E. Satjukow: Die andere Seite der Intervention

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Title
Die andere Seite der Intervention. Eine serbische Erfahrungsgeschichte der NATO-Bombardierung 1999


Author(s)
Satjukow, Elisa
Series
Histoire
Extent
306 S.
Price
€ 35,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Nenad Stefanov, Border Crossings - Crossing Borders. Berliner Zentrum für transnationale Grenzforschung, Humboldt Universität Berlin

Der Kontrast zwischen den sehr scharfen politischen Auseinandersetzungen um die deutsche Beteiligung an der NATO-Militärintervention gegen Serbien 1999 – gerade innerhalb der linksliberalen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik – und einem wirklichen Interesse an den Verhältnissen vor Ort war enorm. Das war und ist an sich nichts Besonderes. Solche Selbstzentriertheit in Debatten um militärische Interventionen hat es davor und danach gegeben. Seltsam mutete die Indifferenz gegenüber den Verhältnissen in der damaligen „Bundesrepublik Jugoslawien“ und der serbischen Provinz Kosovo deshalb an, weil die Kriege um ethnisch homogene Territorien nach dem Zerfall Jugoslawiens schon nahezu ein Jahrzehnt lang in der Bundesrepublik zumindest medial präsent waren.

Die Arbeit von Elisa Satjukow bietet die Chance für eine Auseinandersetzung jenseits eines indifferenten Verhältnisses zu den Menschen in und aus dieser Region, insbesondere vor dem Hintergrund der NATO-Intervention in Serbien. Sie beleuchtet die im Medialen nicht vermittelte Seite des gesellschaftlichen Alltags in Serbien, vor allem für die Hauptstadt Belgrad. Wie die Autorin feststellt, mangelt es durchaus nicht an politikwissenschaftlichen und völkerrechtlichen Studien zu dieser Intervention, im Gegenteil. Abhandlungen über das Für und Wider der Intervention füllen ganze Bibliotheken. Der „spezifische Erfahrungsraum“ jedoch, die Formen von Wahrnehmen, Handeln und (Nicht-)Reflektieren unter diesen Bedingungen – die Auswirkungen auf die serbische Gesellschaft blieben dagegen ausgeblendet. (S. 16) Die Autorin weist gleich zu Beginn darauf hin, dass oftmals zwischen dem Krieg im Kosovo und der Bombardierung unterschieden wird und die Erinnerung daran auseinanderfällt. Für Satjukow ist die Analyse der Erfahrungen der Bombardierung auch eine Voraussetzung dafür, die gegenwärtigen politischen Konflikte um eine Unabhängigkeit des Kosovo und die EU-Integration besser zu verstehen. (S. 17)

Dieser Erfahrungsraum wird in fünf Schritten ausgemessen. Nach Begriffsklärungen stellt die Autorin im zweiten Kapitel die Erfahrung der NATO-Intervention in den Kontext eines Jahrzehnts, das nahezu vollständig von Kriegen um ethnisch homogene Territorien geprägt war und in denen das sozialistische Jugoslawien zerfiel. Die Gewalt der Kriege in Kroatien, vor allem in Bosnien, war auf vielfältige Weise im gesellschaftlichen Alltag Serbiens präsent. Zunächst veränderte sich der Alltag vor allem durch die im Mai 1992 eingeführten Sanktionen der internationalen Gemeinschaft. Sie führten zu einer dramatischen Inflation, der Stilllegung von Betrieben, deren Mitarbeiter sich dadurch im Dauerurlaub befanden, und zu einem verbreiteten Gefühl der Zukunftslosigkeit. Die grün und orange leuchtende Benzin- bzw. Diesel-Plastikflasche am Straßenrand war in vielen Reportagen eine beliebte Metapher für diese Situation. Für viele war das eine verkehrte Welt – weshalb die zivilgesellschaftlich orientierte politische Opposition auch den Slogan ausgab „Wir wollen wie die übrige Welt normal leben – Da živimo kao sav normalan svet“. Elisa Satjukow arbeitet konzise die Beziehung zwischen dieser aus den Fugen geratenen Welt und einem sinnstiftenden wie herrschaftsstabilisierenden populistischen Ethnonationalismus heraus und richtet ihren Blick besonders auf die Zeitlichkeit – die „permanente Ausnahme oder außerordentliche Ausnahme“ (S. 67-70).

Das dritte Kapitel entwickelt aus den Überlegungen zu Normalität und Alltag der 1990er Jahre eine dichte Beschreibung der Erfahrung der Monate vor, während und nach der Bombardierung – basierend auf biographischen Gesprächen zumeist mit Belgrader*innen.

Im nächsten Schritt fokussiert Satjukow gesellschaftliche und politische Akteur*innen, deren Slogan von der Sehnsucht nach Normalität bereits erwähnt wurde. Diese war unter der Bezeichnung „Das andere Serbien – Druga Srbija“ bekannt geworden. „Druga Srbija“ implizierte in erster Linie anders zu denken, sich vom dominierenden Ethnonationalismus zu unterscheiden. In diesem „anderen Serbien“ fanden Zivilgesellschaft und Antikriegsbewegung zusammen, die ihre Kritik am Regime nicht wie die dominanten Oppositionsparteien auf ethnonationalistischen Kategorien basierten. Der Kosovo-Krieg bildete für diese Strömung, die politisch im Bürgerbund Serbiens (Građanski Savez Srbije) repräsentiert war, eine enorme moralische Herausforderung. Die Debatten um das politische Handeln und die Lage der Menschen im Kosovo steht im Mittelpunkt dieses vierten Kapitels.

