M. Deuerlein: Das Zeitalter der Interdependenz

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Title
Das Zeitalter der Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren


Author(s)
Deuerlein, Martin
Series
Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
Published
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Extent
500 S., 10 Abb.
Price
€ 46,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Ariane Leendertz, Historische Kommission, München

Am 4. Juli 1976 feierten die USA den 200. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit von Großbritannien. Die New York Times begleitete den nationalen „Independence Day“ mit dem Wortspiel „Interdependence Day“. Die Begründung dafür klingt nach fast 50 Jahren in einer von Krisen und Krisendiskursen durchzogenen Post-Corona-Gesellschaft – Putin, Trump, China, Israel, Lieferketten, Energiepreise, Klima, Hisbollah, Huthi-Rebellen – erschreckend aktuell: „on this day of independence, an increasingly interdependent world – shrunk in size by modern transportation, communications and intercontinental missile weapons – is ever more conscious of the crucial role played by one democratic superpower in the security, stability and economic growth of both the industrial democracies and the developing world. Similarly, Americans, no longer dominant in that world despite our giant size, are ever more aware that interdependence with other industrial nations […] is more and more a two-way street.”1

Die New York Times griff damit einen zeitdiagnostischen Schlüsselbegriff auf, der in jenen Jahren geradezu ubiquitär durch den politischen Diskurs waberte. Ähnlich wie „Globalisierung“ um die Jahrtausendwende war „Interdependenz“ in den 1970er-Jahren sowohl eine wissenschaftlich-analytische Kategorie als auch ein populäres Modewort, das auf vielerlei Weise gefüllt werden konnte und in unterschiedlichen Kontexten als Allgemeinplatz mobilisierbar war. Martin Deuerlein schlüsselt die verschiedenen Bedeutungsschichten des Begriffs in seiner bereits 2020 erschienenen Dissertation auf. Im Mittelpunkt stehen dabei die Hochphase der Interdependenzdebatten in den verlängerten 1970er-Jahren und die USA, wo die Begriffskonjunktur ihren Ursprung hatte. Zentrale Impulse kamen hier ab Ende der 1960er-Jahren zunächst von Ökonomen, die sich mit den grenzüberschreitenden Aktivitäten großer multinationaler US-Unternehmen befassten und seit 1945 eine kontinuierliche Intensivierung des Handels zwischen den USA, Westeuropa und Japan beobachteten.

Zugleich befasste sich auch die Politikwissenschaft – in Abgrenzung zum klassischen Fokus auf diplomatischen und militärischen Interaktionen zwischen Staaten und Mächten – mit neuen Playern, die als „transnationale“ Akteure klassifiziert wurden. Hierzu zählten neben Unternehmen, Gewerkschaften und anderen großen Organisationen wie Stiftungen und der katholischen Kirche auch Migrant:innen, Arbeitskräfte und Tourist:innen sowie schließlich der Austausch von Waren, Gütern und Ideen. Sie alle trugen dazu bei, dass sich die grenzüberschreitenden Interaktionen zwischen den Ländern des Westens, die hier noch im Fokus standen, intensivierten. Die Weiterentwicklung von Transport- und Kommunikationstechnologien bildete hierfür eine tragende Voraussetzung.

Im Zentrum der Interdependenzdebatte standen zunächst ökonomische Verflechtungen, die zum einen das Wachstum ankurbelten, zum anderen jedoch vielerorts auch Abhängigkeiten erzeugten und die Sensibilität gegenüber Entwicklungen in anderen Ländern erhöhten. Wie die New York Times 1976 feststellte, waren auch die USA wirtschaftlich nun derart mit anderen Ländern verbunden, dass selbst sie als größte Volkswirtschaft durchaus verwundbar waren. Ein wichtiges Ereignis für die Herausbildung dieser Einschätzung stellte die erste Ölpreiskrise des Jahres 1973 dar. Die Entscheidung der arabischen OPEC-Staaten, aus Protest gegen die westliche Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg die Fördermenge zu reduzieren, führte in den USA zu einer sprunghaften Steigerung der Energiepreise und trug dort 1974/75 zur schwersten Rezession seit den 1930er-Jahren bei. Ökonomische Interdependenz, das unterstrichen etwa die Politikwissenschaftler Joseph Nye und Robert Keohane seit 1973 mehrfach, konnte auch als politisches Druckmittel eingesetzt werden.

Wie Deuerlein zeigt, wurde das Problem der Interdependenz nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik diskutiert. Eine zentrale Frage der politischen Akteure war, wie man angesichts der Interdependenzen die Stabilität im internationalen System und die Führungsrolle der USA erhalten konnte. Die Außenpolitik der Regierungen von Richard Nixon und Gerald Ford, deren zentrale Figur der Nationale Sicherheitsberater und US-Außenminister Henry Kissinger war, zielte darauf ab, ein „multipolares“ System aus fünf Großmächten – USA, Sowjetunion, Japan, Westeuropa, China – zu etablieren. So sollten die privilegierten Großmächte beispielsweise gemeinsam Ansprüche des globalen Südens und nicht-staatlicher Organisationen abwehren. Gegenüber diesem Ansatz setzte die folgende Regierung von Jimmy Carter auf einen inklusiveren Multilateralismus und institutionelle Reformen in internationalen Organisationen, um die zunehmenden Interdependenzen besser zu managen. Hierzu zählten neben der Gestaltung der internationalen Wirtschaftsordnung und Regelung des transnationalen Handels auch die Eindämmung kriegerischer und gewalttätiger Konflikte, der Kampf gegen grenzüberschreitende Umweltverschmutzung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen oder die Nicht-Verbreitung von Atomwaffen. Gleichwohl sollten auch hier die USA als unverzichtbarer Koordinator im Zentrum der Organisationen und Netzwerke stehen, welche die internationale Ordnung prägten.

Als die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion Anfang der 1980er-Jahre wieder zunahmen, verloren Interdependenzdiagnosen und die damit verbundenen außenpolitischen Konzepte an Bedeutung. Während sich in der Außenpolitik neokonservative Positionen durchsetzten, die eine Politik der militärischen Stärke propagierten, verschob sich das politikwissenschaftliche Interesse auf die systemischen Bedingungen von Hegemonie und die Gestaltung internationaler Regime. Zum neuen Leitbegriff stieg bereits vor dem Ende des Kalten Kriegs der Begriff der Globalisierung auf.

Martin Deuerlein rückt in seiner Arbeit vollkommen zu Recht die USA und die internationale Politik ins Sichtfeld der Zeitgeschichte „nach dem Boom“. Seine Arbeit unterstreicht, dass die „Strukturbrüche“ des späten 20. Jahrhunderts auch den Bereich der internationalen Politik erfassten. In der Interdependenzdiskussion der 1970er-Jahre gelangten zahlreiche Problemkonstellationen in den Mittelpunkt wissenschaftlichen und politischen Interesses, die uns bis heute beschäftigen, sei es etwa die geopolitische Bedeutung des Nahen Ostens für die USA oder – Stichwort Lieferketten – die Empfindlichkeit einer international vernetzten Wirtschaft gegenüber störenden Ereignissen an entfernten Orten. Und schließlich ruft uns das Buch in Erinnerung, welche entscheidende Rolle die USA bis in die Gegenwart als globale Ordnungsmacht spielen.

Anmerkung:
1 Interdependence Day, in: New York Times, 04.07.1976, S. E10, https://www.nytimes.com/1976/07/04/archives/interdependence-day.html (18.01.2024).

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02.02.2024
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