Der deutsche Politikwissenschaftler Hubert Zimmermann geht in seinem Buch ein ehrgeiziges Unterfangen an. In sehr ausführlichen Kapiteln beschreibt er die Entwicklung eines globalen Diskurses sowie national-staatliche Haltungen zu militärischen Missionen. Nach einer kurzen Einleitung und Definition von besagten Missionen – bei denen es sich um eine „multilaterale Aktion [handelt, bei der] die Herrschaftsstrukturen in einem anderen Staat“ militärisch verändert oder erhalten werden (S. 15) – werden Leser:innen schnell in eine umfassende, aber dennoch kompakte Geschichte von militärischen Auslandsinterventionen geleitet. Zimmermann möchte beschreiben, wie militärische Auslandseinsätze in einem hegemonialen internationalen Diskurs etabliert, definiert, kritisiert und legitimiert werden. Dazu bietet er einen globalgeschichtlichen Überblick, um dann drei nationalstaatliche Beispiele zu geben: die Vereinigten Staaten, Deutschland und Frankreich.
Leser:innen erhalten einen geschichtlichen Überblick über kriegerische Missionen aus religiösen und kolonialen Motiven, die schon im 15./16. Jahrhundert mit einer „Schutzverantwortung“ (S. 31) gegenüber Menschen an anderen Enden der Welt legitimiert wurden. Unter Verweis auf Dichter, Philosophen und Völkerrechtler des 17. und 18. Jahrhunderts, verknüpft Zimmermann das Phänomen der militärischen Mission mit dem Entstehen des Staates als politische, territoriale und juristische Einheit sowie mit dem sich im 19. Jahrhundert herausbildenden internationalen Regime, das bis heute eine inkonsistente moralische Autorität darstellt. Die Dichotomie von Schutzverantwortung und staatlicher Souveränität (des intervenierenden Staates sowie die des Staates, in dem interveniert werden soll) zieht sich wie ein roter Faden durch die dargestellten politischen Debatten.
Gespickt mit historischen sowie zeitgenössischen Anekdoten werden die Leser:innen von den von Papst Urban II. 1095 angefachten christlichen Kreuzzügen bis hin zum russischen Angriff auf die Ukraine 2022 geleitet. Der Fokus der Darstellungen liegt auf den Reaktionen von Herrscher:innen und Staatsführenden auf humanitäre und politische Katastrophen. Zimmermann beleuchtet auch Intellektuelle und ihre Analysen, die die Haltung von Zivilgesellschaft und Politik gegenüber Interventionen stark beeinflussten. So werden vor allem einzelne Akteur:innen mit kurzen Biographien vorgestellt und ihr Einfluss auf Diskurse und Politiken beschrieben. Bestimmte Überzeugungen und Prioritäten von Regierungen und Machthabenden können militärische Aktionen bestimmen (wie die Entrüstung Woodrow Wilsons über den militärischen Coup 1912 in Mexiko (S. 207)), während andere sich trotz anti-interventionistischer Überzeugungen zu militärischen Aktionen mit ungewissen Folgen hinreißen lassen (wie die von François Hollande angeordnete Entsendung französischer Soldaten nach Mali 2013 (S. 447)).
Den Kern des Buches bilden die ausführlichen Kapitel über die U.S.- amerikanischen und deutschen Diskussionen und Entscheidungen für oder gegen Auslandseinsätze. Die Einblicke in die Motive der reaktionären U.S.-amerikanischen Missionen zeigen eine Großmacht mit zerrissenen Interessen und Agenden. Zwischen imperialistischen und dekolonialen Argumenten und Motiven schwankend, bleiben die USA mit ihrer Hegemonialmacht und ihren Interessen der sogenannte Weltpolizist. Die deutsche Debatte wird anschaulich durch den Aufstieg der Partei Die Grünen beschrieben. Die Zurückhaltung deutscher Regierungen, sich an multilateralen Einsätzen zu beteiligen, wurde lange Zeit mit der verfassungsrechtlichen Grundlage und der historischen Verantwortung Deutschlands legitimiert. Die deutschen Debatten zeigen aber auch, dass Eigeninteressen und Ansprüche politischer und wirtschaftlicher Kooperationspartnern moralische Werte überlagern können.
