J. Hart: Empires and Colonies

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Titel
Empires and Colonies.


Autor(en)
Hart, Jonathan
Erschienen
Oxford 2008: Polity Press
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Jürgen G. Nagel, Historisches Institut, FernUniversität in Hagen

Der kanadische Literaturwissenschaftler, Historiker und Dichter Jonathan Hart, der heute an der University of Alberta lehrt, ist eigentlich ein durch zahlreiche Fachpublikationen ausgewiesener Shakespearespezialist. Mittlerweile hat er sein Arbeitsgebiet jedoch nach und nach ausgeweitet. Nach Auskunft seiner Website beziehen sich seine Forschungen oder Interessen auf ein weites Feld, das von Renaissance und früher Neuzeit, von vergleichender Literatur- und Geschichtswissenschaft, Theorie und Historiographie sowie kolonialen und postkolonialen Studien abgesteckt wird. Damit deckt Jonathan Hart auch die Geschichte der europäischen Expansion quasi im Vorübergehen ab. Geradezu folgerichtig legte er 2008 mit seinem jüngsten Buch auch sein allgemeinstes vor, in dem er nicht weniger als die gesamte Geschichte von Expansion und Imperialismus, von Kolonialismus und Dekolonisation abhandeln will.

Als „eine majestätische Synthese“ bezeichnet es Jeremy I. Adelman von der Princeton University, wie einem Zitat auf dem Einband zu entnehmen ist. Man könnte aber auch sagen: ein schmalbrüstiges Buch. Immerhin werden sechs Jahrhunderte auf nicht einmal 300 Textseiten abgehandelt. Letztendlich kommt es natürlich darauf an, was der Leser sucht. Wer einen schnellen, konzisen Einstieg sucht, ist hier sicherlich nicht schlecht beraten. Wer tiefschürfende Analysen bevorzugt, kann sich getrost anderen Publikationen zuwenden. Immerhin: Bei genauerem Hinsehen hat Empires & Colonies doch etwas mehr zu bieten als eine schlichte Aufbereitung von Fakten.

Zunächst einmal handelt es sich um ein eurozentrisches Buch, das eigentlich recht konventionell aufgebaut ist. Es folgt einer chronologisch-geographischen Gliederung, indem die einzelnen europäischen Expansionsmächte abgearbeitet werden. Den Ausgangspunkt bilden die »klassischen« Expansionsmächte Portugal und Spanien, die das erste Drittel des Buches dominieren. Dies gilt auch für die ersten Abschnitte von Kapitel 1, die Vorläufer und Ursprünge ansprechen, aber nur bis 1415 zurückgehen. Mittelalterlichen Wurzeln bleiben außen vor. Die später hinzukommenden westeuropäischen Mächte England, Niederlande und Frankreich werden zunächst als Herausforderer der iberischen Expansion eingeführt, bevor sie auch in Harts Darstellung die Vorreiterrolle übernehmen. Dann bleiben sie aber auch nicht allein. Der expansiven Entwicklung Russlands werden eigenständige Unterkapitel gewidmet, Deutschlands Bestrebungen vorzugsweise in weiteren Zusammenhängen abgehandelt. Und mit Japan findet auch ein außereuropäischer Beteiligter am imperialen Konzert eine – im Rahmen der Möglichkeiten – angemessene Berücksichtigung. Vor allem aber werden die USA zunehmend in den Fokus der Betrachtungen gerückt.

Harts Verständnis expansiven Strebens erklärt sich primär vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Zentrum. Der Kirche in Spanien wird ebenso eine zentrale Rolle zugestanden wie der Revolution in Frankreich. Die spätere Dominanz des britischen Empires erklärt sich vorrangig aus dem Vorsprung des Inselreichs in Technologie und Industrialisierung. Für die USA ist der legendäre amerikanische Pioniergeist, der zunächst die Erschließung des eigenen Hinterlandes ermöglichte, von besonders erwähnenswerter Bedeutung. Eine Bedeutung, die schon allein in den aufgewandten Seitenzahlen ihren Ausdruck findet. Der Entwicklungsrahmen der außereuropäischen Regionen findet dagegen allenfalls am Rande Beachtung; Afrika, Asien mit Ausnahme Japans und das südliche Amerika bleiben als historische Subjekte weitgehend peripher. Nach Harts eigener Aussage hat das Thema des Buches, das Empire Building in der Neuzeit, seinen Kern in Europa – in Gestalt der Expansion der Seaborne Empires, zu denen er dezidiert auch die USA zählt.

