K.-H. Golzio: Geschichte Afghanistans

Cover
Titel
Geschichte Afghanistans. Von der Antike bis zur Gegenwart


Autor(en)
Golzio, Karl-Heinz
Reihe
Bonner Asienstudien 9
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Andreas Wilde, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn

Abgesehen vom scheinbar kriegerischen Alltag und Diskussionen um militärische Strategien ist nach wie vor vergleichsweise wenig über die wechselhafte Geschichte Afghanistans bekannt. Dies verblüfft umso mehr, da in den vergangenen Jahrzehnten in größeren Abständen Bücher zum Thema erschienen sind. Insgesamt können die Werke der westlichen historischen Forschung mit Schwerpunkt Afghanistan in zwei Kategorien eingeteilt werden: erstens Gesamtdarstellungen wie zum Beispiel Vartan Gregorians The Emergence of Modern Afghanistan (1969), und zweitens Untersuchungen zu zeitlich und thematisch enger gefassten Spezialthemen wie etwa Poulladas Reform and Rebellion in Afghanistan (1973), oder A Political and Diplomatic History of Afghanistan, 1863-1901 (2006) von Kakar.

Nach einem großen Zeitabstand, der neuere Monographien der ersten Kategorie vermissen ließ, stellt nun Karl-Heinz Golzios 2010 erschienene Monographie nach Conrad Schetters Kleine Geschichte Afghanistans (2004) den zweiten Versuch einer ganzheitlichen Untersuchung historisch gewachsener Strukturen in Afghanistan dar. Während sich Schetter auf die Entwicklung der Staatwerdung, das Great Game und das 20. Jahrhundert konzentriert, setzt Golzio den Schwerpunkt auf die Antike und die vormoderne Geschichte. Der Aufbau und die Nutzung der wissenschaftlichen Transliteration lassen den Schluss zu, dass auch Akademiker (Historiker, Indologen, Religions- und Islamwissenschaftler) angesprochen werden sollen. Das Werk gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil geht es um die Antike und die diversen Spielarten des Buddhismus auf afghanischem Boden. Besonders diese Epoche der afghanischen Geschichte liegt nach wie vor im Dunkeln. Die lückenhafte Quellenlage erlaubt kaum eine vollständige Rekonstruktion des Datengerüstes der antiken Geschichte. Genau hier setzt Golzio mit der Erschließung neuer Quellen an, zum Beispiel Inschriften, Münzfunde Auszüge aus dem Avesta. Für die spätere Zeit, zieht er chinesische Quellen heran. Im Anschluss werden die verschiedenen islamischen Reichsgründungen und militärischen Expansionen vom 7. bis zum 18. Jahrhundert beleuchtet. Der zweite Teil der Monographie befasst sich dann mit der modernen Geschichte ab dem _Great Game und der Geschichte des 20. Jahrhunderts. 1 Das Werk endet mit der Post-Taliban Ära im Jahre 2009-10.

Der Autor stellt gleich eingangs fest, dass von einer „staatlichen“ Einheit des Landes allenfalls im Zuge von Großreichsbildungen die Rede sein kann. Dabei bezog sich der Begriff des Reiches lediglich auf die Kontrolle einer Zahl von Städten und der sie verbindenden Handelsstraßen. 2 Außerdem zeigt er auf, dass die Geschichte Afghanistans nicht losgelöst von den Entwicklungen in den benachbarten Regionen wie Indien, Zentralasien und Vorderasien (Iran) betrachtet werden kann. Das Werk glänzt denn auch mit einer detaillierten Analyse der antiken Geschichte. Hier werden die vielfältigen Bezüge zum alten Perserreich und zum Maurya Reich in Nordindien in der Zeit nach Alexander dem Großen deutlich gemacht.

Golzio folgt einem chronologischen Ansatz und macht seine Untersuchungen vor allem an der Quellenlage fest. Obwohl uneinheitlich, erlaubt diese dennoch Rückschlüsse auf das religiöse und politische Leben von Herrschern und Untertanen. Allerdings werden die Quellen weder vorgestellt noch deren Validität diskutiert. Der Verfasser stützt sich auf ein breiteres Quellenrepertoire, das neben historischen Berichten auch Inschriften, numismatische Beweise, archäologische Grabungen usw. einbezieht. Ein Novum stellen die Verweise auf zahlreiche chinesische Quellen dar, hier vor allem Annalenwerke wie das Hànshou oder das Hòu Hànshoū. Später widmet er dem Bericht des buddhistischen Mönches Fǎxiǎn ein eigenes Unterkapitel. 3 Die chinesischen Quellen werden besonders für die Untersuchung der nach-griechische Epoche und die Zeit der Kushana und Hephtaliten herangezogen. Diese Vorgehensweise ist bislang einzigartig in der Afghanistan-bezogenen Geschichtsforschung. Ebenfalls neu ist die detaillierte Schilderung chinesischer und türkischer Machtansprüche in der Zeit unmittelbar vor dem Einfall der ersten arabischen Heere. Hier wird die Analyse verschiedener chinesischer Quellen mit den anderen Quellengattungen kombiniert. Zu nennen wären hier Berichte arabischer Geographen, oder die Chronik des nordafrikanischen Bischofs Victor von Tonenna. Gelungen sind vor allem die Schlussfolgerungen zur religiösen Situation in vorislamischer Zeit, wobei der Schwerpunkt auf dem Buddhismus, Golzios Steckenpferd, liegt.

