Nach der transnationalen Wende in der Kolonialgeschichtsschreibung, die die Beschäftigung mit den reflexiven Auswirkungen und Folgen des europäischen Kolonialismus/Imperialismus für die Kultur, Gesellschaft und Politik der Kolonialmächte selbst angeregt hat 1, dreht sich der Blick in jüngster Zeit wieder um. Eine zunehmende Zahl von Historikern und Historikerinnen interessiert sich für die Funktions- und Wirkungsmechanismen der von europäischen Siedlern in Nord- und Südamerika, Ozeanien und Nord- und Südafrika etablierten Systeme, sprich den Siedlerkolonialismus oder -imperialismus.2 Damit trägt die jüngste Historiographie auch dem Umstand Rechnung, dass zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert etwa 60 bis 65 Millionen Europäer nach Übersee auswanderten. Im Zuge dieser Wanderungsbewegung verbreiteten sich nicht nur europäische Infektionskrankheiten, auf deren quasi-genozidale Wirkung umwelthistorische Studien schon in den 1970er Jahren hingewiesen haben.3 Mit der Entstehung europäischer Siedlungskolonien auf praktisch allen Kontinenten der Welt globalisierten sich auch kapitalistische Wirtschaftsstrukturen. Siedlerökonomien waren Bestandteil eines interdependenten Systems lokaler (Frontier-)Ökonomien und globaler ökonomischer Austauschprozesse.
Im Hinblick auf die ökonomische Einbindung der indigenen Bevölkerung in die sich etablierenden siedlerkolonialistischen Wirtschaftsstrukturen unterscheiden sich Siedlerkolonien in den Amerikas und Ozeanien von jenen in Nord- und Südafrika. In den ersteren waren die kolonisierten Gebiete relativ dünn besiedelt und die indigene Bevölkerung reduzierte sich durch importierte europäische Infektionskrankheiten nach dem Erstkontakt und später durch Veränderungen des sozio-ökologischen Systems bis zum Einsetzen der europäischen Masseneinwanderung im 19. Jahrhundert noch einmal drastisch. Land war hier im Überfluss vorhanden, aber Arbeitskräfte waren Mangelware. Die Siedler waren auf den Import von Arbeit angewiesen. Nur in Ausnahmefällen, wie etwa in Western Australia, wurde die indigene Bevölkerung in die Siedlerökonomie integriert.4
Siedlerkolonien des afrikanischen Typs waren im Unterschied dazu durch eine relativ dichte indigene Besiedlung des kolonisierten Landes gekennzeichnet. Europäische Siedler stellten quantitativ eine Minderheit dar und waren auf die politisch-administrative und militärische Unterstützung der Mutterländer bei der Landnahme und dem Aufbau kolonialer Wirtschaftsstrukturen angewiesen. Die indigene Bevölkerung wurde in der Regel systematisch enteignet. Indigene Arbeitskräfte wurden zu niedrigsten Löhnen, häufig auch als Zwangsarbeiter, in das europäisch dominierte Wirtschaftssystem eingebunden. Die dadurch ausgelösten sozialen und kulturellen Verwerfungen innerhalb der indigenen Bevölkerung wirkten bis in die Phase der Dekolonisation nach und stellen eine wichtige Ursache für heute noch beobachtbare wirtschaftliche Unter- und Fehlentwicklungen dar.
Der vorliegende Sammelband ist der erste Versuch, die hier grob beschriebenen Prozesse auf der Grundlage eines gemeinsamen Forschungsprogramms in globalhistorisch-vergleichender Perspektive zu untersuchen. Die Herausgeber haben dazu 20 Wirtschafts-, Sozial- und Migrationshistoriker aus Australien, Großbritannien, Kanada, Neuseeland, der Schweiz, Schweden, Süd-Afrika und den Vereinigten Staaten zusammengebracht. In 19 Einzelbeiträgen beschäftigen sie sich mit den komplexen wirtschaftshistorischen Funktionsbedingungen und Wirkungsmechanismen von Siedlerkolonialismus. Zusammengenommen präsentieren die Einzelbeiträge einen in dieser Form bisher nicht vorliegenden Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung zum Thema.
Im ersten Teil des Buches, der fünf von 19 Beiträgen umfasst, stehen allgemeine Aspekte der Geschichte von Siedlerökonomien im Vordergrund. Behandelt wird etwa der Zusammenhang zwischen demographischer Entwicklung (Einwanderung) und wirtschaftlichem Wachstum oder zwischen Ungleichheitsstrukturen und ungleichen Entwicklungspfaden. Der zweite Teil des Buches ist der vergleichenden Analyse der ökonomischen Beziehungen zwischen Siedlern und indigener Bevölkerung, des Zusammenhangs von Arbeit und Migration, der Entwicklung von Finanzsystemen, Kapitalflüssen, Handelsstrukturen und Investitionsverhalten sowie der historisch beobachtbaren institutionellen Veränderungen gewidmet. Auf der Grundlage dieser Einzelstudien entwickelt Richard Sutch in der Einleitung eine vergleichende Typologie zentraler Merkmale und Funktionsbedingungen von Siedlerökonomien. Der Einleitung folgt ein dicht geschriebener Beitrag der anderen beiden Herausgeber, Christopher Lloyd und Jacob Metzer, der die Geschichte europäischer Siedlungskolonien in der Perspektive der „longue durée“ rekonstruiert und vergleichende Entwicklungslinien des europäischen Siedlerkolonialismus vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart aufzeigt.
