Julius Schoeps schlägt trotz der spärlichen Quellenlage zu Paul Friedmann einen wirklichen Spannungsbogen zwischen dessen philanthropischen Neigungen und persönlichem Ehrgeiz und Eitelkeiten als "Königs von Midian". Im Zentrum der Bemühungen Friedmanns standen die russischen Juden, leider erfährt der Leser nicht, inwieweit Friedmann sich mit den orientalischen Juden, den Sepharden, beschäftigt hat. Auch bleibt noch zu untersuchen, ob Friedmanns Midian-Pläne Reisen europäischer Forscher mit jüdischer Herkunft wie z. B. Leo Hirsch, beeinflusst haben, der 1893 Hadramaut erforschte und bis Schibam und Tarim kam.
Im Vorwort (S. 8-11) fragt Schoeps provokativ: "Wie kommt es, ..., dass ein Mann, der bereits das 50. Lebensjahr vollendet hatte, der als Historiker des Tudor-Zeitalters sich einen Namen gemacht hatte und das bequeme Leben eines gutsituierten Rentiers hätte führen können, sich auf ein solch abenteuerliches Unterfangen eingelassen hat?" (S. 9) Nach den Pogromen im zari-stischen Russland zwischen 1882 und 1890 entschloss sich Friedmann 1890, das im Nord-westen des heutigen Saudi-Arabien gelegene Midian zu besuchen. Damals lag das Land im Einflussbereich der ägyptischen Khediven. Friedmann war entschlossen, dort eine Kolonie mit in Russland verfolgten Juden zu gründen, Jahre vor dem Erscheinen von Theodor Herzls "Der Judenstaat" (1896). Was hat Friedmann veranlasst, "mit Mitteln aus eigener Tasche eine Expedition auszurüsten, um mit aus Russland geflohenen Juden einen unwirtlichen Landstrich auf der arabischen Haslbinsel zu besiedeln?" (S. 9) Um diese Frage zu beantworten, schildert der Autor in dem Kapitel "Paul Friedmann und sein missglückter Versuch, auf der arabischen Halbinsel einen Judenstaat zu gründen", die Situation der Juden in Russland und die Schaffung jüdischer Hilfsorganisationen. Alle Bemühungen, die Lage der Juden in Osteuropa zu verbessern, liefen letzten Endes darauf hinaus, deren Auswanderung zu fördern. Zu einigen Förderern dieser Pläne wie Baron Maurice de Hirsch soll Friedmann auch Kontakt gehabt haben. Unter der Überschrift "Paul Friedmann: Eine biographische Annäherung" beschreibt Schoeps Geburt, Herkunft und Jugendjahre Paul Friedmanns, der nach einem Polizeibericht am 26. April 1840 in Königsberg (Ostpreußen) geboren worden ist. Doch schon bald zog die Familie nach Berlin. Seine Mutter Rosalia Friedmann war 1845 "Mitbegründerin des 'Weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege' in Königsberg... Wir können davon ausgehen, dass Paul Friedmann sich bei seinen Wohltätigkeitsaktivitäten am Vorbild seiner Mutter orientiert hat." (S. 18) Das Erbe der Mutter versetzte ihn in die Lage, "nicht nur philanthropisch tätig zu sein, sondern auch das Leben eines gutsituierten Rentiers und Privatgelehrten zu führen." (S. 18)
In dem Abschnitt "England: Der Kreis um Lord Acton" skizziert Schoeps Friedmanns Leben als Historiker in London, der rasch das Interesse einflussreicher Personen zu fesseln vermocht. Sehr enge Kontakte hatte Friedmann zu Lord Acton, dem aus Bayern stammenden John Emerich Edward Dalberg-Acton, einem berühmten Historiker, Freund und Berater des britischen Premierministers Gladstone. So überrascht es wenig, dass Friedmann ein Netzwerk von Bekanntschaften knüpfte, die ihm später bei seinem Midian-Projekt hilfreich waren. Friedmanns Quellenedition des venezianischen Botschafters in London, Giovanni Michiel, begründete seinen Ruf als Kenner des Tudor-Zeitalters. Noch heute gilt seine Biographie über Anne Boleyn, einer Frau König Heinrich VIII., als unübertroffen. Nachdem der Autor Friedmanns Arbeit im Archivo General de