Dieser Band ist eine Zusammenschau der Diskussionen während des vierzigjährigen Jubiläums von „Achtundsechzig“. Er ist das Ergebnis einer Ringvorlesung an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, die im Sommersemester 2008 stattfand. Die Organisatoren versuchten damals, verschiedene Perspektiven und Erfahrungen zu vereinen und eine vergleichende Forschung anzuregen. Die Ansätze, die sie vor fünf Jahren verfolgten, haben im Kontext der Interpretation von „Achtundsechzig“ mittlerweile Allgemeingültigkeit erlangt: Forschungen über diese Zeitspanne und Ereignisse sollen über den nationalen Tellerrand hinausgehen, aus globaler und regionaler Perspektive beleuchtet werden und möglichst interdisziplinär, international und vergleichend angelegt sein.
Die Publikation hat – wie häufig bei diesem Thema – zunächst das Problem, dass die Historiker/innen, die sich damit beschäftigen, selbst in die Ereignisse involviert waren oder aber zumindest Zeitzeugen sind. Friedrich Stadler macht darauf in seinen einleitenden Worten aufmerksam und bedauert die fortwährende Bedeutung der Zeitzeugen in der Interpretation. In ihren Aufsätzen versuchen einige Autor/innen diese doppelte Rolle offen zu legen und aus ihrer persönlichen Perspektive zu berichten, wie es in den Beiträgen von Mitchel G. Ash „The whole world is watching! 1968 auf dem Campus und in den Straßen der USA“ und von Robert Knight „Druiden und Demonstrationen: 1968 aus der Sicht eines englischen Geschichtsstudenten“ deutlich wird. Doch das gelingt nicht allen Autor/innen, obwohl für eine kritische Zeitgeschichte die Historisierung unumgänglich ist.
In der Forschung über „1968“ wird das Jahr heute einhellig als Chiffreverstanden. Die Herausgeber dieses Bandes stimmen dieser allgemeinen Interpretation zu und betonen die Bedeutung von „1968“ als Zeichen für weitgehende und längerfristige Veränderungen. Martin Klimke macht in seinem Artikel über „1968 als transnationales Ereignis“ darauf aufmerksam, dass „1968“ aus internationaler Perspektive unterschiedlichste politische und soziale Transformationsprozesse darstellt. Er erklärt allerdings auch, dass es fraglich sei, ob es überhaupt eine „internationale Perspektive“ gebe und ob „1968“nicht ein „Erinnerungskonstrukt“ sei, das als globales Ereignis zelebriert werde. Dieser Beobachtung ist einiges abzugewinnen. Sie wird umso deutlicher, wenn man den heutigen Diskurs der Zeitzeugen betrachtet, der sich in gewisser Weise schon verselbstständigt hat.
Die Publikation zeigt, dass viele Ereignisse um 1968 ihre Ursprünge in nationalen oder regionalen Pfadabhängigkeiten hatten. Das wird u.a. im Aufsatz von Steven Beller „The End of Modernity? – 1968 in the USA and the UK“ deutlich. Die ersten Veränderungen zeigten sich in den USA bereits in der Bürgerrechtsbewegung, die wiederum in der Tradition emanzipierender Kräfte von Minderheiten des 19. Jahrhunderts stand. Sie kann laut Beller nicht nur als Kampf gegen die Diskriminierung der Afro-Amerikaner/innen verstanden werden, sondern auch als eine Forderung weißer Amerikaner/innennach Modernismus für individuelle Freiheit gegen den konservativen Status der US-amerikanischen Gesellschaft. Dieser anti-konservative Haltung zeigte sich auch im österreichischen Kontext, allerdings in einem viel kleineren Ausmaß, wie Karl Vocelka über „Die Studentenrevolte 1968“ berichtet. In Österreich war die Rebellion der avantgardistischen Kunstbewegung um den „Wiener Aktionismus“ vorbehalten, von der sich die österreichische Gesellschaft weitgehend distanzierte.
