L. Schröder: Der Rhein-(Maas-)Schelde-Kanal als geplante Infrastrukturzelle

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Title
Der Rhein-(Maas-)Schelde-Kanal als geplante Infrastrukturzelle von 1946 bis 1986. Eine Studie zur Infrastruktur- und Netzwerk-Geschichte


Author(s)
Schröder, Lina
Series
© Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, Band 28
Published
Münster 2017: Waxmann Verlag
Extent
380 S.
Price
€ 39,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Werner Scheltjens, Universität Leipzig

Die vorliegende Monografie, die als Dissertationsprojekt an der Universität Essen entstanden ist, untersucht die Planungsdiskussionen über den Rhein-(Maas-)Schelde-Kanal zwischen 1946 und 1986. Dieses Großprojekt gehört zu den sogenannten „Weißen Elefanten“, zu den gescheiterten Großunternehmungen also, woran viel Zeit und Energie verwendet wurde, ohne letztendlich realisiert zu werden. Im Vordergrund der Darstellung stehen die Diskussionen zwischen den auf städtischer, regionaler, nationaler und europäischer Ebene an diesem Infrastrukturprojekt beteiligten Parteien sowie die jeweiligen Darlegungen unterschiedlicher wirtschafspolitischer Positionen. Um der Komplexität der jahrzehntelangen Verhandlungen und Auseinandersetzungen zwischen diesen Parteien gerecht zu werden, hat die Verfasserin ein „Zellenmodell“ entworfen, „welches Infrastruktur generell und allgemein durch eine klare Begrifflichkeit hinsichtlich all ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit erfasst und beschreibt und in der Folge ihre historische Analyse und Interpretation zulässt.“ (S. 12).

In einer sehr ausführlichen, mehr als 70 Seiten umfassenden, theoretischen Einleitung wird das „Zellenmodell“ in der Infrastruktur- und Netzwerkgeschichte eingeordnet und werden die wesentlichen Komponenten des Modells erläutert. Viel Aufmerksamkeit bekommen dabei auch unterschiedliche Definitionen und historisch bedingte Auslegungen der Begriffe Infrastruktur und Netzwerk in den Wirtschafts-, Sozial- und Geschichtswissenschaften, sowie verschiedene Denkansätze und Forschungsinteressen bezüglich der Infrastruktur – von etwa Adam Smith bis Dirk van Laak. Erst nach dieser eher dürftig strukturierten und an manchen Stellen verwirrenden Darstellung nähert sich die Verfasserin dem eigentlichen Thema der Monografie: die Frage nach dem Scheitern des Rhein-Maas-Schelde-Kanals. Eingeführt werden das Thema und die gewählte Analysemethode mit Ausführungen über die Rolle von Macht und Herrschaft in der Infrastrukturgeschichte, einerseits, und einer Liste von insgesamt acht Forderungen an die Infrastrukturgeschichte, andererseits. Diese Forderungen verdeutlichen nicht nur die analytische Position dem Untersuchungsgegenstand gegenüber, sie zeigen zudem auch den umfassenden Charakter der gewählten Herangehensweise. Denn die Autorin begnügt sich keinesfalls mit einer gründlichen Fallstudie zu einer komplexen, transnationalen (wirtschafts-)politischen Auseinandersetzung in den Gründungsjahrzehnten der Europäischen Union, vielmehr möchte sie einen Beitrag zur Weiterentwicklung der noch jungen, gerade in Deutschland Aufgang machenden Disziplin der Infrastrukturgeschichte liefern und ein neues Untersuchungsmodell inklusive einer ersten Anwendung auf die „Geschichte des Scheiterns“ des Rhein-(Maas-)Schelde-Kanals bereitstellen.

Schröders neue Untersuchungsmodell für die Infrastrukturgeschichte heißt Zellenmodell und wird als ein Zellengefüge verstanden, worin jede Zelle über eine eigene „Hard- und Software“ verfügt. Die „Hardware“ umfasst alle materiell-technischen Bestandteile der Infrastrukturzelle, im Falle eines Kanals etwa das Kanalbett und das Wasser, während die „Software“ den institutionellen Teil der Zelle abbildet, die Gesetze, Normen, Nutzungsbedingungen, Gebührenordnungen usw., welche die „Hardware“ erst funktionsfähig machen. Zu den Begrifflichkeiten gehören darüber hinaus die vier Protagonisten des Stifters, Betreibers, Nutzers und Beobachters der Infrastrukturzelle. Das Wirken dieser Protagonisten kommt auf drei Ebenen des Raumes (Mikro, Meso, Makro) zum Tragen. Unter Berücksichtigung des Spannungsfeldes zwischen Herrschaft, Macht und Infrastruktur wird das Zellenmodell schließlich noch erheblich erweitert und mit einer Vielzahl an überaus textlastigen visuellen Darstellungen versehen. Die strukturalistische Zerlegung von Infrastrukturzellen und die Klärung der Unterschiede zwischen Infrastrukturzellen und Wirtschaftsunternehmen bilden weitere Schwerpunkte in der Theoriebildung und führen schließlich zur Formulierung von zehn (!) Thesen, „die der zukünftigen Forschung als Ausgang zur weiteren Diskussion dienen mögen“ (S. 80) sowie eine „Arbeitsanleitung“ für das systematische Anlegen einer infrastruktur-historischen Untersuchung bieten sollen.

