Seit geraumer Zeit erleben Analysen und Studien über die so genannten neuen Mächte auf der internationalen Weltbühne einen enormen Aufschwung in akademischen, politischen und medialen Diskursen. Gemeint ist damit eine recht heterogene Gruppe von Staaten, die aufgrund ihres wachsenden ökonomischen Gewichts als Zukunftsmärkte und Ressourcenquellen bedeutsam sind, weiterhin Einfluss in den Ländern ihrer Region üben und sich zusehends Gehör auf internationaler Ebene verschaffen. 1 Die terminologische Vielfalt scheint dabei nahezu unerschöpflich, angefangen bei secondary states, regional great powers, regional powers, secondary regional powers, emerging middle powers, regional hegemons, BRIC, BRICSAM, um nur einige zu nennen, die je nach Autor und Forschungsansatz verschiedene Charakteristika und Merkmale aufweisen. Zumeist sind damit – um eine weiteren Begriff einzuführen, der vielleicht den Vorteil hat, etwas umfassender zu sein – aufstrebende Schwellenländer gemeint.
Auch der vorliegende Sammelband, zurückgehend auf die erste Konferenz des Regional Powers Network (RPN) am German Institute of Global and Area Studies (GIGA), die im September 2008 in Hamburg stattgefunden hat, hat sich der Analyse dieses Phänomens verschrieben.2 Es ist also nicht verwunderlich, dass die beiden Autoren Daniel Flemes und Detlef Nolte in ihrer Einleitung ein generelles Fehlen von analytischen Instrumenten zum Identifizieren und Vergleichen von Regionalmächten sowie deren Abgrenzung zu Groß- und Mittelmächten konstatieren (S.1). 3 Der Anspruch dieses Sammelbandes ist dementsprechend hoch gesetzt; die Initiatoren möchten einen konzeptionellen Rahmen für die Analyse der Außenpolitik von Regionalmächten für die zukünftige Forschung etablieren (ebd.). Dieser beinhaltet neben den materiellen Ressourcen weiterhin die Variablen Ideen, Interessen und Strategien einer Regionalmacht, welche die Außenpolitik beeinflussen und ihren Status im internationalen System bestimmen (ebd.). Zu Recht verweisen die Autoren auf die Schwierigkeit der Begrifflichkeiten, ‚Region’ und ‚Macht’, zu denen in den einzelnen IB-Theorien sehr unterschiedliche Auffassungen herrschen und infolgedessen sehr unterschiedliche Ergebnisse empirischer Untersuchungen vorliegen. Eine Einbeziehung rationalistischer, institutionalistischer und konstruktivistischer Elemente erscheint dementsprechend gewinnbringend.
Nach einer sehr kurz gefassten Einführung über verschiedene konzeptionelle Vorstellungen von ‚Region’ und ‚Macht’ sowie ‚Regionalmacht’, vor allem in Abgrenzung zur Mittelmacht, stellen Flemes und Nolte ihre Definition einer Regionalmacht vor (S. 6), welche in leicht abgewandelter Form das Analysekonzept von regionalen Führungsmächten des GIGA darstellt. 4 Meines Erachtens fehlt hierbei jedoch die Einbindung in die breitere Forschungslandschaft, die sich mit regionalen Machtarchitekturen und den neuen Akteuren auf der internationalen Bühne beschäftigt. Keine Beachtung in diesem Analysekonzept findet die institutionelle Einbindung von Regionalmächten in internationalen, wie auch regionalen Organisationen und Foren. Das ist deshalb wenig verständlich, da zu beiden Punkten bereits Veröffentlichungen beider Autoren vorliegen.5
Ebenfalls als Einführung in die Thematik betrachtet Andrew Hurrell Regionalmächte und ihre Entwicklung im globalen System aus historischer Perspektive. Es schließt sich ein Einblick in Theorien und analytische Konzepte an, die zugleich auf die Analyse von Regionalmächten angewendet werden (Section 1). Douglas Lemke stützt sich auf die Power Transition und Hegemonic Stability Theory, Dirk Nabers fragt nach Macht und Führung (leadership) und Philip Nel und Matthew Stephen betrachten die auswärtige Wirtschaftspolitik von Indien, Brasilien und Südafrika anhand materieller, ideeller und institutioneller Ressourcen.
Die nächsten drei Kapitel umfassen Außenpolitikstudien, wobei in Section 2 die Außenpolitikstrategien von Regionalmächten an den Beispielen Brasilien (Daniel Flemes), Indien (Salma Bava) und Israel (Martin Beck) untersucht werden, während Section 3 ideengeleiteter Außenpolitik von Regionalmächten gewidmet ist und die Beispiele Südafrika (Deon Geldenhuys), Iran und Venezuela (Henner Fürtig und Susanne Gratius) und Brasilien (Matias Spektor) behandelt. Section 4 geht den innenpolitischen Einflussfaktoren auf Außenpolitik nach, veranschaulicht an den Beispielen China (Mingjiang Li), Russland (Irina Busygina) und Indien (Joachim Betz).