Auch die Entwicklungen im 8. Jahrhundert werden aus chinesischer Perspektive diskutiert, bevor der Verfasser auf die Etablierung regionaler Dynastien wie der Saffariden, Samaniden, Gaznaviden und Ghuriden zu sprechen kommt. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der sukzessiven Islamisierung und den einzelnen Eroberungszügen. In nachfolgenden Kapiteln legt Golzio den Akzent auf historische Entwicklungen und die Geschichte von Dynastien im Spannungsfeld zwischen Iran, Indien und Zentralasien. Leider bewegt er sich ausschließlich auf der ereignisgeschichtlichen Ebene. Das Werk kommt ohne eine tiefgreifende Analyse historisch gewachsener (islamischer) Herrschaftsstrukturen aus. Dies schlägt insbesondere für die post-mongolische Zeit negativ zu Buche, zumal der Forschungsstand hier bereits eindeutige Schlussfolgerungen zulässt. Unglücklicherweise wurde die bewährte Methode der beschreibenden Darstellung anhand der Quellen für die islamische Epoche fast vollständig aufgegeben. Bis auf das Babur Nama werden keine persischen oder arabischen Primärquellen einbezogen. Der Autor beschränkt sich hier ganz auf die Sekundärliteratur. Den einzigen Strang, der sich durch das gesamte Werk zieht, stellen wiederholte Verweise und Erklärungen zur religiösen Situation dar. So wird die schrittweise Islamisierung ebenso thematisiert wie aritische Sekten auf afghanischem Boden und die Aktivitäten der Raušaniya. 4

Während die Stärke des Werkes vor allem in der Erklärung der antiken, vorislamischen Ereignisgeschichte und in der Darstellung des afghanischen Buddhismus liegt, bietet es ab dem 18. Jahrhundert kaum neue Erkenntnisse. Im Gegenteil, die Beschreibungen bleiben aufgrund des Vorhabens einer umfassenden Gesamtdarstellung historischer Prozesse sogar hinter dem aktuellen Forschungsstand zurück. Gleiches gilt – vielleicht auch in Abgrenzung zu Schetter – besonders für das 19. Jahrhundert. Hier dienen die beiden anglo-afghanischen Kriege und das Great Game als Aufhänger. Jedoch folgen die Beschreibungen in weiten Strecken dem Schetterschen Vorbild. Auch bei der Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts und der sowjetischen Invasion bleibt der Autor mehr dem Versuch eines Überblicks verhaftet, so dass es zu keiner neue Erkenntnisse bringenden Beschreibung kommt. Besonders knapp gehalten sind der Überblick über die Mujahidin-Regierungen und die Bewertung der Taliban-Herrschaft. Diese wie auch die aktuelle Situation werden auch nicht vor dem Hintergrund von regional-typischen Machtstrukturen und historischen Kontinuitäten untersucht. Für die Darstellung der post-Taliban Ära hat der Autor mehr einen enzyklopädischen Ansatz gewählt. Der Text bricht unvermittelt bei der Rolle des ISI und der fortgesetzten pakistanischen Unterstützung der Taliban ab.

Obwohl es sich alles in allem um eine durchaus lesenswerte und informative Darstellung der afghanischen Geschichte handelt, hat das vorliegende Werk, wie skizziert, auch einige inhaltliche und konzeptionelle Schwächen. Hinzu kommen zahlreiche Rechtschreib- und Grammatikfehler. 5 Darüber hinaus wird keine Erläuterung der durchaus komplizierten Transliteration vorgenommen. Außerdem stechen kleinere und größere Sachfehler ins Auge. So gehören der Unai-Pass und die Sanglakh-Kette zum Kūh-i Bābā und nicht zum Safīd Kūh. Gleiches gilt für den Sālang-Pass, der am südwestlichen Ende des Hindukusch-Hauptkamms liegt. Außerdem wurde das Spin Ghar (Pashtun. für Safīd Kūh; Deutsch Weißes Gebirge) fälschlicherweise mit dem Paropamisus-Gebirge gleichgesetzt. Geradezu lieblos mutet der Exkurs zu den Ethnien an. So stellen die Mohammadzai eine Untergruppe der Barakzai und nicht umgekehrt den Hauptstamm, von dem die Barakzai abzweigen. 6 Der wohl gröbste Fehler findet sich jedoch gleich zu Beginn des Buches mit der Behauptung, die Bezeichnung ‘Afghanistan’ habe es vor dem 18. Jahrhundert nicht gegeben. Dies kann nur auf eine unzureichende Kenntnis der Quellen zurückzuführen sein. In der Tat taucht der historische Begriff ‘Afghanistan’ bereits in persischen Quellen des frühen 14. Jahrhunderts auf.

Trotz der Monita bietet das Werk an vielen Stellen sehr interessanten Lesestoff, insbesondere in den Teilen, die sich mit der antiken und vorislamischen Geschichte Afghanistans befassen. Einen substantiellen wissenschaftlichen Beitrag leistet es bei den Abschnitten zum Buddhismus. Schon aus diesem Grund ist das Buch ein Gewinn für Religionswissenschaftler und Historiker.

Anmerkungen:
1 Der von Rudyard Kipling geprägte Begriff des Großen Spiels bezeichnete im 19. Jahrhundert die kollidierenden Interessen der Kolonialmächte England und Russland in Zentralasien und die Bemühungen um die Absteckung der Interessensphären (Schetter, Kleine Geschichte, S. 55).
2 Golzio, Geschichte Afghanistans, S. 11.
3 Ebd. S. 47-48.
4 Ebd. S. 61-62, 113-14.
5 Siehe Ebd. S. 23, 32, 33, 41, 42, 50, 65, 67, 71, 75, 80, 81, 84, 85, 87, 88 etc.
6 Die Abdali Pashtunen bleiben als zweite wichtige Gruppierung gänzlich unerwähnt.

Redaktion
Veröffentlicht am
30.03.2012
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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