M.N. Barnett: Empire of Humanity

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Title
Empire of Humanity. A History of Humanitarianism


Author(s)
Barnett, Michael N.
Published
Extent
312 S.
Price
€ 22,60
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Daniel Roger Maul, Universität Giessen

Ein Imperium des Humanitarismus? Kann es ein solches geben? Sollten Menschen, die vermeintlich selbstlos, in Not Geratenen in fernen Ländern zu Hilfe eilen, willentlich oder unfreiwillig zu Handlangern einer potentiell oppressiven und gewalttätigen Kraft werden können? Michael Barnetts Buch bejaht diese Fragen auf zweifache Weise: erstens verweist der Empire-Begriff auf die nach Ansicht des Autors zu selten betonte Machtkomponente innerhalb des humanitären Kosmos – sei es in Gestalt der materiellen und diskursiven Macht der Helfer über die Empfänger von Hilfe, sei es in Form der vielfältigen Allianzen privater Hilfsorganisationen mit den Vertretern staatlicher Autorität. Es ist eines von vielen Verdiensten dieses Buches, dass die Frage der Macht im Kontext humanitären Handelns in den Mittelpunkt gerückt wird. Es ist dies freilich ein Empire ohne klares Zentrum (wenngleich die USA eine exponierte Rolle spielen). In eben diesem dezentralen Sinn behandelt Barnett den Empire-Begriff zweitens auch als Metapher für den allgegenwärtigen und allumfassenden Charakter des Humanitarismus westlicher Prägung während der vergangenen rund 200 Jahre, der als konstante Begleitmusik der großen historischen Entwicklungen porträtiert wird.

Unterschieden werden von Barnett drei „Zeitalter“ des Humanitarismus. Der erste Teil des Buches widmet sich dem „Age of Imperial Humanitarianism“, das der Autor in etwa in den gut 150 Jahren vom Zeitalter der Aufklärung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verortet, worauf sich ein bis ans Ende des Ost-West-Konflikts andauerndes Zeitalter des „Neo-Humanitarianism“ anschließt, das wiederum von einer bis in die unmittelbare Gegenwart reichenden Epoche des „Liberal Humanitarianism“ abgelöst wird.

Drei Kapitel bilden den ersten Teil. Das erste (Kap. 2) „The humanitarian big bang“ widmet sich den geistigen und materiellen Voraussetzungen des Humanitarismus. Den Ausgangspunkt einer wahren Explosion humanitärer Reformaktivitäten verortet Barnett im Zeitalter der Aufklärung, deren rationalistischer Wesenskern eine Umwandlung von „sympathy into collective action“ (51) bedingte: vom Mitleid über die Einsicht in die Kausalitäten des Leids hin zum säkularen Glauben an die menschliche Fähigkeit, dieses Leid an den Ursachen zu packen. Einen zweiten Impuls erkennt Barnett im Aufstieg der evangelikalen Bewegung innerhalb des Protestantismus, dem auch eine wichtige Rolle im dritten Kapitel „Saving Slaves, Sinners, Savages, and Societies“ zukommt. In den Mittelpunkt rückt hier nicht zuletzt das selbst-referentielle Element an der Wurzel des Humanitarismus. Die Anti-Sklaverei-Bewegung erscheint hier als ein Beispiel für die Fülle der Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts, die neben ihrem humanitären Auftrag in fernen Ländern auch dem Zweck dienen konnten, moralische Zustände innerhalb der eigenen Gesellschaft zu kommentieren bzw. kolonialen und (zivilisations-) missionarischen Projekten Legitimität zu verleihen.

Das Internationale Rote Kreuz steht in der Folge im Mittelpunkt des den ersten Teil beschließenden vierten Abschnitts „Saving Soldiers and Civilians during Times of War“. Eingeführt wird das Rote Kreuz als stilbildender Hauptvertreter der „emergency branch“ des Humanitarismus, die im Buch durchgehend von einer „alchemical branch“ abgegrenzt wird (10). Während erstere sich auf die Rettung von akut bedrohten Notleidenden konzentriert, reicht der Anspruch letzterer weiter: Ihr Hauptaugenmerk gilt den Ursachen des Leidens, ihr Anspruch erstreckt sich folglich nicht nur auf die Linderung akuter Not, sondern potentiell auf die Transformation ganzer Gesellschaften. Unter die Alchemisten zählen entsprechend Abolitionisten genauso wie Temperenzler und moderne Entwicklungs-NGOs.

