Die Entdeckung der Welt verbindet sich mit der europäischen Expansion und dem Aufstieg der europäischen Wissenschaft, sie beruht im Wesentlichen auf dem asymmetrischen Kulturkontakt mit außereuropäischen Kulturen. Kaum Beachtung fand in der Geschichtswissenschaft eine zweite Ebene von Asymmetrie, nämlich die Rolle von Frauen in der Globalgeschichte. Gegen diese Asymmetrie anzugehen, ist Ziel und auch Verdienst des hier zu besprechenden Buches von Lorie Karnath. Lorie Karnath, Präsidentin des renommierten Explorers Club in New York, spürt in gekonnter Weise den marginalisierten, oft von der „Männerwelt” tot geschwiegenen Leistungen weiblicher Pioniere – Entdeckerinnen wie auch Wissenschaftlerinnen – nach. Sie holt diese Frauen aus dem Schatten der (männlich dominierten) Historie hervor und wendet sich dabei nicht nur an ein akademisches Publikum. Der Band ist sehr lebhaft und zugleich wissenschaftlich dezidiert geschrieben, so dass jede Leserin und jeder Leser (!) darin Freude findet. Zugleich bietet der Band auch zahlreiche Impulse für weitere wissenschaftliche Untersuchungen.
Der Aspekt „gender und global history” bietet einen weiten Forschungshorizont und erweist sich als höchst innovativ, denn hier können die konstruierten Asymmetrien methodisch und theoretisch erfasst und „zerlegt” werden. Es klingt einfach und banal (?), dass Globalgeschichte sich mit dem „Eigenen” und dem „Fremden” beschäftigt, dabei geht es nicht nur um die Kategorie „Ethnie”, sondern auch um „gender”. 1 Hier stellt sich die Frage, wie entdeckten und erforschten Frauen die Welt? Welche Konzepte, Normen und Bilder entwarfen sie? Waren diese dezidiert „weiblich” oder spiegelten sie Konventionen der europäischen Gesellschaft wider, auch wenn diese verwegenen Frauen, wie Lorie Karnath sie nennt, gesellschaftliche Konventionen brachen? Gab es etwa einen Geschlechtertransfer bei der Entdeckung und Erforschung fremder Welten? Gerade hier bieten sich Ansätze für eine „histoire croisée”.
Lorie Karnaths Buch ist ein Zeugnis weiblicher Emanzipation, dabei schlägt sie den Bogen von den legendären Wikingerinnen und Seefahrerinnen Alfhild und Gudridur Thorbjarnardottir, die ihren Fuß nach Nordamerika setzten und sich schon damals über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzten, bis hin zu den US-amerikanischen Astronautinnen wie Sally Ride im 20. Jahrhundert. Auch die zeitliche Perspektive erweist sich als innovativ: Mit welchen epochenspezifischen Schwierigkeiten und Widerständen mussten Frauen bei ihrem Entdeckungsdrang rechnen? Inwiefern änderten sich geschlechtsspezifische Konventionen im Laufe der Zeit?
Weiblicher Entdeckungsdrang, der zu keiner Zeit dem männlichen nachstand, bezog sich auf jeden Lebensbereich – von der geografischen Entdeckung und ethnografischen Expedition in das Innere Asiens, Afrikas oder der Pole bis zur Erforschung der Fauna und Flora, der Lebensräume Gebirge und Meer bis hin zum Weltraum. Weibliche Neugier und Abenteuerlust war quasi grenzenlos. Grenzen wurden insofern aufgehoben, als 1) wissenschaftliches Neuland erschlossen, 2) gesellschaftliche Konventionen überschritten wurden.
Die von Lorie Karnath vorgelegte Wissenschaftsgeschichte orientiert sich vorwiegend an Pionierinnen aus dem angelsächsischen Raum (USA, Großbritannien), was sicherlich mit der Vorreiter- und Vorbildfunktion zusammenhängt. Ein weiterer Anknüpfungspunkt bietet der „Explorers Club”, der 1904 von Henry Collins Walsh in New York gegründet wurde und zunächst eine „reine Männergesellschaft” war (S. 11). Lorie Karnath beleuchtet gerade auch die Geschichte des „Explorers Club” und wie Frauen den Weg in diesen elitären Kreis fanden. Erst 1981 wurden die ersten Frauen aufgenommen. Der „Explorers Club” stellt bis heute einen angelsächsischen Mythos dar und auch dieses Buch pflegt ihn.
