Der „Sturm auf die Bastille“ am 14. Juli 1789 markiert nicht nur ein wegweisendes Ereignis in der französischen wie der neueren Geschichte im Allgemeinen, sondern ist auch im heutigen Frankreich das zentrale Datum im republikanischen Festkalender, an dem sich das Land seines Selbstverständnisses und seiner Werte versichert. Als Erinnerungsort fand der 1880 zum Nationalfeiertag erhobene 14. Juli selbstredend Eingang in die von Pierre Nora seit den 1980er-Jahren herausgegebenen „Lieux de Mémoire“.1 Nahezu ebenso selbstverständlich konzentriert sich der entsprechende Artikel genauso wie das Monumentalwerk im Ganzen vor allem auf die Erinnerungspolitik im französischen „Mutterland“.2 Auch wenn seit Noras Pionierbänden immer wieder eine koloniale und imperiale Weitung des boomenden Themenfeldes eingefordert und teilweise auch eingelöst worden ist, vermag Jan C. Jansen mit seiner Konstanzer Dissertation neue eigene Akzente zu setzen. Geht es ihm doch nicht um eine „Geschichte der Erinnerung an den Kolonialismus“, sondern um die „Erinnerung im Kolonialismus“ (S. 4, Hervorhebung im Original).
Konkret vermisst die Studie das Verhältnis von Symbolpolitik, öffentlichem Raum und französischem Kolonialismus in Algerien, und das in einer beeindruckenden Langzeitperspektive, die von der französischen Eroberung 1830 bis in die ausgehenden 1940er-Jahre, den Vorabend des Unabhängigkeitskrieges, reicht. Jenseits binärer Gegenüberstellungen – etwa von „Zentrum“ und „Peripherie“, Kolonisatoren und Kolonisierten, imperialer Durchdringung und kolonialer Opposition – stehen insbesondere unterschiedliche Transfer- und Aneignungsprozesse im Zentrum des Interesses. Ohne den gewaltsamen und hierarchischen Charakter der „kolonialen Situation“ aus dem Blick zu verlieren, gelingt es Jansen zum einen die facettenreichen erinnerungspolitischen Verbindungen zwischen der französischen Metropole und ihrer wichtigsten Kolonie aufzuzeigen sowie zum anderen – und vor allem – die Rolle der vielfältig gegliederten und von Dynamiken geprägten kolonialen Gesellschaft Algeriens differenziert einzufangen.
Erinnerungspolitik wird als soziale Praxis und symbolpolitischer Aushandlungsprozess begriffen und spielt sich in dieser Studie nicht zuletzt im lokalen Raum ab, wobei neben großen Städten auch kleinere Orte Teil der Untersuchung sind. Auf einer breiten Quellenbasis, die sich vor allem auf Verwaltungsakten unterschiedlicher administrativer Ebenen und Stellen sowie regionale und lokale Presseberichterstattung konzentriert, und die auf Recherchen in zahlreichen französischen und algerischen Archiven beruht, werden unterschiedliche Erinnerungsmedien thematisiert: Es geht um den Bau von Denkmälern und die Anbringung von Gedenktafeln, Gedenkrituale, Feiertage und Zeremonien sowie Straßen- und Ortsnamen.
Nach einer äußerst dichten, theoretisch versierten und umsichtig argumentierenden Einleitung folgen sechs empirische Tiefenbohrungen, welche unterschiedliche Handlungsfelder kolonialer Erinnerungspolitik abdecken. Die ersten beiden Kapitel umreißen die unterschiedlichen Formen der Erinnerung an die französische Eroberung Algeriens von den 1840er-Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, zum einen aus der Perspektive des Militärs (Kap. 1), zum anderen aus der Sicht der Siedler, welche mit der Etablierung des Zivilregimes 1870/71 zunehmend auch das erinnerungspolitische Regiment zu übernehmen versuchten (Kap. 2). Der Wechsel von der Militär- zur Zivilverwaltung ging mit einer nochmals verschärften Ausgrenzungs- und Unterwerfungspolitik gegenüber der indigenen Bevölkerung einher. Erst jetzt nahm Erinnerungspolitik als imperiale Herrschafts- und Integrationspraxis an Fahrt auf. Der militärischen Eroberung folgte nun die „symbolpolitische Besetzung des Landes“ (S. 461) durch die Siedler, was sich etwa an der schnell steigenden Zahl von Denkmalbauten sowie zahlreichen Um- oder Neubenennungen von Straßen und Orten bemerkbar machte. Auf die seit den 1880er-Jahren etablierte erinnerungspolitische Bühne trat nun aber auch eine wachsende Zahl unterschiedlicher Akteure.
