F. Eitel: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz

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Title
Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz. Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert


Author(s)
Eitel, Florian
Series
Histoire 113
Extent
630 S.
Price
€ 69,99
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Fabian Lemmes, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum / Collegium de Lyon, Université de Lyon

Anarchismusforschung hat Konjunktur. Zwar gilt dies bisher vor allem für den englisch- und romanischsprachigen Raum, aber auch in der deutschsprachigen Forschung hat das Interesse zuletzt merklich zugenommen. Über die anarchistische Bewegung in der Schweiz im späten 19. Jahrhundert sind in den letzten Jahren gleich zwei Dissertationsschriften erschienen.1 Das besondere Interesse an und in der Schweiz mag nicht verwundern, spielte das Land doch für die Entstehungsgeschichte der anarchistischen Bewegung eine wesentliche Rolle. Hier kamen nicht nur zahlreiche Revolutionäre aus ganz Europa im Exil zusammen. Bei den Uhrmachern im Schweizer Jura fand der Anarchismus auch eine frühe lokale Verwurzelung. Dort, im Städtchen Saint-Imier, versammelten sich nach ihrem Ausschluss aus der Internationalen Arbeiterassoziation (der sog. Ersten Internationale) 1872 die Anhänger Michail Bakunins und James Guillaumes zum ersten Kongress der Antiautoritären Internationale. Die von 1871 bis 1883 bestehende Juraföderation (Fédération jurassienne) wurde für einige Jahre zum Gravitationszentrum der internationalen anarchistischen Bewegung.

Dieser Verbindung lokaler und globaler Prozesse geht Florian Eitel in seiner 2016 an der Universität Fribourg abgeschlossenen Dissertation auf den Grund, die nun als Buch vorliegt. Es befasst sich „mit den Anfängen der anarchistischen Bewegung in den 1860er- und 1870er-Jahren im Tal von Saint-Imier“ (S. 11), dem Zentrum der maßgeblich von Uhrenarbeitern getragenen frühanarchistischen Mobilisierung in der Schweiz. Eitels Ziel ist es, die Genese des Anarchismus als politische und soziale Bewegung zu erklären. Seine Kernthese: Der Anarchismus hätte als soziale und politische Bewegung ohne die „moderne Globalisierung“ nicht entstehen können. Entsprechend geht es in dem Buch darum, den Zusammenhang von Anarchismus und Globalisierung herauszuarbeiten.

Dissertationsschriften werden oft gescholten für langatmige Präliminarien zu Begriffen, Theorien und Methoden. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Im vorliegenden Fall ist die fast 50-seitige Einleitung jedenfalls absolut gewinnbringend, nicht nur wegen des dargebotenen systematischen Forschungsüberblicks. Sie sei allen empfohlen, die über Anarchismus forschen und sich grundlegende Fragen zur Konzeptionalisierung ihres Gegenstands stellen. Was ist Anarchismus? War er eine soziale Bewegung, kann er mit den Instrumenten der Social-Movement-Forschung sinnvoll analysiert werden? (Eitel zufolge ja – dem ist zuzustimmen.) Gebraucht man Anarchismus als Quellenbegriff oder als analytischen Begriff? Eitel entscheidet sich für letzteres, weil diejenigen, die wir retrospektiv mit gutem Grund als Anarchist/innen bezeichnen, diesen Begriff in der hier untersuchten Frühphase der Bewegung meist noch nicht zur Selbstbeschreibung verwandten. Für seine Anarchismusdefinition führt er Föderalismus und Kollektivismus als Kernelemente eines „frühanarchistische[n] Konsenses“ an (S. 18).

Die Studie gliedert sich thematisch in drei Teile: Der erste untersucht die technischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen im Tal von Saint-Imier „in der Globalisierung“, die für die Uhrenarbeiter/innen eine „soziale Mobilität abwärts“ bedeuteten. Teil II widmet sich der Entstehung der anarchistischen Bewegung, wobei der Kongress von Saint-Imier 1872 als „Verdichtungsmoment und Knotenpunkt“ dient. Im Detail untersucht werden Akteure und Akteursgruppen (lokale Uhrmacher, „altgediente Revolutionäre“, Kommunarden), Programme und Kommunikationsnetzwerke. Der dritte Teil analysiert „Deutungsmuster und Gemeinschaftsbildung der anarchistischen Bewegung“. Hier geht es um Globalitäts- und Klassenbewusstsein, „kulturelle Praktiken“ (Geselligkeit, Schaffung von Gegenöffentlichkeiten, symbolische und materielle Solidarität), Zukunftsvorstellungen und Revolutionserwartung.