Simancas (Spanien), wo er dem Historiker Gustav Adolf Bergenroth zuarbeitete, geschildert hat, geht er auf eine andere geistige Quelle von Friedmanns Midian-Plan ein: "Dieses Projekt, ..., könnte unter Umständen die 'Blaupause' für Friedmanns späteres Midian-Projekt geliefert haben. Gemeint ist mit der 'Blaupause' das sagenumwobene Kolonisierungsprojekt Bergenroths in Kalifornien, das anscheinend ähnlich abenteuerliche Züge aufwies, wie Friedmanns späteres Midian-Projekt, ..." (S. 27) Desweiteren umreißt Schoeps allgemeine politische Vorstellungen Friedmanns und stellt frühe zionistische Autoren wie Leon Pinsker und Isaak Rülf vor, die die Selbstbefreiung der Juden und die Auswanderung nach Palästina propagierten. War es da so abwegig, Midian ins Spiel zu bringen, wohin Moses nach seiner Flucht aus Ägypten kam und mit seinem Schwiegervater Jethro die Schafe weidete? "Friedmann selbst gab an, bei seinem Entschluss für diese Reise insbesondere durch die Lektüre der Bücher von Georg Ebers (1837-1898) und Sir Richard Francis Burton (1821-1890) bestärkt worden zu sein." (S. 31 f.) Detailliert legt Schoeps die Bemühungen Friedmanns dar, sein Midian-Projekt mit einflussreichen Personen in Europa und Ägypten politisch abzusichern. Friedmann hatte für den Transport der russischen Juden nach Midian eine Dampfjacht in Schottland bauen lassen, die auf den programmatischen Namen "Israel" getauft wurde. Friedmann ging persönlich nach Krakau, um dort die ersten Siedler selbst anzuwerben. Zwei Dutzend von ihnen begaben sich 1891 unter der Führung von Paul Friedmann, des Barons von Seebach und Leutnant Thieles nach Ägypten. Die Kolonisten mussten einen Zweijahresvertrag unterschreiben, der sie auch zum Waffendienst gegen räuberische Beduinen verpflichtete. Saul Raphael Landau, ein Mitarbeiter Theodor Herzls, der Friedmann 1891 in Krakau interviewte, erinnerte sich Jahre später, "dass ihm bei der ersten Begegnung 'die Person des Herrn Friedmann und seines militärischen Adlatus' sofort 'großes Misstrauen' eingeflößt hätte." (S. 40) "Zunächst war daran gedacht, dass ein Teil der Expeditionsteilnehmer sich zu Fuß auf den Weg nach Scherm el-Moyeh1 an der Südspitze der Sinai-Halbinsel machen sollte. Friedmann versprach sich davon ein 'körperliches Training der Leute'. Von diesem Vorhaben musste man aber Abstand nehmen, denn es stellte sich heraus, dass die Beduinen sich anders verhielten, als man gedacht hatte." (S. 40) Die Beduinen verlangten exorbitante Preise für die Stellung der Kamele, Geld, was Friedmann nicht ausgeben wollte. Doch es fällt einem schwer, den philanthropischen Gedanken bei Paul Friedmann zu erkennen, wenn man sich in solche Einzelheiten seiner Pläne vertieft. "Das Lager, wo eine Kohlenstation ihren Platz haben sollte und eine Reparatur-Werkstätte geplant war, sollte dann der Ausgangspunkt für die Erkundungsreisen nach Midian bilden." (S. 42) Streit zwischen den Führungspersönlichkeiten, unkoscheres Essen, harte Arbeit und militärischer Drill führten schon nach wenigen Tagen zu Absetzbewegungen der Kolonisten. Die Führungspersönlichkeiten des Unternehmens waren alle Christen. Insubordinationen, so nannte es Friedmann, wurden nicht geduldet. "Der aus dem Lager hinauskomplimentierte Rosnowitsch sei ... mehrere Tage in der Gegend umhergeirrt, bis er von sinaitischen Mönchen sterbend irgendwo am Wegesrand gefunden wurde. Der Verdacht, er sei durch die Misshandlungen Friedmanns und seiner beiden Offiziere zu Tode gekommen, traf zwar nicht zu, aber der Herauswurf von Rosnowitsch und der sich mit ihm solidarisierenden Gefährten hatte zur Folge, dass das Missvergnügen unter den Expeditionsteilnehmern weiter zunahm." (S. 44)