Ein neues Zeitalter beginnt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Hauptmerkmale des nun zu beobachtenden „Neo“-Humanitarismus bestehen in der Entstehung einer tatsächlichen „Global aid society“ (Akira Iriye), in der zunehmenden Verknüpfung von relief und development sowie im Auftreten neuer Akteure in Gestalt von weltweit tätigen privaten Hilfsorganisationen wie CARE, Oxfam, World Vision International oder Mèdecins sans frontières (MSF). Das erste von drei Kapiteln in diesem Teil (Kap. 5) widmet sich der Entstehung einer neuen „Neuen Internationalen“ und verweist damit auf die global erweiterte Perspektive humanitärer Akteure und deren erhöhten Stellenwert in den Augen staatlicher Instanzen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der folgende Abschnitt zum „Neo-Humanitarianism“ widmet sich dagegen den Institutionen der Hilfe, wobei insbesondere das UN-Hilfswerk UNRRA als Verkörperung eines neuen von den USA ausgehenden planerischen (Selbst-) bewußtseins eine hohe Bedeutung zukam. Einen großen Raum nimmt hier die Analyse der mehr oder weniger intensiven Zusammenarbeit zwischen (wiederum überwiegend amerikanischen) NGOs und staatlichen Institutionen ein, die in einzelnen Fällen (CARE) zumindest bis Ende der 1960er Jahre den Charakter einer regelrechten Symbiose annehmen konnten. Der abschließende Abschnitt des zweiten Teils (Kap. 7) „Humanitarianism during War“ widmet sich ganz den „neuen Kriegen“ der Nachkriegszeit als Movens humanitären Handelns und dabei insbesondere dem Biafrakonflikt der als Sollbruchstelle für den Beginn eines tiefgreifenden Reflexionsprozess innerhalb der humanitären Gemeinde stand.

Im dritten Teil „The Age of Liberal Humanitarianism“ geht es um die Gegenwart des Humanitarismus, so wie er aus der komplizierten Welt nach 1989/90 hervorging. Kennzeichnend für diese Phase sind die Versuche, eine (erneut sehr stark von der anglo-amerikanischen Debatte her gedachte) neue „liberale“, auf Demokratie und freiem Markt fußende Weltordnung zu etablieren, mit unübersehbaren Folgen, neuen Möglichkeiten und Gefahren für den humanitären Kosmos, wie Kapitel 8 „It’s a humanitarian’s world“ zeigt. Im Zentrum dieses Versuchs steht zunächst das wachsende Engagement von Staaten einerseits sowie die Neudefinition bzw. neue Hierarchie staatlicher Souveränität im internationalen System andererseits. Als Hauptindikatoren dieser Verschiebungen dienen insbesondere die erhöhte Bedeutung des UN-Systems in humanitären Krisen, die Debatten um eine „responsibility to protect“, vor allem aber die zunehmende Bereitschaft der westlichen Demokratien, in humanitären Notlagen im Zweifelsfall militärisch einzugreifen. Die Wiederkehr „humanitärer Interventionen“ im Zeitalter des internationalen Liberalismus bilden denn auch den Fokus des neunten Kapitels „Armed for Humanity“. Ein einheitliches Bild ergibt sich freilich nicht: So unterschiedlich die Reaktionen der Staaten auf die „complex emergencies“ der 1990er Jahre von Somalia bis in den Kosovo ausfielen, so unterschiedlich war auch das spezifische Verhältnis der Akteure zueinander: Während im Bosnienkrieg das Engagement des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR als „Feigenblatt“ den mangelnden Willen der Staaten zur wirkungsvollen Intervention überdecken sollte, wurden humanitäre Helfer im Kosovo-Konflikt zu mehr oder weniger willigen Handlangern der NATO, die einer vorwiegend militärischen Logik folgte. Der Völkermord in Ruanda und sein langes Nachspiel in den Flüchtlingslagern Ost-Kongos wirft ein besonders grelles Schlaglicht auf die unauflösbar scheinenden Widersprüche und resultierenden Dilemmata der neuen humanitären Weltordnung. Die Indienstnahme durch den Staat, der auch als Folge „neoliberaler“ Ideen von der subsidiären Übertragung von Aufgaben aus dem staatlichen Bereich an zivilgesellschaftliche Organisationen interpretiert wird, der anhaltende Trend zu langfristiger statt reiner Nothilfe sowie der zunehmende Einfluss menschenrechtsorientierten Denkens in die Arbeit von Hilfsorganisationen zwangen diese in eine permanente Debatte um die ideellen Grundlagen der eigenen Arbeit. Es handelt sich um eine Diskussion mit offenem Ende, in der sich Bekenntnisse zu politics und anti-politics bilden, wobei letzteres als Beharren auf einem als ewig und unveränderlich beschworenen Reinheitsgebot des Humanitarismus zu verstehen ist.