Natürlich sind solche „große Ziele“ an sich nicht verkehrt. Sie zeigen die besondere Begeisterung und Hingabe der Autorin bei der Bearbeitung einer großen Quellenvielfalt bestehend aus Materialien aus 15 Archiven in Belgien, den Niederlanden und Deutschland sowie Artikeln aus mehr als 80 Zeitungen. Sie zeigen auch, dass sich die Autorin ausführlich über die geschichtswissenschaftliche Relevanz ihrer Untersuchung Gedanken gemacht hat. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die geleistete Arbeit über die ganze Linie überzeugt.

Erstens sind insbesondere die theoretischen Ausführungen (Kapitel 1) und deren Anwendung auf die Mikro- und Meso-Ebenen der Diskussion über die Realisierung des Rhein-(Maas-)Schelde-Kanals (Kapitel 4) durch eine überaus komplexe, redundante und undurchsichtige Struktur gekennzeichnet. Auch die Übersichtstabellen und Grafiken zu den einzelnen Aspekten der Theoriebildung sind oft sehr komplex und textlastig und enthalten viele, manchmal schwer verständliche Abkürzungen. In den vielen nicht oder unterschiedlich (mal mit römischen, mal mit arabischen Zahlen) nummerierten Textabschnitten verliert man als Leser schnell den Überblick. Dies ist nicht nur dem geschuldet, dass das Inhaltsverzeichnis sehr unübersichtlich gestaltet wurde und kaum Orientierung bietet. Wiederholt gewinnt man den Eindruck, dass Themen durcheinander behandelt werden und die vielen Zwischentitel die Ladung nicht oder nur teilweise decken. So trifft man zum Beispiel auf eine knappe Darstellung der Struktur der gesamten Arbeit in einem nicht-nummerierten Abschnitt „Mögliche Quellengattungen“ (S. 111). Etwas weiter im Text stößt man dann auf den Abschnitt „Verschiedene Quellengattungen“ (ebenfalls nicht nummeriert), in welchem die Tagespresse als Quelle für die Untersuchung der Auseinandersetzungen zwischen lokalen Interessengruppen in der Infrastrukturzelle eingeführt wird. Insgesamt hat man als Leser oft den Eindruck, dass die Autorin versucht hat, ihre gesamte Arbeitsleistung in der Publikation unterzubringen. Ein kritisches Editing hätte sicherlich zu einer schlichteren und logischeren Struktur geführt und hätte damit auch die Lesbarkeit und Zugänglichkeit der Monografie deutlich erhöhen können.

Zweitens ist es schade, dass die Leitfrage der Untersuchung – wahrscheinlich um der geleisteten, recht beeindruckenden Archivarbeit gerecht zu werden – sehr allgemein gehalten wurde. Denn dadurch bekommen die bei weitem interessantesten Teile der Untersuchung im Vergleich zu den theoretischen Überlegungen zu wenig Aufmerksamkeit. Zum einen geht es hier um die lange Vorgeschichte der Kanalverbindung zwischen Schelde, Maas und Rhein (Kapitel 2); zum anderen um den Konkurrenzstreit mit dem 1975 fertiggestellten Schelde-Rhein-Kanal (Kapitel 6). Gerade in diesen Kapiteln führen die umfassende Betrachtungsweise der Autorin und die Anwendung des Zellenmodells zu interessanten Vergleichen und neuen Ergebnissen.

So betrachtet liegt eine Monografie vor, die dem Leser an manchen Stellen mit Informationen zu überfluten scheint, an anderen Stellen jedoch lesenswert ist. Dank der Originalität des transnationalen Untersuchungsgegenstandes, der Vielfalt der benutzten Quellen und den häufigen im Text erhaltenen Anregungen für weitere Forschung liefert die Autorin mit dieser Monografie einen relevanten Beitrag an die faszinierende Disziplin der Infrastrukturgeschichte.

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Published on
29.09.2019
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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