G. Glasze u.a. (Hrsg.): Handbuch Diskurs und Raum

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Titel
Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung


Herausgeber
Glasze, Georg; Mattissek, Annika
Anzahl Seiten
338 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Jens Maeße, Universität Mainz

Der Band von Georg Glasze und Annika Mattissek verfolgt das Ziel, ausgehend von Grundfragen der Humangeographie sowie aktuellen Tendenzen aus Poststrukturalismus und Diskursanalyse zentrale diskurstheoretische Analyseperspektiven und konkrete Methoden vorzustellen. Dafür wird der an Foucault angelehnte Diskursbegriff sowohl aus diskurstheoretischer (Teil A), raumtheoretischer (Teil B) sowie methodischer Perspektive (Teil C) entwickelt und diskutiert. Der Band richtet sich vor allem an Humangeographen, bietet aber darüber hinaus auch anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen im ohnehin interdisziplinär orientierten Feld der Diskursanalyse ein vielseitiges und reichhaltiges Angebot für die diskursanalytische und diskurstheoretische Diskussion.

Der erste Teil des Bandes befasst sich mit unterschiedlichen Konzepten und Grundbegriffen aus der (humangeographischen) Diskursforschung. Ohne allerdings auf Kontroversen und Gegensätze einzugehen, werden hier unterschiedliche Analyseperspektiven wie Gouvernementalitätsanalyse, Performativität, Kritische Diskursanalyse, Hegemonietheorie und Bildanalyse vorgestellt. Die Beiträge sind übersichtlich gegliedert und entlang eines einheitlichen Musters aufgebaut. So werden anfangs die jeweilige Theorieperspektive und die Grundbegriffe vorgestellt, um anschließend die theoretische Relevanz für die Disziplin – im vorliegenden Fall für die Humangeographie – herauszuarbeiten. Abschließend wird der Stand der Forschung zusammengefasst und an unterschiedlichen Beispielen das Analysepotential illustriert.

So zeigen beispielsweise Henning Füller und Nadine Marquardt, wie sich aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive verschiedene humangeographische Analyseoptionen eröffnen. Weil der Begriff der „Regierung“ die drei Achsen von Foucaults Machttheorie – die Macht/die Disziplin, das Wissen/der Diskurs und die Selbstführung/die Ethik – einklammere, eigne er sich besonders gut, um die Vielfältigkeit der Machtbeziehungen und –formen in ihrer Ausübungslogik zu erfassen. So wird kurz dargestellt, dass ganz unterschiedliche Phänomene wie „Sport und Bewegung“, „Körperkult“ oder „Institutionen“ unter der Gouvernementalitätsperspektive hinsichtlich ihrer Macht- und Subjektivierungswirkungen betrachtet werden können. Dies eröffne zahlreiche neue Möglichkeiten für die Humangeographie, weil nun solche Phänomene wie der „freie Wille“ oder Architektur und räumliche Anordnungen, die in traditionellen Analysekategorien nicht als Effekte von Staat und Macht behandelt worden wären, nun als Regierungstechniken machtanalytisch aufgeschlossen werden können. Abschließend geht der Beitrag auf methodische Fragen und Anwendungen ein.

Neben gut nachvollziehbaren und teils sehr anschaulichen Darstellungen der Theorieperspektive zeigen die Beiträge, wie die unterschiedlichen, oft allgemein angelegten Theorie- bzw. Analyseperspektiven mit ganz konkreten disziplinären Fragen verbunden werden können und illustrieren dies an Beispielen aus der aktuellen Forschung. Indem exemplarisch die Verbindung von interdisziplinärer Theorie und disziplinärem Kontext aufgezeigt und vorgeführt wird, wenden sich die Beiträge des ersten Teils auch an Disziplinen jenseits der Humangeographie. Zu fragen wäre allerdings, ob es nicht einen Weg gegeben hätte, die zahlreichen Verdopplungen und Wiederholungen in den einzelnen Beiträgen zu verhindern. Damit muss der Leser leben.