Eine große Stärke des Buches ist die enge Verzahnung von theoretischer Einleitung und empirischer Analyse. Denn die zentralen Grundfragen des Humanitarismus werden immer wieder von Neuem aufgegriffen und für alle Epochen diskutiert. Wie jedes Imperium, so zeigt das Buch auf diese Weise, ist auch dieses nicht frei von Widersprüchen und Spannungen. Immer wieder geht es, wie eingangs beschrieben, um Macht. Das Verhältnis humanitärer Organisationen zum Staat, die Formulierung humanitärer „Grundprinzipien“ in Abgrenzung zum Staat wie Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit werden dabei in ihrer jeweiligen Historizität und das heißt als kontingente, den jeweiligen Umständen angepasste Konzepte kenntlich gemacht. Gleiches gilt für das Verhältnis von Helfern und Empfängern: Paternalismus, beschrieben als Akt des nicht-konsensualen Eingreifens in das Leben anderer zu ihrem vorgeblichen Nutzen, wird treffend als konstanter Normalzustand dieser Beziehung definiert. Mögen sich legitimatorische Grundlagen und Sprache humanitären Eingreifens gewandelt haben und Konzepte der Partnerschaft und Partizipation in der Rhetorik des modernen Hilfsexperten den zivilisationsmissionarischen Ton abgelöst haben: Das paternalistische Grundmuster bleibt erhalten, ja es wird als notwendige ideologische Grundvoraussetzung humanitärer Hilfe insgesamt ausgewiesen: „a world without paternalism might be a world without ethics of care“ (S. 12). Ein Teil der Skepsis, die Barnett allzu optimistischen Annahmen von der Entstehung einer internationalen transkulturellen Solidargemeinschaft aus dem Geist des Humanitarismus entgegenbringt, leiten sich aus diesen Überlegungen ab. Viel Raum widmet Barnett darüber hinaus den Antriebskräften des Humanitarismus, die er als destruction, production und compassion kennzeichnet, wobei diese Kategorien sich im Verlauf des Buchs oft als zu statisch erweisen und mit zunehmender Dauer auch eine immer geringere Rolle spielen. Destruction kann dabei insbesondere mit Blick auf den hohen Stellenwert kataklysmischer Krisen wie den beiden Weltkriegen, dem Biafrakonflikt oder dem Völkermord in Ruanda für die ideelle und praktische Fortentwicklung humanitären Selbstverständnisses gelesen werden. Production und compassion lassen sich dagegen annäherungsweise als sozial- sowie die ideengeschichliche Komponente innerhalb des humanitären Dynamos übersetzen. Vieles läßt sich in Barnetts Buch aus einem umfassenden Verständnis des Autors von der Bedeutung des „Glaubens“ erklären, der die Antriebskräfte des Humanitarismus im Inneren zusammenhält. Humanitarismus, so heißt es an verschiedener Stellen, ist „a matter of faith“. Freilich ist der Glaube, der hier im Mittelpunkt steht, nicht notwendigerweise der an Gott, wobei Begriffen aus dem christlichen Wortschatz wie „Sühne“ (atonement) eine durchaus zentrale Stellung zukommt. Glaube kann sich als Bezugspunkt ebenso die Menschheit wählen, im Grunde genommen bezeichnet er jede Form transzendenten Denkens. Humanitarismus und Glaube sind deswegen wesensgleich, weil sie „in the absence of evidence“ die Überzeugung von der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns voraussetzen (S. 238). Einmal mehr wird deutlich: Beim Humanitarismus geht es um die spirituellen, emotionalen und zuweilen materiellen Bedürfnisse der Helfer in mindestens ebenso großem Maße wie um jene der Empfänger.