Die meisten Aufsätze orientieren sich an den Studierendenprotesten, die als Hauptakteure von „1968“ erscheinen, obwohl – wie Gerd-Rainer Horn in „Arbeiter und Studenten in den 68er Jahren“ deutlich macht – die Arbeiter/innen in einigen Ländern keine unerhebliche Rolle spielten. Klimke sucht in seinem Artikel nach der internationalen Dimension der Bewegungen. Er meint, dass der tatsächlich transnationale Moment die internationalen Zusammenkünfte waren, wie die „International Union of Socialist Youth“, in denen sich die Bewegungen trafen. Erwähnenswert ist sicherlich, dass es sich hier meist um westliche Aktivist/innen handelte. Zum Hauptkritikpunkt und gemeinsamen Impuls für den Protest sei der Vietnamkrieg geworden– als Symbol gegen den Kalten Krieg und die imperialistische Unterdrückung der Dritten Welt. Klimke führt aus, welche Ähnlichkeiten oder Überschneidungen es in den Bewegungen gab, z. B. die Sprache des Dissens oder die Kultur in Form musikalischer Rebellion. Die Schlussfolgerungen der internationalen Treffen waren, so Klimke, dass revolutionäre Politik nur noch im globalen Rahmen denkbar wurde und die Erkenntnis, dass das Auftreten internationaler wirtschaftlicher Verflechtung auch ein Ansatzpunkt für Handeln auf der Gegenseite erzeugen müsse. Aus der Sicht Klimkes entstand hier ein internationaler Diskursraum. Doch vermutlich waren nur wenige in der Lage, an diesem zu partizipieren. Deswegen halte ich auch die Einschätzung Klimkes, der die Protestbewegungen als „fundamentale Zäsur“ des Kalten Krieges zur Überwindung der bipolaren Weltordnung bewertet, nur für bedingt verallgemeinerbar.
Das Buch ist ein Dokument desheutigen Diskussionsstands. Obwohl das National-Übergreifende, Internationale oder Transnationale als Forschungsansatz betont wird, fehlt es meist noch an detaillierten Quellenstudien. In zwei Aufsätzen ist diese Arbeit allerdings schon erfolgreich getan. Der erste unter dem Titel „Physik, Vietnam und der militärisch-akademische Komplex“ von Wolfgang L. Reiter analysiert eine von der US-Regierung initiierte Forschungsabteilung, die führende Physiker engagierte, um die Militäreinsätze in Vietnam strategisch zu verbessern. Die gesellschaftliche Debatte über die „Jason Divison“ am „Institute for Defense Analysis“ problematisierte die Objektivität von Wissenschaft sowie die behauptete Neutralität von Forschung gegenüber externen Interessen. Der damalige Erfolg sei gewesen, dass es den Kritiker/innen gelang, eine öffentliche Debatte über die Mitwirkung von Wissenschaft in der Politik und insbesondere auf dem Feld des Militärs zu initiieren, so der Autor. Der zweite Artikel von Malachi Haim Hacohen „From Forum to Neues Forum: The Congress for Cultural Freedom, the 68ers and the Emigres in Austria“ behandelt die Beziehung der 68er-Bewegung zu den Exilant/innen des Nationalsozialismus. Anhand der internationalen Organisation „Kongress für Kulturelle Freiheit“ und dessen österreichischem Publikationsorgan „Forum. Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit“, das sich zum linken Magazin „Neues Forum“ entwickelte, zeigt der Autor plausibel den Wandel zwischen zwei Generationen, aber vor allem deren Kontinuität, die Liberalisierung und Internationalisierung der österreichischen Kultur in der öffentlichen Sphäre zu thematisieren, was laut Hacohen zum Aufweichen nationalstaatlicher Grenzen in der Kultur führte. Beide Beispiel zeigen, wie durch die Analyse einer lokalen Debatte, transnationale Verflechungen sichtbar werden, die den Ansätzen der auferlegten Forschung enstprechen. In beiden Aufsätzen wird aber auch deutlich, dass sich der Forschungsgegenstand selbst nicht primär um die Studierendenbewegungen drehen muss. Diese Richtung scheint mir für die Interpretation und Historisierung der 1960er-Jahre und darüber hinaus zielführend.
In der Zeitgeschichte hat parallel zur „68er-Diskussion“ die Bearbeitung der 1970er-Jahre begonnen. Auch diese Analyse hat es mit den oben beschriebenen Problemen zu tun, aber sie zeigt, dass die Loslösung vom Jahr und die Einbettung der sozialen Proteste in eine größere gesellschaftliche Transformation ermöglicht, die Zeitspanne der 1960er- bis 1980er-Jahre in einen größeren Kontext zu stellen und eine Interpretation der jüngsten Zeitgeschichte zu liefern. In diesem Zusammenhang taucht„1968“ als konglomerativer Ausgangspunkt vieler Veränderungen auf, die erst in den folgenden Jahrzehnten ihre Wirkung zeigten.Einige dieser Ansätze sind bereits im Buch enthalten. So schildert Martin Klimke beispielsweise, dass die Zeit der Beginn eines Endes vom wirtschaftlichen Boom, von Modernisierung und innerer Stabilität war. Ob „1968“ hier aber ein Höhepunkt der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen war, wie Klimke behauptet, dürfte mit der Einordnung in einen größeren Kontext und der Interpretation von wirtschaftlichen Ereignisse, wie der ersten Ölkrise 1973 und den steigenden Arbeitslosenzahlen ab 1975 in vielen westlichen Industrieländern, hinterfragt sein.