Ziel des 1904 gegründeten „Explorers Club” war die „Förderung der allgemeinen Exploration und Verbreitung der dabei gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse, (...) die Ermutigung der Forscher (sic!) in ihrer Arbeit durch gemeinsame Interessen, wechselseitige Unterstützung und vor allem durch die Entwicklung guter kollegialer Beziehungen”. Es handelte sich um ein „old boys’ network”, Frauen waren ausgeschlossen. So hieß es ausdrücklich im Statut des „Explorers Club”:
„Personen, die als aktive Mitglieder infrage kommen, sind Männer, die auf dem Gebiet der Forschung und Entdeckung tätig waren oder zu den geologischen Kenntnissen über die Erde beigetragen haben; Reisende, die sich durch ihre einzigartige Leistung ausgezeichnet und das weltweite Wissen über die von ihnen besuchten Länder gemehrt haben, beispielsweise durch die Veröffentlichung bedeutungsvoller Bücher und Artikel.” (S. 15)
Bis weit ins 20. Jahrhundert blieb Frauen die gleichberechtigte Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Entdeckungen verwehrt, dennoch scheuten sie nicht den Weg in die Wissenschaft. Die Geschichte weiblichen Entdeckerdranges und Pioniergeistes – das schildert Lorie Karnath in überzeugender Weise – ist so lang wie die Entdeckungsgeschichte an sich. Verschiedene Gründe nennt die Autorin für den weiblichen Aufbruch in ferne, unbekannte Weltregionen wie auch in Erforschung von Naturräumen, die in die Etablierung der Naturwissenschaften führen sollte: wie die Suche nach Freiräumen, die der Alltag nicht bot, nach Autonomie, um den gesellschaftlichen Konventionen wie Ehe und familiären Verpflichtungen zu entfliehen. Der Frauen zugewiesene häusliche Lebensstil wurde als beengend empfunden. Das Aufbegehren wurde von der Gesellschaft als nicht damenhaft verurteilt, vor allem wenn diese Frauen alleine auf Reisen gingen. Auch wenn es sich um wagemutige Pionierinnen handelte, die sich in belebender und souveräner Weise über gesellschaftliche Zwänge hinwegsetzten, so stammten sie doch aus der gebildeten und vermögenden Oberschicht. Anders wären die Forschungsreisen auch nicht zu finanzieren gewesen. Mit der familiären Sozialisation machten diese Frauen unterschiedliche Erfahrungen: Einige mussten sich gegen den Widerstand der Eltern (insbesondere der Mütter) hinwegsetzen, andere dagegen fanden Unterstützung (oftmals waren die Väter ihre Mentoren). Einigen der Frauen gelang es, ein Studium zu absolvieren, was dann für ihre späteren Forschungsreisen eine solide wissenschaftliche Grundlage schuf.
Der Höhepunkt der weiblichen Forschungsreisen lag im 19. Jahrhundert. Hier sahen sich die Frauen mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. Sie mussten die bereits erwähnten gesellschaftlichen Vorbehalte überwinden, aber es gab auch ganz praktische Probleme, wie die geeignete Kleidung und Ausrüstung zu beschaffen. Es galt schon als unkonventionell, wenn eine Forscherin Männerkleidung anlegte. Allen diesen Frauen war gemeinsam, dass sie aus den „verkrusteten Mustern der [gesellschaftlichen] Etikette” ausbrachen und neue Wege begingen und dadurch für spätere Frauengenerationen zum Vorbild wurden. Dieser Vorbildcharakter, der bis heute nachwirkt und die gleichberechtigte Anerkennung weiblicher Leistungen auf dem Feld der Explorationsgeschichte sowie der Naturwissenschaften und Technik einfordert, kommt in dem vorliegenden Buch sehr gut zum Ausdruck. Lorie Karnaths „Verwegene Frauen” kann jedem, der sich mit Wissenschafts-, Kolonial- und Gender-Geschichte beschäftigt, dringend ans Herz gelegt werden.
Anmerkung:
1 Eva Bischoff: Web-Rezension zu: Women in World History, in: H-Soz-u-Kult, 24.03.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=115&type=rezwwwzwww> (25.11.2010).