Das fünfte Kapitel analysiert die „Bombardierung als Happening“. Popmusik-Konzerte unter „freiem“ Himmel, Menschenketten auf Brücken und das in dieser Zeit global zirkulierende „Target-Symbol“, das Menschen sich anhefteten, sind zentrale Beispiele für die Versuche des Regimes, auch über Serbien hinaus den eigenen Deutungsrahmen durchzusetzen. Satjukow vermittelt anschaulich das Spannungsverhältnis zwischen spontanen, ungesteuerten Initiativen mit guter Musik durch diese Zeit zu kommen, und den Versuchen des Regimes, diese Formen zu besetzen und zu steuern – wofür vor allem die Menschenketten auf den Brücken standen, die diese einerseits schützen sollten, andererseits der Welt zeigen sollten, dass serbische Zivilist*innen der militärischen Gewalt der NATO ausgeliefert sind.

Abschließend bietet das sechste Kapitel eine Analyse des Umgangs mit dieser Erfahrung in den Jahrzehnten danach. Hier zeigt sich besonders deutlich, wie wichtig Situativität für Erinnerungspraktiken und -politiken ist. In der westlichen Öffentlichkeit wird oftmals die Vorstellung von einem „Kosovo-Mythos“ – die Erinnerung an die Niederlage gegen das osmanische Heer auf dem Amselfeld 1389 – gepflegt, der vorgeblich seit Jahrhunderten das Denken und Handeln der Menschen in Serbien in einer seitdem unveränderten Form und Wirkung präge. Dieser sei ein gleichsam unwandelbarer fester Kern eines „Serbisch-Seins“ und so seien auch die jüngsten Ereignisse unauflöslicher Bestandteil dieses "Serbisch-Seins". Satjukow zeigt jedoch sehr anschaulich, dass es auch in den letzten beiden Jahrzehnten vielfältigste „Improvisationen“ gerade im offiziellen Kontext gab, wie der jüngsten Vergangenheit zu gedenken sei. Diese „improvisierten Narrative“ seitens staatlicher Akteure standen in einer engen Wechselbeziehung zu den Haltungen gegenüber einem Beitritt zur EU. Nüchtern und zurückhaltend in Phasen einer Intensivierung des Beitrittsprozesses, verhielt es sich in Phasen der Stagnation dieses Prozesses umgekehrt. Dann rückte das Bombardement Serbiens durch die NATO in den Mittelpunkt.

Mit den Mailinglisten in den 1990er Jahren (hier stehen die internationalen Listen Nettime und Syndicate im Mittelpunkt) tauchte auch ein neuer Kommunikationsraum auf, in dem Individuen ihre Sichtweisen über staatlichen Grenzen hinweg auf das Geschehen artikulierten. Im Unterschied zur heutigen Lage waren das nicht primär Resonanzräume, in denen es darum ging, sich seiner Gesinnung in vielfältigen Echos zu versichern. Diejenigen, die aus Serbien in diesen Foren schrieben und das Bedürfnis hatten, ihre Ängste und traumatischen Erfahrungen zu teilen, wurden oftmals auch mit der Frage konfrontiert, warum sie die Gewalt gegenüber der albanischen Bevölkerung in ihren Beschreibungen nicht erwähnten, warum sie nicht über die Beziehung zwischen beiden Erfahrungen schrieben. Die Debatten waren intensiv, leidenschaftlich, manchmal affektbehaftet, und vor allem ausführlich. Hier wird die Problematik, derer sich Elisa Satjukow angenommen hat, auf eindrückliche Weise sichtbar. Faszinierend ist, wie in diesen neuen Quellen trotz aller Stilisierung und Schematisierung Persönlichkeiten und Subjektivitäten aufscheinen, Dimensionen also, die bislang vor allem anhand von Tagebüchern und Korrespondenzen erschlossen wurden. Zugleich zeigt sich der Widerspruch zwischen dem Bedürfnis, Gewalterfahrungen zu vermitteln und diese anerkannt zu bekommen, sowie der Forderung nach einer Überwindung einer partikular bleibenden Selbstwahrnehmung. Hier werden auch die Grenzen einer partikularen Vorstellung von Erfahrung deutlich, wie sie manche Diskutant*innen prägte, die allein in der Authentizität ihrer Erfahrung ein starkes Argument sahen. Daran wird zugleich klar, dass „Authentizität“ beziehungslos bleibt, wenn sie den Zusammenhang zwischen „NATO planes in the Sky“ und „Milošević on the ground“ (so der Titel der Schlussbetrachtung) nicht mitreflektiert. In vielen Gesprächen, die Elisa Satjukow geführt hat, zeigt sich umgekehrt ein Bewusstsein für die Differenz zwischen einem Verständnis des Erlebten, das als „authentisch“ scheinbar nicht in Frage zu stellen ist, und der Sicht auf Erlebtes als "Erfahrung", die die Voraussetzung für ein Verstehen dessen ist, was einem selbst und den anderen widerfahren ist.

Das Spannungsfeld zwischen individueller Erfahrung und deren konformistischer Einhegung wird in diesem Buch in seinen vielfältigen Brechungen vermittelt. Deutlich werden die Konturen der Reflexion des Erlebten, den staatlichen Strategien der nachträglichen Sinnproduktion und die Reibungen zwischen beiden, die sich nicht in eins bringen lassen. Für diese und viele weitere Einsichten ist diesem Buch eine breite Leserschaft auch außerhalb des Faches zu wünschen.

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07.01.2022
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