Der Titel des Sammelbandes knüpft an die Diskussion über das Reformationszeitalter an und versucht, das Begriffspaar auf die Epoche nach dem Ersten Weltkrieg zu übertragen. Insofern stellt das Buch einen Beitrag zu der langsam an Fahrt gewinnenden Diskussion über den Ersten Weltkrieg im östlichen Europa dar. Die zugrunde liegende Hypothese lautet zunächst, der Aufbruch in eine neue Staatenordnung ging zugleich mit einer durch Bürgerkriege, Grenzrevisionismen und Nationalismen geschürten Krise einher. Allerdings fokussieren die Einleitung und die Mehrzahl der Beiträge dann weniger auf die großen politik- und sozialgeschichtlichen Entwicklungslinien der Epoche nach Ende des Ersten Weltkriegs, sondern nehmen vor allem den kulturellen und politischen Aufbruch in die Moderne in den Blick. Der Denomination des Oldenburger Instituts entspricht der Fokus auf Deutsche in Ostmitteleuropa. Bei der Vielzahl der Beiträge – knapp vierzig in sechs Abschnitten –bleiben qualitative Unterschiede und Inkohärenzen nicht aus, die hier nicht eingehend besprochen werden können. Die vorliegende Skizze konzentriert sich daher auf die wichtigsten Aspekte der Publikation:
Von dem ersten Schwerpunkt zu geschichtspolitischen Strategien ist die anschaulich geschriebene und gut illustrierte Darstellung von Małgorzata Omilanowska zur visuellen Konstruktion einer staatlichen polnischen Ostsee-Identität zu hervorzuheben, die nicht nur Architektur und Grafik, sondern auch das Innenraumdesign von Schiffen behandelt. Hieran anknüpfend wäre ein Vergleich mit anderen jungen Staaten der Epoche zweifellos ein reizvolles Unterfangen. Gut ist auch Jacek FriedrichsBeitrag zur Selbstdarstellung der Freien Stadt Danzig auf ihren hoheitlichen Objekten: Geldscheinen, Münzen und Briefmarken. Dass die Post ein besonders stark beackertes Feld von Rivalität war, ist bekannt; dagegen zeigt der Blick auf die Geldscheine, dass für die Narration einer Danziger Eigenständigkeit vor allem Architekturmotive herangezogen wurden. In diesen Zusammenhang passt Karolina Zimna-Kaweckas Blick auf die Polonisierung Pommerellens nach 1918; hier ist vor allem das Bildmaterial interessant. Brigitte Braun und Helmut Freiwald befassen sich mit Filmgeschichte: Während der Blick auf Revisionspropaganda in Oberschlesien interessant ist, verstolpert die Thematisierung der polenpolitischen Zäsur von 1934 allerdings das Problem. Die Zuordnung des Beitrags von Jochen Oltmer zur „volksdeutschen“ Migration, der sich mit der ethnisch-nationalen Überhöhung der Rolle deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa befasst, zu dieser ersten Sektion hat sich mir nicht erschlossen.
In dem Abschnitt zu Orten des kollektiven Gedächtnisses steht die Belletristik im Zentrum, sei es als Grenzkampfliteratur (von Jürgen Joachimsthaler und Regina Hartmann) oder als Thematisierung des Ersten Weltkriegs in Ostpreußen bis zu Siegfried Lenz und Arno Surminski (von Mirosław Ossowski). Ryszard Kaczmarek betrachtet Kriegerdenkmäler in Oberschlesien, aber zu detailliert und leider – im Unterschied zu den übrigen Beiträgen – ohne Bilder. Der Beitrag von Katherina Wessely zu deutschen Theatern in Tschechien als Institutionen kollektiver Erinnerung passt dagegen nicht in den Zusammenhang.