In dem Abschnitt "Die Erkundungsreise: Ägypter und Türken in Dubbah" zeichnet Schoeps ein Bild von Friedmanns Besuch der Küste Midians in Duba (auch Dhiba), wo im Dezember 1891 zwei Dutzend osmanische Soldaten gelandet waren. Seinen Auftritt in Duba schildete Friedmann in einer Wiener Zeitung wie folgt: "Demnach war er bemüht, bei den anwesenden Honoratioren des Ortes Eindruck zu schinden, als er dort gekleidet in einer Phantasieuniform auftrat, angetan mit einem goldenen Gürtel und mit einem Revolver." (S. 45) Nicht dies, sondern die Tatsache, dass Friedmann in Kairo Gewehre kaufte und seine Dampfyacht gepanzert war, weckte das Misstrauen der osmanischen Behörden, "die sich nicht von dem Verdacht freimachen konnten, hinter Friedmann und seiner Expedition stecke etwas ganz anderes, nämlich Großmachtansprüche und der Versuch der europäischen Mächte, stärker in der Region Fuß zu fassen." (S. 50) So kann man es durchaus einen Treppenwitz der Geschichte nennen, dass das skurrile Midian-Projekt Friedmanns zu einer verstärkten Präsenz der Osmanen in Midian führte und mittelbar gar zum Bau der Hedschasbahn Anlass gab. Entscheidend für Friedmanns Scheitern war der Widerstand der osmanischen Behörden, die die Oberherrschaft über das Gebiet beanspruchten. Hier auf der Südseite des Golfs von Aqaba wären die jüdischen Siedler nur Dutzende Kilometer von der Hadsch-Route nach Mekka und Medina entfernt; Medina selbst lag ganze vierhundert Kilometer weg.
Friedmann hatte 170.000 Reichsmark verloren, sein Versuch, die ägyptische Regie-rung auf Schadenersatz zu verklagen, hatte natürlich keine Chance. In einer Nachgeschichte unternimmt Schoeps den Versuch, Licht in den weiteren Lebensweg Paul Friedmanns zu bringen und zieht folgendes Fazit: "Das Friedmannsche Unterfangen schei-terte kläglich, lässt aber bei genauerem Hinsehen erkennen, dass hinter dem Midian-Projekt durchaus ehrenwerte Motive gesteckt haben." (S. 68)
In dem Kapitel "Briefe rund um die Midian-Expedition" (S. 76-177) kommen Briefe von Expeditionsteilnehmern, Briefpartnern, Beamten, Freunden und zufälligen Bekannten wie z. B. dem Forschungsreisenden Alfred Kaiser zum Abdruck. Die Briefe runden in ihrem persönlich gehaltenen Duktus die Beschreibung des Midian-Planes ab. Sie legen die Schwachpunkte von Friedmanns Kolonisationsvorhaben offen, eine schwache und zerstrittene Führung, zu geringes Einfühlungsvermögen, eine ungenügende Vorbereitung des Vorhabens. Das Buch enthält auch den Nachdruck von Friedmanns 1891 in Berlin erschienenem Büchlein "Das Land Midian" (S. 183-195), in dem Friedmann die natürlichen Gegebenheiten, Orte, Anzahl der Handwerker in den einzelnen Orten, die Beduinen und Ausfuhrartikel Midians auflistet. In dem Beitrag "Paul Friedmann , die Deutschen und ihr Orientbild" (200-205) konstatiert Schoeps, dass das Orientbild Friedmanns "demjenigen der meisten Deutschen um 1890 entsprochen haben (dürfte)." (S. 200) Im Anhang sind die editorischen Notizen, Kurzbiographien der Briefe- und Berichteverfasser und deren Empfänger, ein Glossar, Personen- und Ortsregister und der Bildnachweis enthalten. Das wirklich gelungene, gut illustrierte Buch von Julius Schoeps stellt eines der abenteuerlichsten Siedlungsprojekte vor, dessen klägliches Scheitern aber den späteren Pionieren der zionistischen Besiedlung Palästinas wichtige Fingerzeige gab. Zu monieren gibt es nur einige orthographische und grammatische Fehler, die in einer wünschenswerten zweiten Auflage behoben werden sollten.
Anmerkung:
1 Scharm al-Maiya unmittelbar östlich von Scharm al-Schaich.