Die letzte Section (5) diskutiert die Folgen für Europa (Hartmut Mayer) und die USA (Mark Brawley). Der erste Aufsatz in diesem Kapitel fällt hier etwas heraus, denn er erörtert die EU als Regionalmacht (Hans J. Giessmann).
Am Ende steht eine Zusammenfassung (Flemes/ Lemke), in der Ideen, Interessen und Strategien von Regionalmächten vergleichend betrachtet und noch einmal die eingangs vorgeschlagenen theoretischen Kriterien für die Bestimmung von Regionalmächten einer Überprüfung unterzogen werden.
Deutlich wird die konstruktivistische Herangehensweise, die für das Erklären von außenpolitischem Handeln soziale Normen, Regeln, Ideen und kulturelle, nationale oder ethnische Identitäten heranzieht. 6 Die Ausführungen zu den einzelnen ‚hochsignifikanten Variablen‘ (S. 1) bleiben jedoch sehr allgemein gehalten. Die vergleichende Perspektive gestaltet sich aufschlussreicher und zeigt auf, wie nationale und regionale Einflussfaktoren miteinander in Beziehung stehen und spezifische regionale Gegebenheiten die Außenpolitikstrategien eines Staates beeinflussen. An dieser Stelle wäre ein Rückschluss auf die globale Ebene sicherlich ebenfalls interessant. Zumal Hurrell in seinem Beitrag direkt darauf verweist, dass Regionalmächte nicht ohne die Einbettung in den globalen Kontext erfasst werden können und dieser globale Kontext weiterhin historisch verstanden werden muss (S. 17).
Bezüglich der Anwendung ihrer theoretischen Kriterien auf die vorgestellten Fallbeispiele gelangen die Autoren zu dem Schluss, dass man zwei Gruppen unterscheiden könne (S. 323f.): Gruppe 1 umfasse die Regionalmächte, die mindestens alle vier Basiskriterien erfüllen (Südafrika, Brasilien, Indien, China und Russland). In Gruppe 2 kommen alö jene Staaten, die keine Regionalmächte darstellen, aufgrund fehlender Übereinstimmung aller vier Basiskriterien. Dazu gehören Venezuela, Iran und Israel. Gestaltete sich der erste Teil der Zusammenfassung schon als empirisch schwach, fragt sich der Leser zuweilen, ob die Anwendung der Kriterien auf die einzelnen Fallbeispiele nicht eher auf ‚common sense’ Aussagen als auf einer empirischen Analyse beruhen. Es ist daher auch wenig verwunderlich, dass die bereits eingangs genannten „üblichen Verdächtigen“ (S. 1) als Regionalmächte dann auch bestätigt werden.
Der Leser, der sich ausgehend vom Titel, einen Einblick in die Veränderungen der internationalen Politik durch regionale Akteure auf der weltpolitischen Bühne erhofft hat, wird vermutlich am Ende enttäuscht werden. Die einzelnen Außenpolitikanalysen stellen sicherlich einen guten Überblick dar, man vermisst jedoch die umfassende Einbettung in das Phänomen regionaler Machtarchitekturen und die damit verbundenen Veränderungen im globalen System.
Anmerkungen
1 Jörg Husar u.a., Neue Führungsmächte als Partner deutscher Außenpolitik. Ein Bericht aus der Forschung, Berlin 2008 <http://www.swp-berlin.org/de/produkte/swp-studien/swp-studien-detail/article/neue-fuehrungsmaechte-als-partner-deutscher-aussenpolitik.html> (31.01.2011)
2 Weitere Informationen über das Regional Powers Network finden sich unter http://www. giga-hamburg.de/rpn. Der Herausgeber, Daniel Flemes, ist wesentlich am Aufbau und der Koordination des RPN beteiligt.
3 Ich verwende im Folgenden die Übersetzung Regionalmacht für regional power. Es ist jedoch anzumerken, dass in dem Analysekonzept des GIGA von regionalen Führungsmächten gesprochen wird.
4 Siehe hierfür: Daniel Flemes, Detlef Nolte, Zukünftige globale Machtverschiebungen. Die Debatte in den deutschen Thinktanks. in: GIGA Focus Global 5/2008, S. 4; Detlef Nolte, Macht und Machthierarchien in den internationalen Beziehungen. Ein Analysekonzept für die Forschung über regionale Führungsmächte, in: GIGA Working Papers 29/2006, bes. S. 23ff.
5 Siehe u. a. Detlef Nolte, Macht und Machthierarchien; Daniel Flemes, Detlef Nolte, Globale Machtverschiebungen; Detlef Nolte, How to compare regional powers. Analytical concepts and research topics, in: Review of International Studies 36 (2010) 4, S. 881-901
6 Andreas Wilhelm, Außenpolitik. Grundlagen, Strukturen, Prozesse, München 2006.