Th. Bauer: Warum es kein islamisches Mittelalter gab

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Title
Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient


Author(s)
Bauer, Thomas
Published
München 2018: C.H. Beck Verlag
Extent
175 S.
Price
€ 22,95
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Hans-Christian Lehner, Internationales Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung, Erlangen

Christoph Cellarius gilt als derjenige Gelehrte, der dem Mittelalterbegriff in der Geschichtswissenschaft zum Durchbruch verhalf. Der protestantische Hochschullehrer ersetzte die bis dahin sehr gebräuchliche Erzählung von Geschichte als Abfolge der vier Weltreiche (nach Daniel) durch die Einteilung der Geschichte in die „Historia antiqua“, „Historia medii aevi“ und „Historia nova“. Dabei lässt Cellarius die Zeitspanne des Mittelalters in der 1688 erstmals erschienenen Abhandlung über die „Historia medii aevi“ von der Herrschaft Konstantins des Großen bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen im Jahre 1453 reichen. Die Epochengliederung der Geschichte etablierte sich rasch. Auch wenn wiederholt Modifikationsideen vorgeschlagen wurden – insbesondere in Bezug auf die „Epochengrenzen“ – sowie auf Gefahren des Mittelalterbegriffs hingewiesen wurde, so wurde die Konstruktion als solche lange Zeit nicht infrage gestellt. Nun argumentiert der Islamwissenschaftler Thomas Bauer einigermaßen radikal gegen diese Geschichtsordnung und fordert gar deren Abschaffung. Der Ausgangspunkt ist für Bauer dabei die islamische Welt und so bringt der Autor bereits im ersten Absatz seinen „Ärger über die weit verbreitete Nachlässigkeit“, mit der über ein „islamisches Mittelalter“ gesprochen werde, zum Ausdruck (S. 8). Im ersten Kapitel werden sechs Gründe gegen diese Begrifflichkeit, die nach Meinung des Autors allzu kritiklos verwendet wird, ins Feld geführt: Er sei unpräzise, verleite zu Fehlschlüssen und beruhe dabei auf der „unhaltbaren Prämisse“, dass es sich um eine einzige Epoche handle – nur der Verzicht auf den Begriff könne dieses falsche Bild überwinden (S. 15). Außerdem wird die negative Konnotation des Mittelalterbegriffs als Argument herangezogen. Bereits bei Cellarius (und vor ihm natürlich bei Petrarca) wurde deutlich, dass die Antike und ihre Wiederentdeckung in der Renaissance sehr viel stärker geschätzt werden als die Zeit dazwischen – auch wenn Cellarius sich zum Beispiel über die Scholastiker sehr positiv äußert. Dennoch kann natürlich nicht bestritten werden, dass mit dem Ausdruck Mittelalter beziehungsweise mittelalterlich abseits des akademischen Milieus häufig Rückständigkeit und Anti-Fortschritt ausgedrückt wird, und der Autor weist mit ausgewählten Beispielen darauf hin, dass dies für den Bereich des Islam umso mehr zutrifft. Einen weiteren Kritikpunkt überschreibt der Autor mit der „Exotisierung“ (der islamischen Welt), welche mit der Verwendung des Mittelalterbegriffs verbunden sei, weil dieser das Fremde je nach Belieben entweder zu usurpieren oder zu distanzieren versuche (S. 22). Das führt zu dem berechtigten Hinweis darauf, dass der Begriff zutiefst eurozentristisch sei. Nach Bauer geht jedoch oftmals mit einer Zuschreibung des Mittelalters auf andere Kulturen eine „Verweigerung von Neuzeit und Moderne einher“ (S. 24). Man sollte hier jedoch einschränken, dass in der historischen Mediävistik meist doch sehr sensibel mit dem Begriff umgegangen wird. Thomas Bauer spricht dem Begriff „Mittelalter“ dennoch die sachliche Grundlage ab. Dieser Logik zufolge ist der Begriff „islamisches Mittelalter“ natürlich erst recht abzulehnen. Dies wird im zweiten Kapitel anhand von 26 lebensweltlichen Beispielen (beziehungsweise „Kontraevidenzen“, S. 79) nachgeprüft. Sie machen die Unterschiede zwischen Orient und Okzident „am Übergang von der Antike zum Mittelalter“ (S. 33) deutlich. Bei den für den Orient kenntnisreich vorgetragenen Beispielen (etwa zur Produktion von Glas oder zu Tieren und Pflanzen als Objekte ästhetischen Genusses) wird dabei vielfach auf eine „ungebrochene Kontinuität im Nahen Osten“ (S. 43, 73, u. a.) hingewiesen. Für den europäischen Bereich werden verschiedene Forscher zitiert. In der Mehrzahl der Fälle würde man natürlich nicht widersprechen (zumal die Beispiele klug gewählt sind). Nur in Einzelfällen, wie etwa beim Punkt „Quellen“ möchte man entgegenhalten, dass es auch im Weströmischen Reich der Spätantike eine reiche Geschichtsschreibung gab. Insgesamt jedoch kann der Autor am Ende überzeugend argumentieren, dass die Antike im Osten „nie wirklich untergegangen“ sei und man daher nicht von einem „Mittelalter“ sprechen könne (S. 77).

