Normative Fragen liegen Althistorikern oft nicht fern. Früher erörterten sie solche Fragen gerne klassizistisch: als Frage nach der Vorbildlichkeit oder „Gegenwärtigkeit“ (Werner Jaeger) der Antike. Heute gehen sie oft andere Wege. So hat der Münchner Althistoriker Christian Meier seine Studien zur klassisch-griechischen politischen Kultur selbstverständlich auch für die deutsche Zeitgeschichte fruchtbar gemacht und gar eine eigene Darstellung der repräsentativen Demokratie gegeben. So wandte auch der Berliner Althistoriker Alexander Demandt, mehr von Rom ausgehend, sich in den letzten Jahren verstärkt normativen Fragen zu und zog universalgeschichtliche Konsequenzen.
Dabei schaute er zunächst auf die schwarzen Seiten der Geschichte: auf den „Fall Roms“ im Urteil der Nachwelt, die Geschichte der Spätantike und den Untergang der Reiche, auf unsere „Endzeit“ und den „Vandalismus“ in der Geschichte.1 Der schwarze Blick auf die Geschichte als „Schlachtbank des Glücks“ (Hegel) wundert heute kaum noch jemanden. Angesichts der Gewalt gegen Kultur versteht sich das Moralische fast von selbst. „Die schärfste Kritik am Vandalismus ist die kommentarlose Beschreibung des Tatbestandes“, meint Demandt 2 deshalb auch und schreibt einen neuen „Rapport sur les destructions opérées par le vandalisme“. „Wer vom Vandalismus spricht, ist überzeugt, dass die damit gekennzeichneten Handlungen sich selbst verdammen.“3 Skeptischer dagegen betrachten wir heute die optimistische Feier der „Vernunft in der Geschichte“ (Hegel). Demandt machte aber in den letzten Jahren verstärkt auch diese Gegenrechnung auf. Von den großen Rechtsprozessen und den historischen Urteilen über Pontius Pilatus ausgehend 4 näherte er sich der Weltgeschichte als Weltgericht dabei besonders über die Darstellung einiger „Sternstunden der Geschichte“.5
Einen „universalhistorischen Sextanten“6 legte er schon früher an. Seine populäre Skizze einiger „Sternstunden“ beschreibt nun „in weltbürgerlicher Absicht“ einen Zivilisationsprozess der politischen Organisation und Verrechtlichung der ganzen „Menschheit“. Demandt beginnt mit Alexanders Vision einer Völkerverschmelzung und deren späterer Realisation durch die römischen „Testamentsvollstrecker“7: durch den Augustusfrieden der Pax Romana, die die politische Hintergrundvoraussetzung für die christliche Universalisierung des Monotheismus war, gegen den die konkurrierende Lösung des Islam auftrat. Weltgeschichtlich dominant wurde die christliche Lösung seit der Formierung Europas durch Karl dem Großen, den europäischen Entdeckungen und dem langen Weg der Menschenrechtserklärungen und Demokratisierung. Beide großen Errungenschaften, die naturrechtliche Begründung der Demokratie und die – teils sehr brutale – Erschließung der Welt, diese „Weltgeschichte Europas“ (Hans Freyer), behandelt Demandt in mehreren Kapiteln. Damit gibt er Hegel gegen Spengler recht.8 Geschichtsphilosophisch betrachtet zeige die Weltgeschichte kein Nebeneinander, sondern einen Prozess der Universalisierung und politischen Organisation einer Einheit der „Menschheit“ in einem „Weltstaat“9. Demandt bejaht diesen Prozess. Er streicht seine Fortschrittslinie zwar nicht grell heraus, weil er um die „Unstern-Stunden“ und den Untergang der Reiche nur zu gut weiß. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass er den christlichen Monotheismus und westlichen Verfassungsstaat grundsätzlich bejaht und die Europäisierung der Welt als Fortschritt betrachtet.
