Die Expansion Russlands in den Nordpazifik und bis auf den amerikanischen Kontinent ist schon lange ein faszinierendes Thema für Historiker. Seit einigen Jahren erfährt die Forschung dazu einen beachtlichen Aufschwung, motiviert und beflügelt durch neue Ansätze wie environmental history, Globalgeschichte, ethnohistory und natürlich die mitreißende Welle der auf Russland bezogenen Neuen Imperialgeschichte.
Erich Donnerts Buch spiegelt von diesen neuen Entwicklungen leider kaum etwas wider. Er schreibt eine sehr detailreiche Ereignisgeschichte der russländischen Expansion mit einem Schwerpunkt auf den wissenschaftlichen Aspekten der Expeditionen. Vorbereitung und Verlauf der beiden „Nordischen Expeditionen“ werden ausführlich beschrieben. Das Gleiche gilt für die Reisen unter Katharina der Großen sowie die verschiedenen Weltumseglungen des frühen 19. Jahrhunderts. In einem weiteren Kapitel stellt Donnert die Entwicklung und Struktur der Russisch-Amerikanischen Kompanie dar. Dies entspricht nicht seiner erklärten Zielsetzung, sich auf die wissenschaftlich motivierten Entdeckungsreisen zu konzentrieren, dafür aber den historischen Realitäten. Denn tatsächlich ist eine isolierte Betrachtung von Wissenschaft einerseits und Wirtschaft andererseits hier unmöglich, waren doch beide gesellschaftlichen Dimensionen finanziell und konzeptionell unmittelbar aufeinander angewiesen und eng miteinander verknüpft.
Wer einen relativ kurz gefassten Überblick über die Ereignisse sucht, wird hier also fündig werden. Angesichts der zurzeit so dynamischen Forschung zum Thema aber enttäuscht der Band. Es wird keine These entwickelt, und es werden keine Fragen diskutiert. Kontroversen zu Problemen wie beispielweise den Gründen für den Verkauf Alaskas oder das Funktionieren der Ausbeutung der einheimischen Pelztierjäger werden nicht einmal angedeutet, und entsprechend fehlt im Literaturverzeichnis der Großteil der aktuellen Literatur. Zitiert werden, neben der Quellenliteratur, vor allem ältere Titel und Donnerts eigene Arbeiten.
Im Vorwort distanziert sich der Autor auch tatsächlich von der russischen und nordamerikanischen Forschung, welche sich ihm zufolge vor allem auf ökonomische Prozesse konzentriert – eine etwas zu eng gefasste Beschreibung. Er selbst „behandelt das vorstehende Thema ausgehend von der wissenschaftlich-menschlichen Grundhaltung der Aufklärung, die den Weg zu einem neuen Verständnis der Kulturen und Lebensgemeinschaften der Völker der Welt eröffnete.“ (S.8) Damit positioniert er sich explizit in der deutschen, etwas provinziell anmutenden Tradition beispielsweise der Franckeschen Stiftungen, die vor allem den Anteil deutscher Wissenschaftler an den Expeditionen nach Sibirien und Nordamerika dokumentieren will. Was dabei herauskommt, ist eine sehr traditionelle, fortschrittsgläubige Meistererzählung: es geht um große Männer, – und ab und an vereinzelte „mutige Frauen“ – die durch die Brillanz ihres Verstandes die Menschheit voranbringen.