Im dritten Kapitel fügt Bauer seiner Ablehnung des Mittelalterbegriffs noch ein weiteres Argument hinzu: Dessen Verwendung verstelle „den Blick auf eine angemessenere Periodisierung“ (S. 80). Periodisierungen dürften nicht aufgrund „weniger, oft willkürlich ausgewählter Merkmale“ (S. 90) vorgenommen werden. Stattdessen müsse ein Bündel von Merkmalen gefunden werden, um von einer eigenen Periode beziehungsweise Epoche sprechen zu können (S. 99). Damit ist die Dekonstruktion des Mittelalterbegriffs abgeschlossen und das notwendige Fundament gelegt, auf welchem der Autor im vierten und fünften Kapitel einen eigenen Vorschlag einer Periodisierung aufbaut. Die Spätantike wird dabei im Anschluss an andere Forschungsarbeiten (unter anderem aus dem Bereich der Sprachwissenschaften) als formative Periode gewertet, in der sich gewaltige Unterschiede zwischen Ost und West entwickelten, bis am Ende ausdifferenzierte Kulturen entstanden waren. Vielleicht hätte man dabei noch auf den Einfluss der Religionen innerhalb dieses Prozesses eingehen können. Das Ende dieser Transformation sieht der Autor um die Mitte des 11. Jahrhunderts gekommen und weiß dabei auch zahlreiche Forschungsergebnisse hinter sich (S. 117). Die Meinung, dass sich um 1100 ein größerer Umbruch vollzogen hat, ist allerdings zumindest in der deutschen Mediävistik bereits seit langem etabliert. Erst ab diesem Zeitpunkt sei ein Vergleich einzelner Phänomene wieder interessant (S. 114). Als Bezeichnung für die Periode von etwa 1050 bis etwa 1750 wird im Schlusskapitel eine Umwidmung des Neuzeit-Begriffs vorgeschlagen, wiederum unterteilt in eine frühe (bis etwa 1500) und eine spätere Neuzeit. Darauf folgt ab dem Ende des 18. Jahrhunderts die Moderne.

Insgesamt ist dem Autor eine kluge und gut argumentierende Darstellung gelungen, die sich zudem sehr gut liest. Bei aller vorgetragenen Gelehrsamkeit wäre es mithin nicht notwendig gewesen, wiederholt apodiktische Urteile einzubauen, wie zum Beispiel „In der Tat hat die Rede vom islamischen Mittelalter keinen anderen Sinn, als die europäische Deutungshoheit zum Ausdruck zu bringen“ (S. 77). Darin mag vielleicht der eingangs erwähnte „Ärger“ zum Ausdruck kommen, in der Argumentationsstruktur lenken solche lautstarken Unmutsbekundungen aber eher ab. In der Debatte um den Mittelalterbegriff hat Thomas Bauer einen starken Markstein gesetzt. Dies ist wichtig, denn auch wenn eine Abschaffung dieses zutiefst verwurzelten Begriffs sicher nicht ohne Weiteres vonstattengehen kann, so ist das Hinterfragen solcher Allgemeinplätze und eine sehr kritische Diskussion um sie – was allerdings für die europäische Mediävistik bereits seit einiger Zeit der Fall ist – allemal wichtig und konstruktiv.