Damit ist die „Kleine Weltgeschichte“ von immerhin über 350 Seiten, die Demandt nun vorlegt, gut vorbereitet. Man könnte eine abgeklärte Summe erwarten. Diese Zielsetzung konfligiert allerdings mit dem Autorenstolz und Verlagsinteresse, große Verbreitung zu finden. Demandt knüpft keinen Zusammenhang zwischen seinen früheren Schriften und seiner kleinen Weltgeschichte. Er sagt auch nicht viel über seine Methode und Zielsetzung, sondern verweist nur kurz auf die „Grundidee Kants“: „Meine Absicht war es, ein Bild der Weltgeschichte zu skizzieren, wie es sich einem Mitteleuropäer heute darstellt – ein Bild, das, wie jedes andere, perspektivisch gebunden ist, an vielen Stellen ergänzt und berichtig zu werden lohnt und eben dadurch, so hoffe ich, zum Weiterdenken anregt.“ (S. 10) Die Stofffülle und Platznot droht die Linienführung und Gesamtsicht aber einigermaßen zu ersticken. Demandt legt kein Schlusswerk seines Gelehrtenlebens vor, sondern einen „Überblick“ für ein breiteres Publikum. „Mich verlangt auch nach den Dummen“, schrieb Thomas Mann einst in seinem ersten Brief vom 1. April 1910 an Hermann Hesse über seine „doppelte Optik“ und Zielsetzung, schlicht zu unterhalten und intellektuell zu fordern. Demandt ist ein vorzüglicher Autor. Das Kunststück aber, einen eingängig lesbaren Überblick zu bieten, der auch den Applaus des Kollegen findet, ist nicht ohne Einschränkungen gelungen.
Eine dritte Lesehaltung stellt sich ein: nicht der elementare Nachvollzug kräftiger Striche oder der Kennerblick auf raffinierte Hintergrundbeleuchtungen, sondern die Gedächtnislockerung und der Erinnerungsflash des Ach-ja-und-schon-einmal-gewußt eines einigermaßen „gebildeten“ Lesers, der neuen Appetit bekommt, es anderswo noch einmal eingehender nachzulesen. Dieses Erinnerungsbad belebt der Band auch durch die reiche Beigabe von 119 zumeist farbigen Abbildungen. Neben seit Schulzeiten bekannten Abbildungen wie der Alexanderschlacht oder dem Tod des Sokrates sowie einigem Kartenmaterial findet sich dabei auch Unbekannteres: so eine schöne Daguerreotypie der Gebrüder Grimm. Die Abbildungen konkurrieren mit dem Text um die Aufmerksamkeit. Der Text liest sich bisweilen wie eine laufende Bildunterschrift oder auch ein Datenatlas. Bei der äußerst gedrängten Formulierung sind problematische Vereinfachungen und Stilblüten kaum zu vermeiden. „Die christliche Menschheitsidee hat Alexander vorweggenommen.“ (S. 63) War er Christ? „Dauerproblem der arabischen Welt ist Israel.“ (S. 311) Kann das so stehen bleiben? Deutlich ist Demandts Bemühen, die Weltgeschichte nicht eurozentrisch zu verengen, sondern auch die außereuropäischen Entwicklungen angemessen zu berücksichtigen. Die diversen Parallelentwicklungen sprengen dabei gelegentlich die vertraute, reichstheologisch geknüpfte Teleologie und machen die Linien unübersichtlich: so im Einschub der „Völker Europas“ (S. 97ff.) zwischen das Imperium Romanum und Kaiser und Papst im Mittelalter. Jeder Leser wird die quantitativen Gewichte etwas anders verteilen und eigene Schwerpunkte setzen. Das alte Ägypten beispielsweise kommt mir zu knapp weg. Problematischer noch ist aber das ständige Pendeln zwischen herrscherzentrierter politischer Ereignisgeschichte und Basisverweisen auf die Kulturgeschichte: auf die griechische Philosophie etwa, arabische Wissenschaft oder Buddhismus und Taoismus. Demandt richtet sich an ein doppeltes Publikum, weil er auf einen möglichen Einklang im Urteil der Gelehrten und der interessierten Bürgern in moralischen und politischen Fragen vertraut. Muss sich eine Weltgeschichte aber nicht entscheiden und eine klare Verhältnisbestimmung zwischen der politischen Geschichte und der Kulturgeschichte vornehmen? Als Auswahlprinzip ist zu erahnen, dass ein durchschnittlicher Leser angenommen wird, dessen jeweiliger Wissensstand gehoben wird. Wo er einiges weiß, in der europäischen Geschichte, konzentriert sich Demandt auf einen zweiten Blick in die politische Ereignisgeschichte, während er beim Nahen und Fernen Osten seinen Schwerpunkt mehr auf die Religions- und Kulturgeschichte legt, um den Leser basal zu instruieren. Das ist aber ziemlich unsystematisch und nicht ganz überzeugend.