Über einige der Thesen des Buches ließe sich vortrefflich streiten: Das gilt zunächst für die Gewichtung und Periodisierung. Überproportional erscheint die Behandlung der Jahre ab 1990 im Verhältnis zu den übrigen „Zeitaltern“. 20 Jahre (den Schwerpunkt bildet sogar nur ein knappes Jahrzehnt von 1990-1999) nehmen mehr Platz ein, als der erste Teil, der knapp (1800-1945) 150 Jahre umfasst. Gerade in Letzerem werden die Nachteile der Einteilung deutlich: Die Veränderungen und Brüche innerhalb dieses Zeitabschnitts werden dadurch oft nur unscharf sichtbar; das gilt dann etwa für den Ersten Weltkrieg, der qualitativ und quantitativ zu massiven Verschiebungen innerhalb der Gesamtszenerie humanitärer Hilfe führte. Ähnliches ließe sich aber auch für die Geschichte des Roten Kreuzes sagen, das von seiner Gründung bis in die Zeit am Ende des Zweiten Weltkriegs viele Wendungen nahm, denen die gewählte Periodisierung nicht immer gerecht wird. Alles in allem hätte man sich innerhalb der ersten beiden Teile eine klarere Anbindung des Geschehens an die historischen Hintergrundereignisse gewünscht. Zuweilen geht hier der systematische Ansatz, der sich an Themen orientiert, auf Kosten einer präzisen historischen Kontextualisierung.

Dass Barnett nicht alle Aspekte abdecken kann, ist bei der Größe und Komplexität der Materie eine schiere Selbstverständlichkeit. Das Buch stellt ohne Frage einen großen Wurf dar, an dem sich künftige Überblicksdarstellungen messen lassen müssen. Es verarbeitet eine ganze Generation von kultur- und diplomatiegeschichtlicher Literatur zum internationalen Humanitarismus, seinen Formen, Organisationen und Problemen zu einem gut geschriebenen und pointenreichen Gesamtüberblick. Es wirft eine beachtliche Zahl von Fragen auf, die kommenden archivgestützten Arbeiten als Referenzpunkt dienen werden. Spielräume hierfür gibt es genug: etwa in Bezug auf die gesellschaftliche Bedeutung humanitären Handelns. Die Herausbildung bestimmter Milieus und Soziotope der Wohltätigkeit über nationale Grenzen hinweg ließe sich mittels einer systematischen und vergleichenden Analyse der religiösen, nationalen und politischen Identitäten humanitärer Helfer in unterschiedlichen Gesellschaften noch präziser erzielen, als dies Barnett mit seinem im Wesentlichen auf universell gültige Trends fixierten Ansatz leisten kann. Gleiches gilt für den Prozess der im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmenden Vernetzung von Hilfsorganisationen mit spezifisch nationalen Wurzeln wie Save the Children, bis World Vision International über nationale Grenzen hinweg und die resultierenden Spannungen.

Ein weiterer Punkt, der dem deutschen Leser ins Auge sticht: Deutschland erscheint hier als humanitäres Niemandsland, was freilich eher die Forschungslage als einen tatsächlichen Sachverhalt widerspiegelt. Es wäre wünschenswert, wenn das Buch auch in dieser Hinsicht frische Impulse geben könnte.

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13.07.2012
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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