Dieses Buch bietet eine Fülle von Informationen über langfristige Trends und historische Entwicklungen auf den wirtschaftlichen Meso- und Makroebenen, die im Rahmen dieser Besprechung nicht im Einzelnen gewürdigt werden können. Die Einzeluntersuchungen führen Fragestellungen und Quellenmaterial aus der Wirtschafts-, Sozial-, Migrations- und Umweltgeschichte europäischer Siedlerkolonien zusammen. Sie sind in der Regel interdisziplinär und vergleichend-typologisierend angelegt. Sie präsentieren umfangreiches, teilweise neu erarbeitetes statistisches Material zur Geschichte der untersuchten Gesellschaften. So findet man etwa vergleichende Statistiken zur demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung, zu Löhnen, Lohnniveaus und Arbeitszeiten, zu Auslandsinvestitionen, Kapitalflüssen oder zur wirtschaftlichen Bedeutung von Zwangsarbeit und Sklaverei. Hinweise auf die ökonomische Bedeutung von europäischen und indigenen Strafgefangenen für die Siedlerökonomien fehlen hingegen. Hier kann allerdings auf sehr gute jüngere Forschung australischer Historiker und Historikerinnen zurückgegriffen werden.5
Erfreulich ist, dass sich die Autoren immer auch darum bemühen, Zahlen und statistische Informationen zur Geschichte der mit dem europäischen Siedlerkolonialismus konfrontierten indigenen Gesellschaften zusammenzutragen. So erfahren wir z.B., dass sich die Maori Bevölkerung in Neuseeland in Folge der einsetzenden europäischen Besiedlung im Zeitraum 1800 bis 1857/58 von geschätzten 100.000 bis 150.000 zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf 57.000 reduzierte (S. 497).
Das übergreifende Ziel dieser globalhistorischen Gemeinschaftsleistung, einen allgemeinen Analyserahmen für die vergleichende Untersuchung von Siedlerökonomien zu etablieren und in den vergleichenden Fallstudien umzusetzen, ist im Wesentlichen gelungen. Probleme ergeben sich lediglich dort, wo das anglo-europäische Migrations- und Siedlungsparadigma verlassen wird. So zeigt der Beitrag von Carl Mosk zur japanischen Migration im pazifischen Raum sehr deutlich, dass eine Übertragung der aus der Analyse vornehmlich anglo-europäisch geprägter Siedlergesellschaften generierten strukturellen Muster auf nicht-europäische Kontexte an Grenzen stößt. Die in diesem Fall aufgezeigten soziokulturellen Eigenentwicklungen differieren zu stark von den europäischen Beispielen. Hier ist weitere vergleichend-typologisierende Forschung notwendig, die der Spezifik asiatisch-pazifischer Migration und Besiedlung Rechnung trägt.
Zusammengenommen stellen die in den einzelnen Beiträgen präsentierten Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Geschichte anglo-europäischer Siedlungskolonien eine wichtige, historisch-kontextualisierende Ergänzung zu der wachsenden Zahl von historischen Mikrostudien zu ausgewählten Segmenten oder lokalen Entwicklungsmustern dar.6 Der hier präsentierte globalhistorische Überblick richtet sich insbesondere an wirtschaftshistorische Experten. Einige der vergleichenden Analysen eigenen sich allerdings auch für die universitäre Lehre. Die Einleitung von Richard Sutch weist schließlich auf so viele noch unbeantwortete Fragen und systematische Probleme in der Analyse globaler Trends hin, dass sie eine wahre Fundgrube für interessante neue Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Globalgeschichte von Siedlerkolonialismus darstellt. Das Buch sollte nicht zuletzt deshalb in keiner historischen Bibliothek fehlen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Sebastian Conrad /Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004; Eva Bischoff, Kannibale-Werden. Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900, Bielefeld 2011.
2 Vgl. die Sammelrezension von Norbert Finzsch, Settler Colonialism, Settler Imperialism, Settler Communities, Settler Sovereignty: Neue Konzepte der Sozialgeschichtsschreibung, in: geschichte.transnational, 04.04.2014, < http://geschichte-transnational.clio-online.net/rezensionen/id=16325>
3 Vgl. hierzu die Arbeiten von Alfred W. Crosby, insbesondere „The Columbian Exchange: Biological and Cultural Consequences of 1492“ (Westport, CN 1972) und „Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900-1900” (Cambridge 1986).
4 Vgl. hierzu das Forschungsprojekt „Siedlerimperialismus in Nordamerika und Australien: Gouvernementale Ordnungsansätze, Kleinstereignisse und Mikropraktiken an der Frontier in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ geleitet von Norbert Finzsch und Ursula Lehmkuhl, http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/202228375.
5 Vgl. hierzu die preisgekrönte Arbeit von Krystin Harmann, Aboriginal Convicts: Australian, Khoisan, and Maori Exiles, Sydney 2012.
6 Vgl. hierzu beispielsweise die Dissertation von Hanno Scheerer “Settlers, Surveyors, Speculators, and the State: Struggles for Control over Land in Ohio’s Virginia Military District, 1776-1810” (Universität Trier 2014), die sich mit der Ökonomie der Landnahme und Landerschließung im alten amerikanischen Nordwesten am Beispiel des Virginia Military District beschäftigt, oder die Arbeiten von Carolyn Podruchny and Laura Peers zur Geschichte Pelzhandelsökonomie im Gebiet der heutigen kanadischen Prärieprovinzen: Carolyn Podruchny /Laura Peers (Hrsg.), Gathering Places: Aboriginal and Fur Trade Histories, Vancouver 2010).