Nicht nur deshalb ist es auch ein amerikanisches Buch. Das welthistorische Phänomen Empire wird vom Ende her gedacht, von der Konfrontation zwischen USA und Sowjetunion während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese beiden dienen geradezu als Paradebeispiele für moderne Weltreiche. Gleichzeitig liefern sie die Motivation für das gesamte Werk. Dies wird in der Einleitung deutlich, mehr aber noch im Schlusskapitel, das sich große Mühe gibt darauf hinzuweisen, wie viel kleinere europäische Nationen schon vor der Dominanz der USA zum internationalen Empire Building beigetragen haben. Die Weltgeschichte zuvor erscheint so beinahe wie Vorgeschichte, die es einem staunenden Publikum zu erläutern gilt.

Allerdings werden die bis hierhin angedeuteten Eindrücke, die auf eine teleologische Expansionsgeschichte großer Mächte hinauszulaufen scheint, vom Autor selbst in erfreulicher Weise konterkariert. Die Vorstellung einer stringenten welthistorischen Entwicklung lehnt er ausdrücklich ab. Darüber hinaus thematisiert er einige gänzlich anders gelagerte Aspekte, die sich durch seine gesamte Darstellung ziehen und immer wieder neu aufgenommen werden: Sklaverei, Ökologie, Frauen und Geschlechterrollen, die Stimmen der Indigenen sowie alternative Sichtweisen auf die europäische Expansion, sei es von Kritikern im Zentrum oder aus der kolonialen Peripherie. In kleinen ergänzenden Kapiteln sind sie in den Fluss der traditionellen Darstellung großer, wohlbekannter Linien, die man in so vielen anderen Publikationen lesen kann, eingewoben. Auf diese Weise schaffen sie es nicht bis in den Rang eines »roten Fadens«, bilden aber einen gelungenen Kontrapunkt, der das Buch vor den Ziffern 0, 8 und 15 bewahrt. Hart gelingt es durch solche Kapitel, denjenigen eine Stimme zu verleihen, die in Überblicksdarstellungen zur europäischen Expansion, zu Kolonialismus und Imperialismus nach wie vor nur selten auftreten – in seinen Worten: „to make human the impersonal statistics and movements in history“ (S. 287).

Bei den ‚ungehörten’ Stimmen der Indigenen und der Kritischen trifft der Leser auf manche alte Bekannte. So werden Martin Luther King und Mahatma Gandhi in einen Kontext gesetzt, und so findet auch der zumindest in den USA prominente Sioux-Anführer Red Cloud Berücksichtigung. Aber auch weniger bekannte Akteure betreten die Bühne wie der Patuxet-Indianer Squanto, der als Vermittler zwischen seiner Kultur und den Pilgervätern auftrat, oder der ehemalige Sklave Olaudah Equiano, der bereits 1789 eine Autobiographie aus afrikanischer Sicht publizierte. Die Auswahl solcher individueller Stimmen ermöglicht einige interessante Entdeckungen; es ist jedoch nicht zu verkennen, dass der Autor vorzugsweise im amerikanischen Kontext bleibt. Etwas anders sieht dies bei strukturellen Themen aus. Wiederholt wird Neuseeland als Beispiel für den Zusammenhang von Ökologie und europäischer Expansion angeführt, indem der Wandel von Flora und Fauna vergleichsweise ausführlich dargelegt wird. Indem er die besondere Bedeutung von Kultur und von Individuen für seine Perspektive betont, versteht Hart sein Buch als Versuch, die Beziehungen von Gruppen und Individuen, vom Generellen zum Einzelnen aufzuzeigen. Dieser Versuch gerät letztendlich zu schlaglichtartig, um wirklich einen integralen Ansatz darstellen zu können. Aber zweifelsohne gibt Hart damit seinem Buch ein eigenes Gesicht.

Empire & Colonies versucht keine reine Kolonialgeschichte, sondern versteht sich bewusst als ein Beitrag zum Empire Building. Dabei bewegt sich das Werk gewissermaßen auf zwei Ebenen. Zunächst einmal steht die stringente Ebene der konkreten politisch-ökonomischen Prozesse im Vordergrund, die mehrheitlich konventionellen, aber deswegen noch unbedingt falschen Mustern folgt. Quer dazu liegt die Ebene der langfristigen Strukturen, der sekundären Auswirkungen, der Marginalisierten und Oppositionellen. Auch wenn nicht zu verkennen ist, dass letztere ihre Existenz auch dem Wunsch nach einem Alleinstellungsmerkmal auf dem Buchmarkt verdankt, macht sie den Band dennoch lesenswert. Bleibt die Frage, wem dieses Buch empfohlen werden kann. Sicherlich ist es eine von vielen Alternativen unter den gängigen Überblicksdarstellungen zur neueren Weltgeschichte – eine Alternative, die einen durchaus interessanten, erfreulichen, den modernen Diskursen entgegenkommenden Blickwinkel aufweist. Dabei liefert der Band nichts grundlegend Neues, kann aber einen guten Einstieg für alle Interessierte, die sich noch nicht als Experten verstehen, anbieten.

Redaktion
Veröffentlicht am
20.07.2012
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/