Rund um die kolonialen Legitimationsvokabeln „Assimilieren“ und „Zivilisieren“ argumentieren die beiden folgenden Kapitel. Zunächst geht es um den bereits eingangs erwähnten 14. Juli als französisches Nationalfest (Kap. 3), womit das Verhältnis der französischen Siedlerschaft zu anderen Gruppen in den Mittelpunkt rückt: zu aus anderen europäischen Ländern, vornehmlich Spanien, stammenden Siedlern sowie zur indigenen Bevölkerung. Der 14. Juli geriet zu einer Art Lackmustest in Herrschafts- und Zugehörigkeitsfragen: Wer sollte sich in welcher Form an den Feierlichkeiten beteiligen? Und wie gestalteten sich die jeweiligen Aktivitäten, Abwesenheiten und Aneignungen konkret? Hier werden Anpassungsprozesse und Bedeutungsverschiebungen beim Transfer des republikanischen Festes nach Algerien exemplarisch sichtbar. Während sich teilweise bestimmte aus der Metropole stammende Konfliktlinien (etwa zwischen glühenden Republikanern und republikfeindlichem Klerus) widerspiegelten, wurden die Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag auch zur Bühne für den Austrag spezifisch inneralgerischer Konflikte. So galt die Anzahl der französischen Fahnen in mehrheitlich von europäischen Ausländern bewohnten Stadtvierteln als „Stimmungsbarometer“ (S. 187) für die Anerkennung der französischen Herrschaft. Zudem wurden verschiedene Formen der Aneignung des Festes durch unterschiedliche indigene Gruppen sichtbar, etwa durch die auf Assimilation und Gleichberechtigung drängenden Eliten der Jeunes Algériens oder auch durch antikoloniale Protestbewegungen, sei es unter nationalistischen oder kommunistischen Vorzeichen. Ein viertes Kapitel konzentriert sich auf die Idee der „Zivilisierungsmission“, ihre verschiedenen Träger sowie Interpretationen und Indienstnahmen.
Kapitel 5 und 6 nehmen unter den Stichworten „Einigen“ und „Rebellieren“ das Zeitalter der beiden Weltkriege in den Blick. Zunächst geht es (Kap. 5) um die öffentliche Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Trotz der gemeinsamen Kriegserfahrungen von Franzosen und Algeriern blieb die Erinnerung daran in den meisten Fällen geteilt. So zierten die in Algerien aufgestellten Weltkriegsdenkmäler in drei Viertel der untersuchten Fälle zwei Listen, die Franzosen und Algerier getrennt voneinander aufführten: „Die Mehrheit der Kommunen schreckte […] davor zurück, die ‚Gleichheit im Tod‘ soweit zu treiben, dass sie die grundlegende rassistische Gliederung des Kolonialsystems aufgehoben hätte.“ (S. 352) Schließlich (Kap. 6) rückt die Herausbildung einer nationalistischen Erinnerungspolitik auf algerischer Seite, vor allem seit den frühen 1940er-Jahren, ins Zentrum. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung um die unterschiedliche Deutung von ‘Abd al-Qadir (1808–1883). Während reformorientierte algerische Kräfte der Zwischenkriegszeit zunächst nicht nur den Widerstand des Emirs gegen die französische Eroberung, sondern auch dessen spätere Loyalität gegenüber Frankreich herausstellten und teilweise auch französische Stellen auf diese Deutung einstiegen, bildete der Zweite Weltkrieg einen Einschnitt. Weite Teile der algerischen Protestbewegung forderten nun die nationale Unabhängigkeit und boykottierten dementsprechend den durch das Freie Frankreich wieder eingeführten republikanischen Festkalender und knüpften an frühere Versuche an, die Erinnerungspolitik eines nicht-französischen Algerien zu etablieren. Unter diesen Vorzeichen konnte ‘Abd al-Qadir nun nur mehr „als Nationalist und direkter Vorläufer ihres politischen Kampfes für Unabhängigkeit“ (S. 457) erscheinen.
Der Schluss greift die in der Einleitung aufgeworfenen Hypothesen und Frageperspektiven auf, systematisiert die übergreifenden Ergebnisse und ordnet sie souverän in unterschiedliche Forschungskontexte imperialer Geschichte ein. Das Buch schließt mit einem Epilog, der chronologisch über den algerischen Unabhängigkeitskrieg hinausweist und die weitere Geschichte einiger beispielhafter Denkmäler skizziert. Während viele der in die Metropole transferierten Denkmäler zu einem Integrationsmoment der pieds noirs in die französische Gesellschaft wurden, wird auch deutlich, dass bei teilweise in Algerien verbliebenen Denkmälern Aneignungsprozesse über die algerische Unabhängigkeit hinausreichten und dass die verbliebenen kolonialen Denkmäler häufig auch in den inneralgerischen Konflikten der 1980er- und 1990er-Jahre noch eine Rolle spielten.
So interessant und informativ dieser Ausblick einerseits ist, so wirkt der Epilog dennoch wie ein zweiter Schluss, der durch seinen eher deskriptiven Charakter hinter die Stringenz des eigentlichen Schlusskapitels ein wenig zurückzufallen droht. Ein weiterer kleinerer Kritikpunkt ist stilistischer Natur: Die vielen in Anführungszeichen gesetzten Begriffe stören ein wenig den Lesefluss. Denn es wird manchmal nicht hinreichend klar, ob es sich um die Kennzeichnung von Zitaten oder uneigentliche Sprechweise handelt. Das vermag den Ertrag des Buches jedoch keinesfalls zu schmälern: Jan C. Jansen hat eine klug konzeptionierte und äußerst anregende Studie zur Vielfalt der Erinnerungspolitik im kolonialen Algerien vorgelegt, die differenziert argumentiert und einen bedeutsamen Beitrag zum Zusammenhang von Erinnerungspolitik und Kolonialismus darstellt.
Anmerkungen:
1 Christian Amalvi, Le 14-Juillet. Du Dies irae à Jour de fête, in: Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire, Bd. 1: La République, Paris 1984, S. 421–472.
2 Bekanntermaßen wird im Gesamtwerk nur ein einziger kolonialer Erinnerungsort, die Pariser Kolonialausstellung von 1931, berücksichtigt: Charles-Robert Ageron, L’Exposition coloniale de 1931. Mythe républicain ou mythe impérial?, in: ebd., S. 561–591.