In der Sektion zu Identitäten ist der Beitrag von Severin Gawlitta zu Nationalisierungsprozessen unter den Deutschen im Generalgouvernement Warschau bzw. Polen hervorzuheben. Das gilt ebenso für Wojciech Kunickis Betrachtung zu Wilhelm Szewczyk, in der der Autor aufzeigen will, dass nationaldemokratische und nationalsozialistische Sympathien in den 1930er Jahren Hand in Hand gehen konnten. Primus-Heinz Kucher beleuchtet am Beispiel von Stetl-Narrativen bei H.W. Katz und Manès Sperber den Prozess von der deutsch-jüdischen Koexistenz bis zur Katastrophe. Dagegen tragen die Beiträge zu den Deutschen im Russländischen Reich (von Olga Kurilo und Anja Wilhelmi)wenig Neues bei.
Eine weitere Sektion befasst sich mit Loyalität und Autonomie: Michael Garleff stellt die deutschbaltischen Autonomiekonzepte vor, sein Fazit lässt aber deren negative Aspekte außer acht. Beata Lakeberg thematisiert in einem interessanten, aber doch etwa zu detaillierten Beitrag Konflikte innerhalb der deutschen Minderheit in der polnischen Republik. Weiterführend sind in dieser Sektion insbesondere die Aufsätze von Ingo Eser zur Schulpolitik gegenüber den Deutschen in Polen sowie von Pascal Trees, der sich mit Deutschen in der polnischen Armee nach dem Ersten Weltkrieg befasst. Weitere Texte thematisieren die deutsche Minderheitenpresse (Maria Gierlak), das deutsche Theater in Thorn (Marek Podlasiak), siebenbürgisch-deutsche Autoren (Stefan Sienerth) sowie die deutsche Minderheit in Jugoslawien (Zoran Janjetović).
Der fünfte Abschnitt zur Wissenschaftspolitik vereint recht heterogene Texte: Petr Lozoviuk befasst sich mit Studien über den Volkscharakter in Tschechoslowakei, Róbert Keményfi untersucht die Rezeption deutscher Volksboden-Ideen in der ungarischen Geographie. Weitere Themen gelten der Kunstgeschichte an der Deutschen Universität Prag (Alena Janatková), und dem Grenzlandkampf deutscher Studenten (Harald Lönnecker).
Der letzte Abschnitt greift den Gegensatz von Tradition und Moderne in verschiedenen Kunstgattungen auf. Hier dominieren Belletristik, Theater und Publizistik: Matthias Schöning beleuchtet die Darstellung der Ostfront in Romanen, Gertrude Cepl-Kaufmann befasst sich mit schlesischen Schriftstellern am Ende des Weltkriegs, und Tomasz Majewski behandelt das Breslauer Theater im Nationalsozialismus. Weitere Themen sind die böhmische Grenzlandliteratur (Karsten Rinas) und die Danziger Rundschau (Marion Brandt). Mit bildender Kunst befassen sich Johanna Brade zu Kriegserfahrungen in der Malerei zweier schlesischer Künstler und schließlich Mart Kalm zum estländischen Parlamentsgebäude, das in seiner expressionistischen Gestaltung einen Sonderfall staatlicher Repräsentation, nicht nur im östlichen Europa, darstellt.
Wenn man davon absieht, dass die Zuordnung der einzelnen Texte zu den jeweiligen Abschnitten mitunter willkürlich erscheint, so zeigt der Band doch, dass namentlich ein kulturgeschichtlicher Fokus interessante und weiterführende Perspektivenauf die Geschichte Ostmitteleuropas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eröffnen kann. Zukünftig könnte die Orientierung an Deutschen und deutscher Geschichte in der Region jedoch in eine stärker verflechtungsgeschichtlich ausgerichtete Diskussion münden.
Sinnvoll bei einem so umfangreichen Band sind die Personen- und Ortsregister. Zudem ist die gute Ausstattung hervorzuheben, die sich insbesondere in den zahlreichen, auch farbigen Abbildungen zeigt.