Die Untersuchung steht auf breiter Quellen- und Literaturbasis. Herangezogen wurden ungedruckte Text- und Bildquellen aus einer Vielzahl staatlicher und privater Archive und Bibliotheken, darunter bewegungsinternes ebenso wie behördliches Material, außerdem umfangreich die anarchistische Publizistik und die allgemeine periodische Presse. Besonders anzuerkennen ist Eitels sprachliche Leistung, denn die relevanten Quellen liegen in französischer, italienischer und spanischer Sprache vor. Zudem wurde Forschungsliteratur in fünf Sprachen berücksichtigt. Allein diese empirische Breite und multilinguale Literaturbasis heben die Arbeit über bisherige Untersuchungen zu den anarchistischen Uhrmachern und zur Juraföderation hinaus.

Auch kontextualisiert Eitel im Vergleich zur existierenden Literatur sowohl lokal als auch transnational wesentlich stärker. Dabei ist „Globalisierung“ für ihn nicht einfach Kontext, sondern wird als analytisches Konzept genutzt. Sein methodischer Zugriff lässt sich darüber hinaus durch die Schlagworte Mikrogeschichte, Netzwerkanalyse, Translokalität (denn Globalisierung verband das Tal von Saint-Imier und seine Anarchisten nicht mit der ganzen Welt, sondern mit konkreten Lokalitäten), erweiterter Kulturbegriff sowie das Konzept der „imagined communities“ charakterisieren. Letzteres entlehnt der Verfasser Benedict Andersons Nationalismustheorie, um es auf die anarchistische Bewegung anzuwenden: Anarchist/innen imaginierten sich als Teil einer globalen Gemeinschaft, obwohl die meisten ihr lokales Umfeld selbst nie verließen. Entscheidend für die Entstehung des Anarchismus war nach Eitel das Zusammenspiel dieses globalen Bewusstseins mit lokalen Praktiken. So habe sich eine spezifische „anarchistische Kultur“ herausgebildet, die durch Prozesse der Inklusion und Exklusion eine kollektive Identität und einen inneren Zusammenhalt stiftete und zugleich Distinktheit zu anderen Gruppen herstellte (S. 43–45). In puncto gemeinschaftsbildende soziale Praktiken und anarchistische Kultur kommt Eitel zu ähnlichen Ergebnissen wie Gaetano Manfredonia und Vivien Bouhey (dessen Dissertation er erstaunlicherweise nicht rezipiert2) für Frankreich.

Welche Erkenntnisse bietet die Arbeit ansonsten? Was die Akteure betrifft, betont Eitel neben der bekanntermaßen wichtigen Rolle von Ausländer/innen und transnationalen Kontakten die Bedeutung lokaler Netzwerke. Die Anarchisten des Jura seien der „demokratisch-republikanischen Tradition des (linken) Liberalismus“ entsprungen, zu dem bis Ende der 1870er eine Verbindung bestanden habe. Aus diesem Grund gelang auch ihre (Wieder-)Eingliederung in die „freisinnige Familie“ und in die gemäßigten Gewerkschaften, als die Mehrzahl von ihnen sich in den 1880er Jahren vom Anarchismus abwandte.

Eher ernüchternd sind Eitels Befunde zur Beteiligung von Frauen. Obgleich diese unter den Uhrenarbeiter/innen des Tals zunehmend zahlreich vertreten waren, lassen sich in den Quellen der lokalen anarchistischen Sektionen keine Frauen nachweisen; auch in der gesamten Jura-Förderation waren sie kaum mehr als eine Handvoll (S. 455). Der programmatisch formulierte Anspruch der Anarchisten, die Frauen in die Arbeiterbewegung zu integrieren, blieb also weitgehend uneingelöst. Immerhin nahm die anarchistische Krankenkasse – im Gegensatz zur bürgerlichen – auch unverheiratete Frauen auf und gewährte zudem allen weiblichen Mitgliedern Stimmrecht in der Generalversammlung (S. 434f.).

Ferner hebt Eitel die programmatische Vielfalt der entstehenden anarchistischen Bewegung hervor, in der die „grundlegenden Prinzipien und Strategien der späteren anarchistischen Ausprägungen“ bereits angelegt gewesen seien (S. 559). Die Resolutionen des Kongresses von Saint-Imier betrachtet er als wegweisende „Charta des Anarchismus“, das Tal von Saint-Imier als „eines der frühesten anarchistischen Labors, da man dort mit einer anarchistischen Gesellschaftsorganisation inklusive Selbstverwaltung sowie mit einem Anarchosyndikalismus avant la lettre experimentierte“ (S. 461).

