A. Hänni u.a. (Hrsg.): Über Grenzen hinweg

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Title
Über Grenzen hinweg. Transnationale politische Gewalt im 20. Jahrhundert


Editor(s)
Hänni, Adrian; Rickenbacher, Daniel; Schmutz, Thomas
Published
Frankfurt am Main 2020, 2., aktualisierte Aufl. 2022: Campus Verlag
Extent
371 S.
Price
€ 49,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Johannes Dafinger, Paris Lodron Universität Salzburg

Historische Forschung zu transnationaler politischer Gewalt kann, so Adrian Hänni in der Einleitung zu diesem Sammelband, entweder die „Transnationalisierung“ von Gewalt untersuchen oder den „Transnationalismus“ politischer (Identitäts-, Kommunikations-)Räume, die durch transnationale Gewalt entstehen.1 Den Unterschied erläutert Hänni wie folgt: Studien zur Transnationalisierung von Gewalt interessieren sich dafür, wie sich bewaffnete Gruppen über Staatsgrenzen hinweg, auch mit zivilgesellschaftlichen, staatlichen und diasporischen Akteur:innen, vernetzen (dies nennt Hänni „externe Transnationalisierung“) bzw. wie sich eine in sich geschlossene, „nationale Grenzen überschreitende Gewaltgemeinschaft, die sich in der Selbstwahrnehmung als eigenständiger Akteur versteht“ (S. 35), herausbildet („interne Transnationalisierung“). Der Fokus der Untersuchung liegt in diesem Fall also auf den Akteur:innen. Arbeiten zum Transnationalismus dagegen fokussieren auf den Raum und analysieren die „gewaltsame Konstruktion von politischen Räumen jenseits des Nationalstaats“ (S. 34), so Hänni. Terroristische Gewalt schafft etwa transnationale Medienereignisse und in der Folge transnationale Kommunikationsräume. Die Autor:innen der auf die Einleitung folgenden Fallstudien greifen diese zumindest begrifflich unscharfe Unterscheidung jedoch nicht mehr explizit auf – möglicherweise, weil sie sich in der Empirie nicht konsequent durchhalten lässt?

Bei den Fallstudien handelt es sich zum Teil um verschriftlichte Beiträge zu einem Workshop an der Universität Zürich sowie der ETH Zürich (in dessen Ankündigung von „paramilitärischen Netzwerken“ die Rede war2). Neben paramilitärischen werden vor allem terroristische Netzwerke untersucht: Die Mehrzahl der elf Kapitel beschäftigt sich mit linksterroristischen Gruppen in Deutschland und der Schweiz sowie mit deren Kontakten zu arabisch-palästinensischen und algerischen Gewaltakteur:innen. Darüber hinaus enthält der Band vier Beiträge zu nationalsozialistischer und extrem rechter Gewalt.

Hänni hebt in der Einleitung also zurecht hervor, dass die einzelnen Beiträge „von sehr unterschiedlichen Gewaltakteuren und Konflikten“ handeln (S. 54). Die Beiträge zeigen aber auch, dass es persönliche und ideologische Berührungspunkte der unterschiedlichen politischen Milieus gab. So gehen etwa Daniel Rickenbacher und Vojin Saša Vukadinović auf die finanzielle Unterstützung ein, die der Schweizer François Genoud – den beide Autoren auch für die Zeit nach 1945 als „Nationalsozialisten“ bezeichnen – der für die Unabhängigkeit Algeriens kämpfenden Nationalen Befreiungsfront, der Volksfront zur Befreiung Palästinas und der Organisation Internationaler Revolutionäre („Carlos-Gruppe“) zukommen ließ. Genoud stand mit führenden Vertreter:innen der genannten Gruppen in engem Kontakt. Antisemitismus hielt die so unterschiedlichen Akteur:innen als ideologischer Kitt zusammen.