Über Details lässt sich trefflich streiten. Doch nicht die Detailfragen, sondern die Gesamtanlage dieser Weltgeschichte steht letztlich in Frage. Mit dem ersten Absatz seines Vorwortes deutet Demandt eigene Zweifel an. Er spricht von einer Anregung des Verlags, die im „Kastaniengarten des Dahlemer Dorfkruges“ ausgesprochen wurde. Damals habe er „den Kopf noch voller Bäume“ gehabt. War es eine Bierlaune oder Schnapsidee, dieser Anregung zu folgen? Jedenfalls sieht der Leser den Wald vor lauter Bäumen nicht klar. Lassen sich geschichtsphilosophische Deutungslinien in den „Sternstunden der Menschheit“ noch ziemlich deutlich ausmachen, so ist der Versuch kaum gelungen, die Momentaufnahmen in eine anspruchsvolle Menschheitsgeschichte umzugießen. Die breitere Ausführung verliert an Kontur. Umso wichtiger ist der Blick auf frühere Schriften. Er zeigt, dass Demandt durchaus über eine profilierte Geschichtsphilosophie verfügt. Hegel und Spengler sind für ihn letztlich keine Gegensätze. Der Fortschritt treibt einer Endzeit entgegen, in der wir heute stehen, meinte Demandt schon in seinem „Essay „Endzeit“, den er auch den „Entwurf für mein historisches Testament“10 nannte. Die „ungeschehene Geschichte“, der Demandt ebenfalls glänzende Essays widmete 11, kommt ans Ende ihrer Möglichkeiten. „Zeit und Unzeit“, so ein weiterer Titel 12, drohen zu koinzidieren. So wird die Geschichte selbst Geschichte. 13 Demandt beginnt seine „Kleine Weltgeschichte“ mit einem naturgeschichtlichen Vorspann und endet mit einem skeptischen Ausblick auf einige Aufgaben und Probleme der Zukunft. Hier deutet sich am ehesten der Bogen an, der von den früheren Schriften zur „Kleinen Weltgeschichte“ führt. Vielleicht war im Rahmen der Verlagsvorgaben nicht mehr drin. Und das Angebot einer illustrierten, auflagestarken Weltgeschichte ist so verführerisch, dass nur wenige widerstanden hätten. Die Weltgeschichte liegt auch auf dem Weg oder der Ziellinie von Demandts Werk. Diese „Kleine Weltgeschichte“ aber ist nicht ganz auf dem Niveau des Autors. Möge eine große Weltgeschichte folgen!
Anmerkungen:
1 Dazu vgl. Demandt, Alexander, Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachtwelt, München 1984; Ders., Geschichte der Spätantike, München 1998; Ders., Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, Berlin 1993; Ders. (Hg.), Das Ende der Weltreiche. Von den Persern bis zur Sowjetunion, München 1997.
2 Ders., Vandalismus. Gewalt gegen Kultur, Berlin 1997, S. 262.
3 Ebd., S. 33.
4 Ders. (Hg.), Macht und Recht. Große Prozesse in der Geschichte, München 1989; Ders., Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte, Köln 1999.
5 Ders., Sternstunde der Menschheit, München 2000, München 2003.
6 Ders., Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, Berlin 1993, S. 10.
7 Ebd., S. 103.
8 Ders., Sternstunden der Weltgeschichte, München 2003, S. 220.
9 Dazu vgl. Ders., Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, Berlin 1993, S. 84f., 101ff.
10 Ebd., S. 9.
11 Ders., Ungeschehene Geschichte, 3. Aufl. Göttingen 2003.
12 Ders., Zeit und Unzeit. Geschichtsphilosophische Essays, Köln 2002.
13 Dazu vgl. Ders., Geschichte der Geschichte. Wissenschaftshistorische Essays, Köln 1997.