Seit dem Jahreswechsel 2006/07 hat eine auf den Hypothekenmärkten entstandene Finanzkrise die gesamte Weltwirtschaft ergriffen und weitet sich – so der Sozialhistoriker Karl Heinz Roth – zur kapitalistischen Systemkrise aus. Mit dieser ersten, auf zwei Bände angelegten Studie will er den sich wechselseitig verstärkenden globalen Krisen- und Proletarisierungsphänomenen analytisch auf den Grund gehen. Im zweiten, noch nicht vorliegenden Band sollen daraus praktisch-politische Handlungsvorschläge und ein Kompass entwickelt werden, wie ein vielschichtiges „Multiversum der Unterklassen“ selbstbestimmt auf das Krisenmanagement der herrschenden Eliten antworten könnte.
Der erste Band liefert zunächst eine minutiöse Rekonstruktion des Krisenverlaufs seit 2006 und der dagegen gerichteten Stimulierungsprogramme. Als Quelle stützt sich Roth dabei fast ausschließlich auf die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), ohne sich nur ansatzweise auf eine Diskussion verschiedener Krisendeutungen oder wissenschaftlicher Ansätze einzulassen. Stattdessen beschreibt er die wesentlichen Kriseneigenschaften anhand der Marxschen Opposition von Kapitalisten und Proletariern, die bei Roth leicht variiert „Kapitalvermögensbesitzer“ und „Unterklassen“ heißen. Als Hauptursache für die Krisen benennt er die weltweite „Überakkumulation des Kapitals“, die durch die Krise offen gelegt wurde und „mit einer massiven globalen Unterkonsumtion einher“ ging. Diese Dialektik sei im Vorfeld der Krise in den Ländern der „Triade“ (USA, Europa und Japan) zeitweilig durch eine Finanzpolitik des billigen Geldes und billiger Kredite kompensiert worden, was aber ihren Ausbruch nur herausgezögert habe. Mitten in die marxistisch argumentierende Studie schleichen sich jedoch – mutmaßlich wegen der einseitigen Quellenauswahl – auch monetaristische Vorstellungen beispielsweise eines kausalen Zusammenhangs von steigender Staatsverschuldung, des Abwertungswettlaufs der Währungen und der Ausweitung der Geldmenge.
Ein zweites Großkapitel bestimmt die Krise als Endpunkt eines großen 40jährigen Zyklus, der mit den weltweit vernetzten Arbeiter- und Sozialrevolten ab 1966/67 begonnen habe. Während in der Volkswirtschaftslehre inzwischen weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass keine zyklischen Konjunkturmuster bestehen, rekonstruiert Karl Heinz Roth die „verborgene Vorgeschichte der globalen Krise“ mit Hilfe einer „langen Welle“ nach dem Modell des sowjetischen Ökonomen Nikolai Kondratjew. Ob und inwiefern eine solche, sehr umstrittene Großtheorie für ein besseres Verständnis der Krise hilfreich ist, wird vom Autor an keiner Stelle diskutiert und darf bezweifelt werden. Schon die Wahl dieses Zeitabschnitts ist dürftig begründet, er verweist hier auf den 1966/67 einsetzenden Generationswechsel (Chiffre „1968“). Neue Bedürfnisse und Lebensstile hätten die bestehenden Akkumulations- und Herrschaftsstrukturen in Frage gestellt und einen Reformschub ausgelöst. Dieser eigenartig angesetzte Beginn einer „langen Welle“ ist wirtschaftshistorisch nicht nachzuvollziehen und müsste entsprechend dieser Theorie deutlich früher, spätestens in den 1950er-Jahren angesetzt werden. Wenn ein ehemaliger SDS-Bundesvorstand eine konkrete Utopie für eine alternative Krisenentwicklung entwickeln will, in der sich Unterklassen und Intelligenzschichten miteinander verbünden, ergibt dies jedoch durchaus einen Sinn. Nur handelt es sich dabei um eine primär politisch motivierte Rückbesinnung auf „1968" und keineswegs um eine analytisch notwendige Zäsur.
