungsbedürftig ist. Das liegt wohl vor allem daran, dass die untersuchten Tagebücher gemeinsam betrachtet werden und man als Leser das Gefühl bekommt, dass sie alle zusammengehören bzw. diesselben Inhalte wiedergeben.
Insgesamt liegt eine gelungene Studie vor, die sich nicht nur der Rolle der archäologischen Arbeiter annimmt und damit eine neue Forschungsrichtung für die deutschsprachige Archäologie vorgibt, sondern selbstkritisch weitere Anschlussmöglichkeiten aufzeigt. Die interdisziplinäre Studie von Maximilian Georg überzeugt durch eine Fülle an empirischem Material, spannende Einblicke in die Geschichte der Ägyptologie sowie einen gut lesbaren Schreibstil, an dem sich künftige Forschungen orientieren können.