Zeitgenössische Quellen überbetonen mitunter bewusst die Rolle ausländischer Akteur:innen in lokalen gewalttätigen Konflikten. Denn so kann die Verantwortung für Gewalttaten externalisiert und den „Ausländer:innen“ zugeschrieben werden. Dies zeigt Florian Grafl am Beispiel der Zeitungsberichterstattung über eine Serie anarchistischer Bombenanschläge um 1900 sowie über politisch motivierte Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg in Barcelona. Erst in den 1930er-Jahren operierten in dieser Stadt tatsächlich „transnationale Gewaltgemeinschaften“, die aber keine politischen, sondern kriminelle Ziele hatten. Auf die analytische Abgrenzung zwischen „politischer“, „krimineller“ und „gewerblicher Gewalt“ geht Hänni in der Einleitung ein (S. 8, Anm. 3). Dass in der Praxis freilich „die Grenzen zwischen kriminellen und terroristischen […] Aktivitäten fließend“ waren, geht am deutlichsten aus Michel Wyss Beitrag über die transnationalen Aktivitäten der Hisbollah hervor (S. 333).

Florian Wenninger führt am Beispiel der 1920 entstandenen Organisation Escherich – eines gesamtdeutschen Dachverbandes paramilitärischer Freikorps –, der sich auch mehrere österreichische Milizen unterstellten, eine weitere Differenzierung des Gewaltbegriffs ein: Von manifester Gewalt unterscheidet Wenninger latente Gewalt, die Summe der logistischen, strukturellen und personellen Vorarbeiten, die den Einsatz manifester Gewalt erst möglich oder auch, durch das Drohpotential der latenten Gewalt, überflüssig machten.

Aus den im Band untersuchten Fällen transnationaler Gewalt ziehen die Autor:innen allgemeine Schlüsse hinsichtlich der Funktionen von Gewalt, ihrer Voraussetzungen und Dynamiken sowie der Motivation der Gewaltakteur:innen.

Politische Gewalt war demnach ein Mittel, Aufmerksamkeit auf die eigene Gruppe zu lenken und aus der „Aufmerksamkeit“ Kapital zu schlagen, etwa Vorteile in der Rivalität mit Akteur:innen mit ähnlichen Zielen zu erlangen. So waren die diversen Attentate, Bombenanschläge und Überfälle, die zahlreiche Vereinigungen und Untervereinigungen der exilkroatischen Community in Deutschland verübten, eine „Ressource“ (S. 224), mit der die jeweilige Gruppe ihre eigene Marginalisierung abwenden bzw. ihr Standing innerhalb der zersplitterten Verbandsstruktur der Exil-Community verbessern wollte, wie Matthias Thaden in seinem Beitrag erläutert. Das eigentliche Ziel – den jugoslawischen Staat zu Fall zu bringen – rückte dabei ein Stück weit in den Hintergrund; die Diskreditierung Jugoslawiens gelang jedenfalls transnational organisierten, aber gewaltfreien Gruppen ab den 1970er-Jahren besser.

Die Aufmerksamkeit, die die Gewalt erzeugte, konnte auch dazu dienen, die öffentliche Meinung für die eigene Sache einzunehmen. So wollte etwa Wadi Haddad, der Gründer der Kommandoabteilung der Volksfront zur Befreiung Palästinas, durch „spektakuläre Einzeloperationen […] die Aufmerksamkeit der Welt auf die Palästinafrage lenken“ (S. 234) – mit Erfolg, wie Daniel Rickenbacher am Beispiel der Schweizer Öffentlichkeit zeigt. Fünf Jahre nach Beginn des palästinensischen Terrorismus in der Schweiz – darunter im Februar 1970 der blutigste Terroranschlag der Schweizer Geschichte mit 47 Toten – empfanden „mehr Schweizer Sympathie für die palästinensische Sache als je zuvor“ (S. 254). Dies war das „Verdienst“ eines Kampagnenbündnisses, das palästinensische Terrorist:innen mit staatlichen arabischen Akteuren einerseits sowie mit Gruppen der Neuen Linken und mit rechtsextremen Aktivist:innen in der Schweiz andererseits eingingen. Transnationalität war also neben der Gewalt selbst eine weitere Ressource, die zu größerer Sichtbarkeit verhalf.