Die Sprache und Argumentation in diesem Kapitel ist durchweg an der Vorstellung eines Klassenkampfes ausgerichtet. Roth spricht beispielsweise von einer „ökonomischen Konterrevolution“ und einem „systemischen Gegenangriff“ (S. 154) und meint damit die geld- und fiskalpolitischen Strategiewechsel und die Umstrukturierungen der Produktion ab den 1970er-Jahren. Das betriebswirtschaftliche Bemühen um Kostensenkungen gerät in dieser Perspektive zu einer „Strategie der technologisch erzwungenen Unterbeschäftigung“, die Globalisierung der Finanz- und Kreditmärkte erfolgt „unter der Regie der Kapitalvermögensbesitzer“. Diese klassenkämpferische Sprache kann leicht dazu verführen, die immer wieder eingestreuten interessanten Beobachtungen und die Syntheseleistung Roths zu übersehen, wenn er etwa die globalen Auswirkungen arbeitsorganisatorischer Verdichtung oder eines „totalen Produktivitätsmanagements“ beschreibt (S. 164-167). Scharf beobachtet er auch, wie später die Bedürfnisse nach sozialer Subjektivität und individueller Selbstgestaltung aufgenommen worden und „in die zweifelhaften Freiheiten prekärer Arbeitsverhältnisse“ verwandelt wurden (S. 243).
Weniger originell und unmittelbar an Argumentationsmuster von Globalisierungsgegnern anschließend ist die These eines informellen Kolonialismus und einer anhaltenden ökonomischen Unterwerfung des Südens. Die Bewertung der diagnostizierten Umweltkrise als einer Systemgefährdung des Kapitalismus ist hingegen weniger plausibel. Roth spricht in diesem Zusammenhang zwar von einer „dem kapitalistischen System eingeschriebene[n] industrielle[n] Pathologie“ (S. 208) und beschreibt die beschleunigte Aneignung und Ausbeutung der natürlichen Grundlagen. Die „Inwertsetzung der Natur durch die kapitalistische Gesellschaftsformation“ habe eine neue Qualität erreicht, indem sich die Quellen ihrer Wertschöpfung „von der Ausbeutung der lebendigen Arbeit und des Bodens auf das Wasser und die Atmosphäre ausgeweitet“ hätten (Emissionsrechtehandel) (S. 243). Doch das widerspricht der bisherigen Argumentation, denn damit diagnostiziert er – marxistisch gesprochen – nur die Fähigkeit des Kapitalismus, sich an neue Verhältnisse anzupassen und sich Neues gewissermaßen einzuverleiben.
Der dritte Teil wirft einen vergleichenden Blick auf die bisherigen drei Krisen des Weltsystems: erstens die Weltwirtschaftskrise von 1857-59, zweitens die Krise 1873-79 mit der Langen Depression bis 1896 und drittens die Weltwirtschaftskrise 1929-33 und die Große Depression bis 1940. Sehr klar werden hier die verschiedenen Ursachen und ihr unterschiedlicher Verlauf herausgearbeitet, wobei Roth in seinem abschließenden Vergleich eine zutreffende Einschätzung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise gelingt.
Insgesamt legt Karl Heinz Roth einen fakten- und thesenreichen Entwurf einer Krisenanalyse aus einer dezidiert marxistischen Perspektive vor, die jedoch angesichts des Zeitdrucks beim Verfassen noch zahlreiche und schwer wiegende Mängel aufweist. Ein Register und ein Literaturverzeichnis werden möglicherweise im Nachfolgeband enthalten sein. Doch für eine brauchbare wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der globalen Krise kann man sich bei ihrer Rekonstruktion nicht fast ausschließlich auf eine einzige Tageszeitung beschränken, ohne alternative Quellen heranzuziehen und andere rezente Deutungen der Krise zu diskutieren. Der Arbeit ist die Theoriekenntnis des Autors an vielen Stellen deutlich anzumerken, doch weshalb er sich ausgerechnet auf die älteren Deutungsmuster des Kondratjew-Zyklus oder von Wallersteins Weltsystem-Theorie bezieht, wird weder begründet, noch diskutiert. Neuere Ansätze der globalen Geschichte insbesondere solche mit wirtschaftshistorischem Schwerpunkt werden mit Ausnahme der Global Labour History völlig ignoriert. Das Buch bewegt sich schlichtweg nicht auf dem Stand der aktuellen Forschungen.