Die eingehend beschriebenen gemeinschaftsbildenden Praktiken interpretiert Eitel als untrennbar mit einer veränderten Raum- und Zeitwahrnehmung verbunden. Sie waren Folge der Globalisierung und zugleich weiterer Globalisierungsfaktor, insofern sie das globale Bewusstsein und die transnationale Solidarität stärkten. Die (im Sinne Andersons) vorgestellte Gemeinschaft der Anarchist/innen entwickelte sich im Tal von Saint-Imier in Abgrenzung zur vorgestellten Gemeinschaft der Freisinnigen. Zwar hatten diese Gemeinschaften völlig unterschiedliche räumliche Bezugspunkte – transnational und global im Fall der Anarchist/innen, national und regional (das „vallon horloger“ als Schicksalsgemeinschaft) im Fall der Freisinnigen. Doch sieht Eitel beide gleichermaßen als „Kinder der modernen Globalisierung“. Einmal mehr zeigt sich hier, dass Globalisierung keineswegs homogenisierend wirken muss, sondern im Gegenteil lokal zu einer kulturellen Fragmentierung führen kann.

Soziale Beschleunigung (im Sinne Hartmut Rosas) und veränderte Zeitwahrnehmung führten bei den jurassischen Anarchisten dem Autor zufolge zu einer „eschatologischen Revolutionserwartung“. Entsprechend schlägt Eitel weiterführend vor, anarchistische Bewegungen auch „anhand funktionaler Religionskonzepte“ zu analysieren (S. 564). Diese Perspektive ließe sich kontrovers diskutieren. Sie hat für manche Fragen Erkenntnispotential, darf allerdings nicht zu einem Rückfall in das klischeehafte Bild vom Anarchismus als archaischem Millenarismus führen, wie es vor Jahrzehnten Eric Hobsbawm gezeichnet hat.3

Schließlich parallelisiert Eitel die Entstehung des Anarchismus im 19. Jahrhundert mit der Alter-Globalisierungsbewegung des 21. Jahrhunderts: Gemein sei ihnen die Verbindung von globalem Bewusstsein und lokalem Handlungsfokus, welche sowohl die anarchistische „Embryotheorie“ (der zufolge die angestrebte anarchistische Ordnung schon in vorrevolutionärer Zeit lokal angelegt gewesen sein sollte) als auch das Motto „Think global, act local“ gegenwärtiger Alterglobalisten auszeichne (S. 562). Diese Analogie hat einiges für sich und findet sich in zahlreichen neueren Studien zum Anarchismus.4 Wie weit sie trägt, wäre indes noch systematisch zu untersuchen. In jedem Fall sieht Eitel die anarchistischen Uhrmacher im Tal von Saint-Imier, so die pointierte Schlussformel, „nicht als Gegner von Wandel und Globalisierung […], sondern als alternative Globalisierer“ (S. 567).

„Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz“ ist eine lesenswerte, klug konzipierte und soziologisch gut informierte historische Studie auf breiter Quellen- und Literaturbasis und auf der Höhe aktueller Methodendiskussionen. Florian Eitel leistet damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Anarchismus, sondern auch zur Geschichte der Globalisierung. Überdies ist das Buch mit faksimilierten Dokumenten, Abbildungen, Register, Zeittafel und Glossar auch optisch ansprechend und benutzerfreundlich gestaltet.

Anmerkungen:
1 Neben dem hier besprochenen Werk: Nino Kühnis, Anarchisten! Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen. Zur kollektiven Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz, 1885–1914 (Histoire 76), Bielefeld 2015; vgl. auch das an der Universität Luzern durchgeführte SNF-Projekt „Enlightened Anarchism“ und den daraus hervorgegangenen Band: Klaus Mathis / Luca Langensand (Hrsg.), Anarchie als herrschaftslose Ordnung? (Recht und Philosophie 5), Berlin 2019.
2 Vivien Bouhey, Les anarchistes contre la République 1880 à 1914. Contribution à l'histoire des réseaux sous la Troisième République, Rennes 2008.
3 Vgl. etwa Eric J. Hobsbawm, Reflections on Anarchism, in: ders., Revolutionaries. Contemporary Essays, London 1973, S. 97–108 [zuerst 1969].
4 Ein Beispiel für viele: Constance Bantman, The French Anarchists in London, 1880–1914. Exile and Transnationalism in the First Globalisation, Liverpool 2013.

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Published on
04.04.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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