Transnationale Verbindungen hatten für Gewaltakteur:innen einen weiteren großen Vorteil bzw. waren häufig sogar die Voraussetzung für die Gewaltaktionen: Sie verschafften Zugang zu Know-how, Waffen, Finanzen und Netzwerken. Schon kleine nichtstaatliche Unterstützerkreise im Ausland konnten die Handlungsspielräume beträchtlich erweitern, wie Lucas Federer an der Unterstützung der militanten algerischen Unabhängigkeitsbewegung durch Schweizer Trotzkist:innen deutlich macht. Max Gedig unterstreicht die transnationalen Lernerfahrungen, die erstens die späteren Tupamaros West-Berlin in Ausbildungslagern der Fatah und zweitens die Mitglieder der Bewegung 2. Juni bei Treffen mit Mitgliedern der italienischen Roten Brigaden machten. Robert Wolff betont mit Blick auf die Revolutionären Zellen in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls die Bedeutung der Kooperation mit nichtdeutschen Gruppierungen und insbesondere die Bedeutung von Orten im Ausland, an denen Mitglieder der Revolutionären Zellen untertauchen konnten. Die transnationalen Kontakte seien aus Sicht der Gewaltakteur:innen nicht nur taktisch und praktisch wichtig, sondern auch ein „Sicherheitsfaktor“ gewesen (S. 301).

In der Geschichte transnationaler politischer Gewalt spielten, so zeigt der Band, auch staatliche Akteure mitunter eine große Rolle. Nur kurzfristig erfolgreich war der Versuch des ungarischen Staates, sich in der Zwischenkriegszeit durch die Unterstützung der österreichischen Heimwehren Einfluss auf die österreichische Innenpolitik zu sichern, wie Ibolya Murber erläutert. Martin Gollnitz und Michel Wyss untersuchen dagegen Gewalt ausübende Gruppen, die direkt oder verdeckt von staatlichen Stellen ins Leben gerufen sowie finanziert wurden und somit als rechter Arm der jeweiligen Staaten angesehen werden können. Durch die zwischen 1943 und 1945 in Dänemark operierende „Petergruppe“ (benannt nach dem Decknamen ihres Anführers) ließ die nationalsozialistische Führung Widerstand gegen die deutsche Besatzungsherrschaft in Dänemark mit „Gegenterror“ – vielfach tödlichen Anschlägen – beantworten, um Widerstandsgruppen von weiteren Taten abzuhalten. Der Gruppe gehörten Deutsche, Österreicher, Dänen sowie ein Niederländer und ein Schweizer an. Iran rekrutierte Anfang der 1980er-Jahre Aktivisten der späteren Hisbollah, finanzierte die Gruppe, bot ihr einen Rückzugsort, leitete sie politisch an und unterstützte sie logistisch und operativ. Die Hisbollah konnte so zu einer zentralen Gewaltakteurin werden, die zahlreiche Bombenanschläge durchführte, Geiseln nahm, Flugzeuge entführte und iranische Dissident:innen ermordete. Keine andere Terrororganisation war in den 1980er-Jahren aktiver.

Die Fallbeispiele beleuchten viele Facetten transnationaler politischer Gewalt im 20. Jahrhundert. Ein völlig „neues historisches Forschungsfeld“, wie es im Untertitel der Einleitung heißt, ist dies nicht, aber viele der informativen und aufschlussreichen Beiträge zeigen, wie groß die Forschungslücken noch sind. Um sie zu schließen, braucht es aus den Quellen gearbeitete empirische Studien, wie sie dieser Band enthält. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Klammer „transnationale politische Gewalt“, die Studien zu verschiedenen Gewaltformen und zu Akteur:innen aus ganz unterschiedlichen politischen Milieus zusammenhalten soll, nicht zu breit und die Widmung des Buches „den Opfern politischer Gewalt“ nicht zu unspezifisch ist. Dennoch liefert der Band einen wichtigen und erhellenden Einblick in die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Anmerkungen:
1 Hänni verwendet die Begriffe „Transnationalisierung“ und „Transnationalismus“ laut eigener Aussage in Anlehnung an Hartmut Kaelble / Martin Kirsch / Alexander Schmidt-Gernig, Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, S. 7–33. Dort (S. 10) wird aber zwischen „Transnationalisierung“ und „Transnationalität“ unterschieden.
2 Transnationale Gewalt: Paramilitärische Netzwerke im 20. Jahrhundert. In: H-Soz-Kult, 27.11.2017, https://www.hsozkult.de/event/id/event-85616 (18.04.2024).

Editors Information
Published on
11.05.2024
Edited by
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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