Wenn hier Aufklärung das Thema ist, so wird sie gefeiert, aber leider nicht analysiert. Ganz in der Tradition der Aufklärung selbst wird die Anhäufung von Wissen an und für sich als Erfolg begriffen – interessanterweise gilt das sowohl für den dargestellten Gegenstand als auch für die Darstellung selbst. Die hier sehr detailliert beschriebenen Forscher leisten „der Erforschung des Menschen und seiner Kultur wertvolle Dienste“ (S. 12), ihre Expeditionen „haben als echte [sic] Entdeckungsreisen die Kenntnis von Nordostasien und Alaska maßgeblich verbessert und auf neue Grundlagen gestellt.“ (S. 28) Was bedeutet das? Warum wurde ein bestimmter Wissensbereich plötzlich für so wichtig gehalten, dass viele Menschen ihr Vermögen und sogar ihr Leben dafür aufs Spiel setzten? Wie veränderte sich die Weltsicht durch das neu gesammelte Wissen? Was bedeutet und bedeutete „wissenschaftlich“ hier, und wie kann man diese Kategorie historisieren? Donnert beantwortet diese Fragen nicht, er stellt sie nicht einmal. Als Ansatz in diese Richtung mag zunächst das bereits zitierte anfängliche Versprechen erscheinen, es gehe hier um die „wissenschaftlich-menschliche Grundhaltung der Aufklärung, die den Weg zu einem neuen Verständnis der Kulturen und Lebensgemeinschaften der Völker der Welt eröffnete“. Doch leider wird die Frage danach, wie die Vertreter Russlands die Menschen sahen, auf die sie trafen, nicht systematisch gestellt. Das Thema kolonialer Gewalt und Unterdrückung ist in der Forschung zugegebenermaßen umstritten 1, aber umso weniger kann es, wie hier, nur stellenweise, kritiklos und entsprechend widersprüchlich behandelt werden. Die Bevölkerung der Aleuten erhielt nicht einfach „von den Russen Kleidung und Nahrung, Tabak, Leinwand, manchmal auch Hemden und dergleichen“. Und die Feststellung, dass es ihnen materiell „unter der russischen Herrschaft besser [ging] als früher, erhielten sie doch jetzt von der neuen Obrigkeit der Niederlassung einen regelmäßigen Lebensunterhalt zugewiesen“ (beide Zitate S. 41), erscheint angesichts der von Grinev, Luehrmann und Vinkovetsky 2 ausführlich analysierten kolonialen Ausbeutungsmethoden der Kompanie fast wie blanker Hohn. Auch die Aussage „Trotz der Bemühungen Baranovs um die Aufrechterhaltung freundlicher Beziehungen zu dem dortigen mächtigen und klugen Oberhäuptling, dem Haupttojon, wie er genannt wurde, blieben Auflehnungen und bewaffnete Überfälle der Eingeborenen nicht aus, in deren Verlauf jedes Mal mehrere Russen getötet wurden [...]“ (S. 46) kann nur als oberflächlich gewertet werden: „freundlich“ und „Freundschaft“ sind natürlich zentrale Begriffe in den russischen Quellen, doch müssen sie ebenso vor dem Hintergrund des russländischen imperialen Selbstverständnisses gesehen werden wie im Kontext kolonialistischer Pläne. Aber immerhin ließ man „den in den Ansiedlungen als Geiseln gehaltenen Mädchen [...] eine gute Behandlung zuteil werden.“ (S.41) Auch sonst wird die Rhetorik der Quellen pauschalisierend und unhinterfragt übernommen, was stellenweise fast stilblütenhafte Ergebnisse zeitigt: „Bei den von der Regierung [...] verpflichteten Russen handelte es sich in der Mehrzahl um ehemalige Bauern, Handwerker und Stadtbürger, denen von Haus aus eine erkennbare Undiszipliniertheit anhaftete. Freilich gab es unter ihnen auch recht brauchbare Leute, die ihren Verpflichtungen nachkamen und auf die sich Šelichov, Delarov, Baranov, Rezanov, Kuskov und andere leitende Mitglieder der RAK stützen konnten.“ (S. 55)
So bleibt das Loblied auf die wissenschaftlichen Fortschritte seltsam formelhaft und leer, wenn Schlagworte wie „philantrophischer Geist“ und „Fortschritt“ die Aufklärung als selbst erklärtes, aber schwammiges Ideal erscheinen lassen. Hier wäre ein Blick in die im Literaturverzeichnis so ausführlich gelisteten Reiseberichte selbst nützlich gewesen, der die Beschreibungen auf ihre ethnographischen und geographischen Aussagen hin analysiert und nicht nur Ereignisse und Daten herausgefiltert hätte.
Ohne dies aber bleibt es weitgehend leider nur bei einer reinen Aufzählung von Fakten mit einigen ärgerlichen Vereinfachungen. Eine „moderne, umfassend angelegte, fundierte Gesamtdarstellung“ (S. 9), wie im Vorwort gefordert wird, liegt hier nicht vor.
Anmerkungen:
1 siehe z.B. Lydia Black, The Conquest of Kodiak, in: Anthropological Papers of the University of Alaska 24 (1992), S. 165-182, oder Sonja Luehrmann, Alutiiq Villages under Russian and U.S.Rule, Fairbanks 2008 sowie, Andrej V. Grinev, The Tlingit Indians in Russian America, 1741-1867, Lincoln 2005.
2 z.B. Andrej Grinev, M. P. Irošnikov, Rossija i politarism, in: Voprosy istorii 7 (1998), S. 36-46; Sonja Luehrmann, Russian Colonialism and the Asiatic Mode of Production. (Post-)Soviet Ethnography Goes to Alaska, in: Slavic Review 64 (2005) 4, S. 851-871; Ilya Vinkovetskii, The Russian-American Company as a Colonial Contractor for the Russian Empire, in: Alexei Miller (Hrsg.), Imperial Rule, Budapest 2005, S. 161-176.