Die Beiträge des zweiten Abschnitts gehen der Frage nach, welche Impulse von Foucault, Laclau & Co. für die geographische Raumtheorie zu erwarten sind. Wie Verena Schreiber zeigt, bieten sowohl Foucaults Diskurstheorie als auch seine Arbeiten zu Macht und Subjektivierung umfangreiche Anschlussstellen und Inspirationsquellen für Raumkonzeptionen, und dies, obwohl sich Foucault nie ausdrücklich mit Fragen zu Raum und Gesellschaft befasst hat. Dagegen nimmt der Raumbegriff in Laclaus Hegemonietheorie als Gegenpart zu „Zeit“ eine zentrale Rolle ein, so Georg Glasze. Weil Räume nach Laclau immer von „Dislokationen“ durchzogen sind und der „reine, vollständige“ Raum eine Unmöglichkeit ist, können Räume als politische Gebilde konzeptualisiert werden. Abschließend stellt Sybille Bauriedel Raumkonzeptionen vor, die für die Diskursanalyse von Interesse sein könnten, um schließlich auf antiessentialistischen Potentiale eines Kritischen Raumbegriffs hinzuweisen.

Im letzten Abschnitt des Bandes werden fünf zentrale Analyseansätze aus dem reichhaltigen Methodenangebot in der Diskursforschung vorgestellt, wobei der Bezug zur Geographie als Disziplin hier scheinbar ein zentraler Selektionsmechanismus gewesen sein muss. Informativ und überzeugend zeigen die Autoren, wie der Diskurs mit quantifizierenden und qualitativen, formalisierenden und codierenden Verfahren analysiert werden kann. Vor allem dieser dritte Teil ist macht die Stärke des Bandes aus.

Zunächst stellen Dzudzek et al. Verfahren aus der Lexikometrie vor. Lexikometrische Verfahren zielen auf die systematische computergestützte Analyse großer Textkorpora. Anders als quantitative Inhaltsanalysen, die die Bedeutung von Wörtern analysieren, zielen lexikometrische Verfahren auf die unterschiedlichen sprachlichen Formen. Indem beispielsweise gezeigt werden kann, an welcher Stelle im Textkorpus welches Wort mit einem spezifischen anderen Wort immer wieder gemeinsam auftaucht (Kookkurrenz), können Regelmäßigkeiten und Besonderheiten aufgezeigt werden, die den Diskurs organisieren und kennzeichnen. Weil die Lexikometrie eine Methode ist, die vor der eigentlichen Interpretationsarbeit zum Zuge kommt, ist sie sehr vielfältig einsetzbar, um große Textmengen entweder zu ordnen, dort nach vordefinierten sprachlichen Besonderheiten zu suchen oder um sich im Forschungsprozess vom empirischen Material einfach nur inspirieren zu lassen.

Die anschließend von Tilo Felgenhauer vorgestellte Argumentationsanalyse zielt dagegen auf die Mikrostrukturen des Diskurses. Mit der Analyse von Argumentationsmustern und –regeln sollen „raumrelevante Vorannahmen und das implizite Wissen“ (S. 262), das unterstellt werden muss, um einem Argument in eine bestimmte Richtung folgen zu können, herausgearbeitet werden. Gegenüber dem dekonstruktivistischen Gestus des Poststrukturalismus zielt die Argumentationsanalyse vielmehr auf die Rekonstruktion raumbezogener kultureller und sozialer Phänomene, die ausgehend von Argumenten über die Schlussregeln und das Hintergrundwissen vom Forscher ausgedeutet und rekonstruiert werden. Auf der anderen Seite unterstreicht die Argumentationsanalyse die Regeln und Mechanismen der Hervorbringung von Räumen. Damit scheint sie sich zwischen rekonstruktiven Sinnanalysen und dekonstruktiven Formanalysen zu positionieren.