Der Marburger bezeichnet sein Buch als Überblickswerk (S. 11), als solches würde ich es auch zur Lektüre empfehlen. Für Kolleg:innen, die sich üblicherweise in ihren Forschungen mit geographisch oder thematisch begrenzten Phänomenen befassen oder gezielt globale politische Entwicklungen untersuchen, kann die Lektüre etwas frustrierend sein. Trotz der Länge seines Werkes kann Zimmermann den vielen Interessen, Kontexten und Diskursen, die mit militärischen Missionen des letzten Jahrhunderts verbunden sind, nicht gerecht werden.
Sein Buch ist auch ein Beleg für die Schwierigkeit einer globalen Darstellung, die einer eurozentristischen, hegemonialen und realpolitischen Reproduktion zu entgehen versucht. Wie jede:r Autor:in ist Zimmermann an Quellen gebunden, die einen bestimmten Diskurs wiedergeben, ebenso wie die beschriebenen Debatten. Das kurze Kapitel über Interventionen von afrikanischen und asiatischen Akteur:innen zeigt die Intention eines Blicks über den Tellerrand des Globalen Nordens. Leider beschränkt sich die Darstellung auf Debatten und Missionen der Afrikanischen Union und der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) sowie auf chinesische und japanische Regierungsdiskurse. Um der Vielfalt der Diskurse in diesen Kontexten gerecht zu werden, die ebenso reich an Interessen, Bedürfnissen und Perspektiven sind wie die drei ausführlich behandelten nationalstaatlichen Kontexte, wären einige hundert Seiten mehr nötig.
In seinem Fazit stellt Zimmermann fest, dass militärische Einsätze zumeist auf selbstbezogenen Legitimationen beruhen – es „gab und gibt keine belastbar stabile (…) Solidargemeinschaft mit einem klar definierten und intersubjektiv geteilten Wertesystem“ (S. 454). Wie im 18. Jahrhundert liegt die Entscheidung über eine militärische Intervention bei den jeweiligen Herrschenden, die intervenieren können und wollen. Die so genannten roten Linien verschieben sich. Politische Entscheidungen werden reaktionär und resultieren oft eher aus vorangegangenen Katastrophen und innerpolitischen Situationen (wie es die dargestellten (Nicht-)Interventionen in Armenien, Kuba, Ruanda, Bosnien-Herzegowina oder Libyen zeigen) als aus der jeweils gegenwärtigen Situation vor Ort. Sein Buch untermauert die Kritik an einem vermeintlichen internationalen System, das alle Menschen schützen und vertreten soll, letztlich aber den Status quo, der nur bestimmte Interessen, Strukturen und Werte repräsentiert, mit Waffen verteidigt und zu einem hohen Preis rechtfertigt.
Gerade im Hinblick auf das aktuelle Kriegsgeschehen in Israel und Palästina, das laut dem OCHA Update vom 19. Juni 2024 bereits mindestens 1.200 Israelis (und ausländischen Staatsangehörigen) und 37.396 Palästinenser:innen das Leben gekostet und Anfang Mai über eine Million Menschen aus Rafah, in Gaza, vertrieben hat 1, ist die Erforschung militärischer Auslandseinsätze von größter Bedeutung. Die Rekonstruktion der Geschichte, auf der das gegenwärtige internationale System mit seinen Werten, Hegemonien und Ressourcen beruht, ist unerlässlich um es zu verstehen, zu dekonstruieren, infrage zu stellen und Schritt für Schritt so zu verändern, dass es seinen Werten und Ansprüchen besser gerecht wird. Es bedarf noch vieler weiterer Forschungsprojekte und Bücher, die Lehren aus den Debatten in den intervenierenden Staaten ziehen. Schließlich muss die Perspektive der Menschen, die militärische Interventionen durchleben, stärker berücksichtigt werden, um globale politische Grundwerte formulieren zu können, und vor allem, um Menschenleben zu retten und in einer friedlicheren Welt zu leben.
Anmerkung:
1 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA): Humanitarian Situation Update #180 | Gaza Strip & West Bank. 19 June 2024. https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-180-gaza-strip-west-bank [besucht am 20.06.2024]