Demgegenüber zielt die Aussagenanalyse, die von Annika Mattissek vorgestellt wird, nicht auf die Wissensinhalte des Diskurses, sondern auf die sprachlichen Formen, über die der Diskurs ja nach Kontext sehr unterschiedliches Wissen evoziert. Indem die aus der französischen Tradition der Diskursanalyse stammende Aussagenanalyse die Regeln der Kontextualisierung herausarbeitet, soll auf die Heterogenität, Mehrdeutigkeit und Unvollständigkeit des Diskurses im konkreten Sprachgebrauch hingewiesen werden. In der Sicht der Aussagenanalyse führt der Diskurs ein polyphones Schauspiel auf, das es herauszuarbeiten gilt. Von zentraler Bedeutung ist demnach der Leser, der ausgehend von den sprachlichen Formen des Textes, die sein Kontextwissen aufrufen, Sinn generiert.

Der Beitrag von Georg Glasze, Shadia Husseini und Jörg Mose zeigt auf, inwiefern das Codierverfahren aus der Grounded Theory für die Diskursforschung fruchtbar gemacht werden kann. Anders als in der Sinn rekonstruierend verfahrenden Grounded Theory diene das Codierverfahren in der Diskursforschung dazu, in Texten „Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten, und von diesen Regelmäßigkeiten auf die Regeln der diskursiven Bedeutungskonstitution zu schließen“ (S. 294). Demnach ist im Forschungsprozess streng zu unterscheiden zwischen dem Codieren und der Analyse der Regelmäßigkeiten. In diesem Sinne bereichert das Codieren die Analyse von Diskursen, weil es auf der interpretativen Ebene das leistet, was die Lexikometrie auf der Formebene des Diskurses ermöglicht: das Ordnen und Sortieren des Materials. An die Stelle der Maschine tritt nun wieder der Forscher.

Abschließend zeigen Jörg Mose und Anke Strüver, wie man geographische Karten als Texte betrachten kann, um diese nicht nur für die Geographie wichtige Materialsorte für unterschiedliche (Sprachanalyse)Methoden zu öffnen. Damit leistet das Kapitel – wie auch das zur Bildanalyse – einen Beitrag zur Frage, wie sich der empirische Gegenstand zur Methode verhält (und nicht umgekehrt!).

Die Beiträge des Methodenteils sind überschaubar aufgebaut, stellen die jeweilige Methode nachvollziehbar dar, illustrieren diese an einem Beispiel und erläutern die Grundbegriffe in einem Glossar am Ende des Beitrags. Insbesondere die Methodenkapitel machen Lust auf empirische Forschung. Dem Band insgesamt ist es gelungen, die zentralen Perspektiven und Methoden aus der gegenwärtigen Debatte zu Diskursanalyse und Diskurstheorie zu Wort kommen zu lassen. Dass die eine oder andere Tradition insbesondere aus dem wissenssoziologischen Umfeld unterrepräsentiert blieb, mag den fachlichen Eigenheiten der Geographie als Disziplin geschuldet sein. Der Band ist allerdings nicht nur für die Geographie, sondern auch für andere sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen eine hilfreiche Werkzeugkiste, insofern sie die Diskursanalyse- und -theorie für ihre empirischen und theoretischen Fragen fruchtbar machen wollen. Die Leistung des Bandes besteht zum einen in einer sehr differenzierten und didaktisch gut aufgearbeiteten Methodendarstellung. Darüber hinaus wird das Feld der Diskursforschung aus Sicht der Humangeographie für den Leser auf eine Weise entfaltet, die ihn dazu ermuntert, die unterschiedlichen analytischen und methodischen Positionen mit anderen disziplinären Feldern abzugleichen. Damit leistet der Band einen Beitrag zur Theoriediskussion. Vor diesem Hintergrund ist der Band sicherlich mehr als ein klassisches Handbuch, das als konsensual geltendes Wissen lediglich aufbereitet und zusammenfasst. Der Band richtet sich sowohl an Studierende im höheren Semester als auch an ForscherInnen im Bereich der qualitativen Methoden, der Diskursanalyse und Diskurstheorie.

Redaktion
Veröffentlicht am
19.11.2010
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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